Читать книгу Mut. Machen. Liebe - Hansjörg Nessensohn - Страница 7
2.
ОглавлениеNach dem Abendessen schleppe ich mich zurück in mein Zimmer. Es ist noch nicht mal halb zehn, aber ich bin so müde, als hätte ich zwei Nächte durchgefeiert. Schon als meine riesige Pizza serviert wurde, musste ich mich zusammenreißen, um nicht am Tisch einzuschlafen. Was vermutlich nur mir selbst, nicht aber meinem französischen Sitznachbarn aufgefallen wäre, der mir in merkwürdigem Englisch und mit weit aufgerissenen Augen von seinem Pariser Mitbewohner erzählt hat, der auch Paul heißt und angeblich schlagkräftige Beweise dafür gefunden hat, dass die Erde eine Scheibe ist. Er selbst ist jetzt unterwegs, das zu überprüfen. Erst habe ich nur gelacht, dann gestaunt und mich schließlich einfach weggesetzt, weil er mir die Beweisführung an meiner Pizza vorführen wollte.
Mir reicht der Beweis, schon der zweite heute, dass die Foreneinträge mit den verrückten, quatschenden Menschen wirklich der Wahrheit entsprechen. Und ich kann nur hoffen, dass dieser Irrsinn nicht irgendwann auf mich überspringt. Vielleicht ist das durch die Gegend Laufen ja wirklich so ungesund, wie es sich gerade in meinen Beinen anfühlt.
Die Zahnbürste im Mund und mein Kontaktlinsenmittel in der Hand nicke ich auf dem Flur ein paar spätankommenden Wanderern zu und bin mittlerweile ziemlich froh, dass alle Plätze in den Schlafsälen reserviert waren, als ich hier ankam. Auch wenn Liz zur Kategorie Foreneintrag gehört, wird die Nacht allein mit ihr sicher ruhiger werden. Wobei ich beim Zähneputzen auch kurz darüber nachgedacht habe, wie es sein wird, mit einer so alten Frau allein in einem Zimmer zu schlafen und was ich machen würde, sollte sie, weil man ja ab einem gewissen Alter nie weiß, die Nacht nicht überleben. Eine Antwort bin ich mir schuldig geblieben und hoffe nun einfach mal auf die geringe Wahrscheinlichkeit, dass der Tod bei einer amerikanischen Kölnerin nach 80 Jahren in Italien zuschlägt.
Ich öffne leise die Tür unseres Zweibettzimmers und blicke auf den von zwei Leuchtstoffröhren erhellten neongrünen Fleecepulli-Rücken meiner Mitbewohnerin. Liz sitzt an dem kleinen Tischchen am Fenster und schreibt ihr Notizbuch voll. Auf ihrem Bett liegt ein Stapel Postkarten – bereit zum Abschicken. Ihr Mitteilungsdrang scheint sich wirklich nicht nur aufs Quatschen zu beschränken.
Ich räume meinen Rucksack zur Seite, blase das mitgebrachte Kopfkissen auf und frage mich, wem sie die ganzen Karten wohl schickt. Ihrer Familie? Einen Enkel hat sie vorhin erwähnt. Freunden? Hat man mit 80 überhaupt noch Freunde? Wenn es so weitergeht wie bei mir, dann eher nicht, denn seit dem Abi wird mein Freundeskreis immer kleiner. Viele Leute, die früher extrem wichtig waren, existieren nur noch als vermutlich ungültige Handynummern in meinem Leben. Klar, es gibt auch einige Menschen, die neu dazukommen. Meistens Dates, die aber nie über den Status Bekannte hinausgehen. Kaum vorstellbar, wie klein der Kreis erst mal wird, wenn im Alter auch noch der Faktor Tod bei dieser Minimierung mitspielt.
