Читать книгу Mut. Machen. Liebe - Hansjörg Nessensohn - Страница 8
3.
ОглавлениеIch sehe Liz pink leuchten, als ich nach zehn Kilometern bergab und tausend wilden Gedankensprüngen eine Pause mache. Sie sitzt an einem Bach etwas abseits des Weges, kühlt ihre Füße und schaut in die entgegengesetzte Richtung. Es sieht aus, als würde sie die Zypressen zählen, die entlang der geschlängelten Straße Spalier stehen. Oder die Wolken, die als kleine weiße Tupfer dem Himmel seine Form geben.
Auf jeden Fall wirkt sie sehr entspannt. So entspannt, wie ich mich gern fühlen würde, es aber nicht tue, weil mein Kopf seit den ersten Schritten am Morgen auf Hochtouren arbeitet. Eigentlich schon seit dem Aufwachen.
Es ging los mit dem Bild, das ich nicht mehr sehen wollte, aber mit geschlossenen Augen wiedergesehen habe. Ich vor einigen Wochen in Köln, voller Vorfreude auf das Wiedersehen mit Jonas, um dann zu erkennen, dass ich zu spät gekommen bin. Oder dass er mir zu wenig Zeit gelassen hat. Oder dass es einfach eine Schnapsidee war, nach all den Jahren und allem, was passiert ist, irgendwo anknüpfen zu wollen. Es ging weiter mit diesem realen Moment aus meinem beschissenen Traum, der alles verändert hat. Als das Video online gegangen war, das schuld daran ist, dass ich die Spur verloren habe, die ich bis heute suche. Und statt mich aufs Finden zu konzentrieren, habe ich dann lieber Jonas geschrieben. Ausgerechnet ihm. Ich versteh’s selber nicht, dieses Laufen macht gaga. Wenn das so weitergeht, breche ich spätestens übermorgen ab. Oder zusammen.
10:19
Kenn ich dich denn überhaupt noch? P.
10:21
Hab ich dich überhaupt jemals gekannt?
Er blieb offline, dafür stand mein Gedankenkarussell nach dieser kurzen Unterbrechung nur noch mehr unter Strom. Es jagte mich durch ein paar leidliche Beziehungsversuche der letzten Jahre. Musikschnipsel, die mir in den Sinn kamen, erinnerten mich daran, dass wohl mein größter Berufswunsch aufgrund von fehlendem Talent keine Zukunft haben würde. Dazwischen funkten beängstigende Schlagzeilen aus der Welt und die Frage, ob es in Zukunft überhaupt noch eine Zukunft geben wird. Und über allem hing wie immer das schlechte Gewissen mit der Stimme meines Vaters, die mir sagt, dass ich gar kein Recht hätte, nicht zu wissen, was ich will, weil mir nahezu alle Möglichkeiten offenstehen würden.
So viel also zum Thema ›beim Laufen lässt es sich