Ich krame meine Schlafshorts raus und muss bei dem bescheuerten Gedanken schmunzeln, einem dieser Date-Bekannten statt einer Chat-Nachricht eine Postkarte zu schicken. ›Hey Kev, Wetter ist schön, Essen gut, die Erde eine Scheibe. Viele Grüße aus Italien, Paul.‹ Der würde mich für völlig verrückt erklären und sich garantiert nie wieder bei mir melden. Was jetzt irgendwie auch kein großer Verlust wäre.
»Willst du schlafen?« Liz dreht sich zu mir um und gleich wieder weg, als sie sieht, dass ich nackt bin. »Oh, sorry.«
Ich ziehe schnell meine Shorts hoch.
»Jetzt.«
»Wollte dir nichts wegschauen.«
»Ja, ja, das sagen alle.«
»Wirklich. Ich habe da ja auch schon ganz andere Sachen gesehen.«
»Äh, ist gut jetzt.« So weit kommt’s noch, dass Liz ihre jahrzehntelange Erfahrung mit nackten Männern vor mir ausbreitet. »Ich penn dann mal.«
»Und ich bin gleich fertig, dann mache ich das Licht aus.«
»Kein Thema. Bin so fertig, würd heute auch unter einem Scheinwerfer einschlafen.«
Liz wendet sich wieder ihrer Schreibarbeit zu, und ich lege mich ins Bett. Besser gesagt auf ein als Bett getarntes Brett, aber egal. Hauptsache, ich kann liegen und schlafen und darauf hoffen, dass ich mich morgen körperlich wieder wie 19½ fühle.
Verschwommen, weil ich ohne Brille und Kontaktlinsen höchstens 50 cm scharf sehen kann, beobachte ich Liz noch ein bisschen, die mit ihrem grauen, fast weißen Pferdeschwanz, der vorhin hochgebunden war und jetzt locker über ihrem Rücken baumelt, doch ein bisschen wie eine Bilderbuchoma aussieht. Mal abgesehen von dem neongrünen Pulli, der eher an eine Bilderbuchhexe erinnert.
»Und wie ist dieser Paul aus Frankfurt so?«
Als ich meinen Namen höre, reiße ich meine gerade zugefallenen Augen wieder auf. Mein Herz rast, wie es das immer tut, wenn ich überraschend und unsanft aus dem Halbschlaf geweckt werde.
»Was?«
»Na, ich muss doch ein bisschen was über meinen Bettnachbarn wissen, sonst kann ich ja gar nichts über ihn schreiben.«
»Nicht nötig. Dafür bin ich viel zu uninteressant.«
Ich lasse meinen Kopf wieder fallen und schaue der schemenhaften Liz zu, wie sie sich schwungvoll und scheinbar kein bisschen müde in ihr Bett legt. Für eine 80-Jährige ist das echt nicht normal.
»Und was macht dich da so sicher?«
Ich presse ein lautes Gähnen raus, um nicht antworten zu müssen, doch mein müdes Ablenkungsmanöver erzielt keine Wirkung. Liz scheint nicht im Traum daran zu denken, ihre Frage zurückzuziehen.
Ihre Frage?
Es ist ja auch meine Frage, die mir vorhin nach Jonas’ Nachricht durch den Kopf geschossen war. Scheiß Zufälle.
»Äh, kein Plan. Vielleicht weil ich noch viel zu jung bin und nichts erlebt oder erreicht hab im Leben.«
»Sagt wer?«
»Na, ich.«
»Was willst du denn erreichen? Oder anders gefragt: Muss man immer was erreichen im Leben?«
»Keine Ahnung.« Ich wünsche mich in einen der Schlafsäle, wo garantiert nur geschnarcht und nicht geredet wird. »Glaube schon. Ist doch alles darauf ausgerichtet. Auf Erfolg und ein perfektes Leben und so. Und wenn man nicht mitmacht, dann …«
»Dann gehört man nicht dazu?«
»Ja.«
»Willst du mitmachen und dazugehören?«
»Nein. Ja. Irgendwie schon.« Jetzt wäre der richtige Moment, den Mund zu halten. Aber das Echo meiner gestammelten Wörter klebt im Raum, und ich will vermeiden, dass Liz die Panik darin hört. »Mein Dad fragt mich das halt auch ständig. Was ich mal werden will und wie ich mir mein Leben vorstelle und so … Aber woher soll ich das denn wissen, wenn ich keine Ahnung habe, wer ich überhaupt bin?«
Mein Herz rast, ich bin hellwach. Laut ausgesprochen klingt dieses Nichtwissen, wer man eigentlich ist, noch viel dämlicher, als wenn man nur darüber nachdenkt. Und zurücknehmen lässt es sich auch nicht mehr, wenn es mal in der Welt ist.
»Irgendwie kommt mir das bekannt vor. Aber danke, damit ist immerhin meine erste Frage beantwortet.«
»Bitte.« Mein Ton ist gereizt.
Und um ein Zeichen zu setzen, dass für mich das Gespräch beendet ist, knautsche ich mein Kissen zurecht, was bei einem aufblasbaren Kissen nicht unbedingt die erwünschte Wirkung erzielt. Doch selbst als ich anschließend auf dem Bauch liegend meinen Kopf demonstrativ zur anderen Seite drehe, macht Liz mit ihrer Befragung weiter, als hätte sie noch nie was von Körpersprache gehört.
»Und was ist mit der Liebe?«
Meine Gegenfrage ist mehr ein Stöhnen. »Was soll damit sein?«
»Spielt die auch eine Rolle in deinem erhofften perfekten Leben?«
Es wird immer schlimmer.
»Falls Sie … Falls du wissen willst, ob ich in einer Beziehung bin? Nein. Keine Lust drauf.«
Ein nachgeschobener Halbsatz für den ich mir am liebsten eine Ohrfeige geben würde. Weil ich ahne, dass diese Hobby-Psychologin direkt wieder darauf einsteigen wird. Doch merkwürdigerweise passiert nichts. Und weil ich die plötzliche Ruhe auch nicht ertragen kann, drehe ich den Kopf zurück zu ihr und sehe verschwommen, wie sie mich aufmunternd anlächelt.
»Ist alles nicht einfach, was?«
Ich nicke schweigend.
»War’s noch nie. Es war anders, aber nie einfach, das kannst du einer alten Schachtel wie mir glauben.«
Helmut liebte es, wenn sich Sonnenstrahlen in seine Haut brannten und hinter seinen geschlossenen Lidern die Flammen, die über seinen ganzen Körper tanzten, hellrot loderten. Es war immer ein Gefühl, als würde er sich auflösen. Oder fliegen. In eine Welt, die ganz anders war als diese hier. Und in die er sich in letzter Zeit wieder häufiger zurückzog, weil dort seine wiederkehrenden, unglücklichen Bauchgefühle keinen Zutritt hatten. Und auch keine dunklen, leuchtenden Augen. Die schon gar nicht.
Dass er in Gedanken gern auf Reisen ging, war nichts Neues. Als Kinder hatten sein bester Freund Gerdi und er sich oft auf eine Wiese gelegt, den Schulatlas aufgeschlagen und sich vorgestellt, was sie an einem x-beliebigen Ort alles erleben würden. Neu war nur, dass Helmut es jetzt allein tat, ohne Atlas, ohne Abenteuergedanken und ohne Gerdi. Er ließ sich einfach treiben und in der Sonne gelang ihm das besonders gut.
Und darum war er genau jetzt auch nicht mehr am Escher See, wo er mit Marlene und seinen Freunden den ersten warmen Frühlingssonntag verbrachte. Auch nicht mehr in Köln. Er war unterwegs in dieser anderen Welt, die heute nur aus einem grünen, runden Hügel bestand, den er federleicht hochrannte. Dieser Welt, in der die Luft in seinen Lungen so klar und voller Leben war, dass er auf dem höchsten Punkt sogar noch genug Energie hatte, um wild umherzuwirbeln. Die Aussicht war grandios und er begann damit, auf dem höchsten Punkt des Hügels ein Gebäude zu bauen, ein lichtdurchflutetes Gebäude ganz nach seinen Vorstellungen, das die Menschen um ihn herum zum Jubeln brachte, weil …
»Da bist du ja!« Gerdi schob ein paar Brombeersträucher zur Seite. »Wir haben schon gedacht, du bist untergegangen.«
Helmut fuhr hoch. Seine Reise war auf einen Schlag zu Ende, sein Fantasiehaus eingestürzt und die Landung unangenehm hart. Er rieb sich die Augen und versuchte unauffällig, wieder im Hier und Jetzt anzukommen.
»Quatsch. Hab mich nach dem Schwimmen nur kurz zum Trocknen hierhergelegt.«
»Ist das Wasser nicht noch viel zu kalt?«
»Geht schon. Man darf halt kein Weichei sein.«
»Das sagt der Richtige.« Gerdi setzte sich neben Helmut. »Aber sei froh, dass du schon im Wasser warst. Martin ist gerade gekommen.«
Helmut wusste sofort, was Gerdi damit meinte. »Und, hat der Herr Wachtmeister schon wieder das offizielle Badeverbot ausgesprochen?«
Gerdi bestätigte augenrollend. »Der geht hier doch selber ab und zu rein.«
»Aber nur an den ungefährlichen Stellen. Bei mindestens 22 Grad. Und nur bis zu den Knien.«
»Weil er nicht schwimmen kann, der Vogel. Soll er mich doch anzeigen.«
Die beiden lachten über Martin, der seinen Beruf bei der Polizei für ihren Geschmack manchmal etwas zu ernst nahm. Und während Gerdi sich eine Zigarette anzündete, weil er vor seiner neuen Freundin Jutta nicht rauchen durfte, musterte Helmut ihn. Und er fragte sich, ob Gerdi auch noch diese Reisen unternahm. Oder ob das nur eine übrig gebliebene, lächerliche Kindheitsangewohnheit von ihm war.
Er könnte die Frage einfach laut aussprechen, weil sie sich seit über zehn Jahren fast alles erzählten. Eigentlich genau seit dem Moment, als sie wegen einer Schulzusammenlegung in eine Klasse gesteckt wurden und deswegen aufhören mussten, auf den Straßen und in den Bombenruinen von Nippes in unterschiedlichen Banden gegeneinander zu kämpfen. Das war der Start ihrer Freundschaft. Von da an hatten sie alles zusammen gemacht. Lernen nur im Notfall, ihre Atlas-Reisen häufig, Mädchen aus ihrer Klasse ausspionieren eigentlich immer, gemeinsam auf Helmuts Schwestern aufpassen, wenn es nötig war. Und als sie alt genug waren, waren sie dreimal pro Woche nach Deutz in die Werkstatt und zur Tankstelle von Gerdis Vater geradelt und hatten als jüngste Tankwarte Kölns die wohlhabenden und meistens spendablen Autobesitzer bedient. Sie waren auch Freunde geblieben, als Helmut nach dem Tod seines Vaters die Schule verlassen und Geld verdienen musste, während Gerdi widerwillig das Abitur machte. Und weder Marlene noch eine von Gerdis wöchentlich wechselnden Freundinnen konnten ihrer Freundschaft was anhaben.
»Jemand zu Hause?« Gerdi wedelte mit seiner Kippe vor Helmuts Gesicht.
»Ja, warum? Bin nur noch ein bisschen verschlafen.«
»Du wirkst in letzter Zeit oft etwas verschlafen. Darum.«
Helmut wich Gerdis Blick aus. Es war ihm unangenehm, dass er das ansprach.
»Ist nur die Arbeit. Ist gerade etwas viel. Überall wird gebaut, wir sind zu wenig Leute, die Oper muss fertig werden, ich muss für meine Beamtenprüfung lernen …«
»Aha.«
»Und meiner Mutter geht’s gerade auch nicht so gut.«
Gerdi glaubte ihm nicht, das spürte Helmut. Aber was sollte er ihm sonst für eine Geschichte auftischen? Dass eine kurze, zufällige Begegnung an Karneval der Auslöser dafür war, dass seine unglücklichen Gefühle jetzt viel häufiger auftauchten als früher? Genau wie diese Bilder, die meistens nachts in seinem Kopf herumgeisterten und für die er sich tagsüber schrecklich schämte? Garantiert nicht, sie erzählten sich schließlich nur fast alles. Und das gehörte garantiert nicht dazu. Dann lieber doch das andere Thema.
»Kannst du dich noch an unsere Reisen erinnern?«
»Oh Mann, klar, waren wir da noch jung. Und dumm.« Gerdi drückte lachend seine Zigarette aus und spickte den Stummel in die Büsche. »Wie kommst du da jetzt drauf?«
Helmut lachte unwohl mit. »Keine Ahnung. Ist mir nur vorher eingefallen, weil wir da zwar dumm waren, aber auch so … unbeschwert.«
»Und jetzt bist du’s nicht mehr?«
Der Themenwechsel hatte überhaupt nichts gebracht.
»Doch, schon. Komm, lass uns zu den anderen zurück.«
Helmut wollte schon aufstehen, doch Gerdi blieb sitzen.
»Ist mit dir und Marlene alles in Ordnung?«
»Natürlich. Was soll nicht in Ordnung sein?«
»Sag’s du mir. Ich finde, ihr wirkt beide nicht mehr so glücklich seit ein paar Wochen.«
»Keine Ahnung.«
Natürlich war Helmut das auch schon aufgefallen. Er war ja schließlich der Grund dafür, dass sie sich nicht mehr so oft sahen. Vordergründig war die Arbeit schuld, insgeheim aber sein schlechtes Gewissen, dass er ihr etwas verheimlichte, was keinerlei Bedeutung hatte und trotzdem so viel Raum einnahm.
»Vielleicht hat sie ja erkannt, dass ich ihr nie das Wasser reichen kann.«
»Das ist es also.« Gerdi packte Helmut an den Schultern. »Du denkst, dass die sich irgendwann einen reichen Kerl angelt, der bei ihrem Vater in der Bank arbeitet? Dass sie dich aussortiert, weil du nicht studieren kannst wie einer von den Schnöseln?«
»Kann sein.«
Die Gedanken waren Helmut tatsächlich nicht fremd, weil er sich bis heute nicht erklären konnte, was Marlene eigentlich genau an ihm fand.
»Du bist ein Trottel. Ehrlich. Marlene ist die beste Frau, die es gibt. Also nach Jutta. Sie liebt dich, sie hat für eure Beziehung gekämpft und wenn ihr was egal ist, dann ist es das Geld, das du verdienst. Davon haben ihre Eltern wirklich mehr als genug.«
Helmut schämte sich direkt wieder dafür, dass er so undankbar war, weil jeder Punkt stimmte, den sein Freund aufgezählt hatte.
»Vielleicht wärst du jetzt einfach mal an der Reihe, einen Schritt weiterzugehen?«
»Wohin?«
»In Richtung Zukunft, du Holzkopf. Marlene wartet doch nur darauf, dass du um ihre Hand anhältst.«
»Meinst du?«
Gerdi stöhnte und gab Helmut eine Kopfnuss. Dann stand er auf und zog Helmut ebenfalls hoch.
»Das meine ich nicht nur, das ist so. Sei mal ein Mann, Kumpel. Und jetzt los.«
Helmut ging voraus und bahnte ihnen den Weg durch die stacheligen Brombeerbüsche, die das ganze Ufer des Sees überwucherten. Gerdi hatte vermutlich recht. Er musste langsam, aber sicher wirklich einen Schritt weiter gehen. Vielleicht war das auch der Grund, warum er sich in letzter Zeit manchmal so verloren vorkam. Weil er wie Marlene nicht genau wusste, wohin es mit ihnen gehen sollte. Das war es. Das musste es sein.
»Schlaft ihr schon miteinander?«
Gerdi war direkt hinter ihm.
»Natürlich nicht.« Helmuts Antwort kam wie aus der Pistole geschossen. »Ihre Eltern würden mich umbringen. Blöde Frage.«
»Blöde Frage.« Gerdi äffte ihn nach. »Ich sag dir was, Helmi: Sex ist wie fliegen. Also zumindest der Sex mit Jutta. Aber mit Marlene sicher auch. Macht das mal, dann merkst du, dass unsere Reisen damals wirklich nur Kinderkram waren. Sex ist quasi die tausendfache Steigerung davon.«
Helmut nickte nur, froh darüber, dass er vorneweg lief. So konnte Gerdi seinen roten Kopf nicht sehen, den er immer bekam, wenn es um dieses Thema ging. Schon allein das Wort Sex trieb ihm die Farbe ins Gesicht. Natürlich küssten Marlene und er sich, aber zu mehr war es einfach noch nicht gekommen. Es gehörte sich nicht und das hatten sie beide so akzeptiert. »Ich denke drüber nach.«
»Nicht nur denken, Helmi, machen. Und wenn ihr eh heiratet, ist es doch auch egal, wann ihr es tut.«
Gerdi ging an ihm vorbei auf die kleine Wiesenfläche, auf der sich Marlene, Martin und Jutta sonnten. Helmut setzte ein Lächeln auf, das seine Verwirrung kaschieren sollte, und folgte ihm.
»Na endlich, Schatz, ich hab mir schon Sorgen gemacht.«
Marlene hielt ihre Arme auf und Helmut tat so, als würde er sich mit seinem ganzen Gewicht auf sie drauf fallen lassen. Doch er stützte sich rechtzeitig ab und gab Marlene einen ähnlich leidenschaftlichen Kuss, wie Jutta ihn von Gerdi bekam.
»Du musst dir keine Sorgen um mich machen. Bin nur kurz eingeschlafen.«
Während Marlene Helmut überrascht zurückküsste, und er nur noch darüber nachdenken konnte, was Gerdi eben zu ihm gesagt hatte, konzentrierte Jutta sich wieder auf ihre Diskussion mit Martin.
»Ich finde das trotzdem nicht gut. Ihr macht genau das, was die Nazis auch gemacht haben.«
»Du hast doch keine Ahnung, wovon du redest.« Martin standen Schweißperlen auf der Stirn und er wurde immer lauter. »Es ist gesetzlich verboten, weil es pervers und unnatürlich ist. Das hat nichts mit den Nazis zu tun. Ich verbiete dir, dass du so was sagst.«
»Du kannst mir gar nichts verbieten.«
Gerdi mischte sich neugierig in den Streit ein. »Worum geht’s denn?«
»Ach«, Jutta verdrehte die Augen, »Martin ist stolz drauf, dass sie heute Nacht 15 175er festgenommen haben.«
»Bin ich. Weil ich nicht will, dass unsere Stadt verkommt. Weißt du, was die in öffentlichen Toiletten oder unten an der Hohenzollernbrücke treiben? Die befummeln sich überall, die knutschen miteinander, mal mit dem einen, dann wieder mit einem anderen, Junge und Alte, und das ist noch lang nicht alles, was da läuft. Und alles im Schatten von unserem ehrwürdigen Dom. Widerlich.«
»Wo sollen sie es denn sonst machen?«
»Gar nicht!«
Helmut ließ sich auf die Seite fallen. Er wollte das nicht hören, er wollte auch nicht sehen, wie Gerdi angeekelt das Gesicht verzog, er wollte einfach nur, dass sein Herz aufhörte zu rasen, als würde es in diesem Gespräch um ihn gehen.
»Aber sie können nichts dafür, dass sie so sind.« Jutta verschränkte ihre Arme, als würde das Martin beeindrucken.
Tat es nicht.
»Woher weißt du da eigentlich so genau Bescheid?« Er winkte direkt ab. »Ich will es gar nicht wissen. Wahrscheinlich dein Onkel wieder. Ich weiß nur, dass Unzucht zwischen zwei Männern verboten ist. Das hat sogar das Bundesverfassungsgericht gerade erst bestätigt. Von wegen Nazis. Der Paragraf 175 steht mit unserem Grundgesetz im Einklang. Punkt. Aus. Da kannst du noch so viel dagegen sagen. Wir werden in nächster Zeit in Köln aufräumen. Und wir haben sogar die Stadt auf unserer Seite, stimmt’s, Helmut.«
Helmut starrte Martin an, weil er keine Ahnung hatte, was er darauf sagen sollte. Er räusperte sich und suchte noch nach den richtigen Worten, als Gerdi ihm zuvorkam.
»Ich finde das schon eklig. Mitten in der Stadt. In einem Klohäuschen. Also wirklich, das macht man nicht. Die sollten es sich einfach verkneifen …«
Er schüttelte sich, um seinen Widerwillen Ausdruck zu verleihen. Und Helmut entging nicht, wie falsch sich diese Moralpredigt ausgerechnet aus Gerdis Mund anhörte.
Trotzdem schloss er sich ihm an. »Find ich auch. Und darum will ich auch gar nichts mehr von dem widerlichen Zeugs hören. Gut, wenn diese Perversen weggesperrt sind. Wer kommt mit ins Wasser? Ist zwar kalt, aber wirklich schön.«
»Ich.« Marlene ließ sich von Helmut hochziehen. »Ich glaube, Abkühlung tut uns allen ganz gut.«
Nachdem sie auch Jutta überredet hatten, mit in den See zu kommen, weil sie zunächst bockig zurückbleiben wollte, trabten sie in merkwürdig angespannter Stimmung zum Wasser und lachten erst wieder ausgelassen, als Martin seine obligatorische Warnung aussprach.
»Aber nur bis zu den Knien!«
Natürlich hielt nur er sich daran.
Jonas grinst mich an. Zurückhaltender als früher, aber immer noch als würde er was planen. Irgendeinen Scheiß mit seinem besten Freund. Mit mir. Ich denke ›endlich‹ und frage cool ›Was geht?‹. Sein Display wackelt, er rückt näher ans Handy. Jetzt erkenne ich, dass sein Lächeln nicht zurückhaltend, sondern traurig ist. Kein Wunder. ›Nicht viel‹ flüstert er. ›Same here‹ bekomme ich noch raus, bevor ich mich räuspern muss. Fieberhaft überlege ich, was ich als Nächstes sagen kann. Keine Vorhaltungen, dass er mich seit Monaten ghostet. Ich will nicht, dass er genervt auflegt. Lieber was zur Schule vielleicht? Einen Witz über unser schrecklich schlechtes Fußballteam? Oder erwartet er, dass ich nach seiner kleinen Schwester frage, ob es eine neue Spur zu ihr gibt? Ich weiß es nicht, ich weiß nur, dass ich ihn einfach umarmen will. Trösten. Vielleicht auch küssen. Wie damals am Strand.
›Ich muss ständig daran denken‹, flüstert er noch leiser als eben. ›Ich auch.‹ Wir schauen uns an. Sekunden, die sich wie Minuten anfühlen. Und in denen alles ausgesprochen wird, ohne was zu sagen. Jonas unterbricht die Stille. ›Können wir es wiederholen?‹ ›Was?‹ ›Du weißt schon.‹ ›Wann?‹ ›Jetzt.‹ Nein. Ja. Natürlich. Sicher tausendmal habe ich mir ausgemalt, wie es beim zweiten Mal werden wird. Diese Version war nicht dabei. Aber sie macht mich an, ich will nicht warten. Und ich will Jonas nicht warten lassen.
Schnell schließe ich meine Zimmertür ab, ziehe mein Shirt aus, setze mich zurück vors Handy. Es ist ein Fehler, ich weiß es einfach. Aber ein Fehler, der sich wahnsinnig gut anfühlt. ›Ich will sehen, wie du’s dir machst.‹ Er spricht meine Gedanken aus. Ich kann nicht glauben, dass das nach Monaten Funkstille gerade passiert. Meine Hand fährt in meine Hose, ich kippe das Handy, damit er alles sieht und sage laut ›Man, ich hab dich echt vermisst.‹
Er fängt an zu lachen. Ich lache mit. Gelöst. Bis ich merke, dass wir gar nicht allein sind. Dass von allen Seiten das Lachen kommt, weil unser Chat nicht mehr intim ist, sondern plötzlich Tausende Teilnehmer hat. Jonas? Er verschwindet. Und jetzt kapiere ich auch, dass die anderen nicht mit mir lachen, sie lachen mich aus. Schrill, boshaft, tödlich. Sie zeigen auf mich. Und das Handy filmt erbarmungslos weiter. Ich bekomme es nicht zu fassen. Keinen Zentimeter kann ich mich bewegen. Mein nackter Körper ist wie gelähmt. Nur meine riesige Erektion pocht weiter in die Kamera. Sie sehen alles. Ich winde mich, stöhne, sie sollen aufhören, wegschauen, mich in Ruhe lassen. Ich würge so was wie einen Schrei aus mir raus …
Und reiße die Augen auf.
Die Morgensonne blendet mich, in ihren Strahlen tanzt der Staub der Nacht. Ich versuche mich zu orientieren. Italien. Es ist alles gut. Der Herzschlag in meinen Ohren wird leiser. Ich bin in Sicherheit.
Fuck! Nein, nichts ist gut. Mein Herzschlag wird wieder lauter. Wütender. Nicht mal hier, nicht mal nachdem wir ein für alle Mal einen Schlussstrich gezogen haben, lässt Jonas, lässt dieser Albtraum mich los. Er war doch schon so gut wie weg – jetzt kommt er wieder.
Ich linse zu Liz rüber und hoffe, dass sie nichts mitbekommen hat. Hat sie nicht, das Bett neben meinem ist leer. Überrascht sehe ich, dass ihre ganze Zimmerseite leer ist. Der Rucksack, ihre Schuhe, alles ist mitsamt der Besitzerin verschwunden. Sie muss sich schon im Morgengrauen leise auf den Weg gemacht haben. Vermutlich werde ich sie nie wiedersehen.
Draußen im Flur herrscht Aufbruchsstimmung, irgendjemand schrammt an meiner Zimmertür vorbei. Ich sollte mich besser auch mal beeilen, bevor die Temperatur wieder auf über 30 Grad steigt. Beim Aufstehen spüre ich den Muskelkater. Die Lähmung aus meinem Traum war echt. Noch mal Fuck!
Und dann sehe ich sie. Die Postkarte, die am Fußende meines Bettes liegt. Also ist die alte Dame doch nicht spurlos verschwunden. Hätte mich irgendwie auch gewundert.
Ich nehme die Karte in die Hand, eine alte Stadtansicht von Köln, und lese die Nachricht, die Liz mir hinterlassen hat.
Wohin reist du, wenn du deine Augen schließt?
Es stimmt, dass wir mit dem Herzen meistens besser sehen. Ist nicht von mir, trotzdem gut. Liz
Und was tue ich? Ich schließe tatsächlich kurz meine Augen, sehe Dinge, die ich nicht sehen will, und öffne sie sofort wieder. So ein verdammter Blödsinn, ich bin schon so verrückt wie alle hier.
Ohne die Karte eines weiteren Blickes zu würdigen, schiebe ich sie in die Seitentasche meines Rucksacks zu meiner Notfall-Bifi, die dort geduldig vor sich hin schwitzt.
Dann mache ich mich auf den Weg ins Bad.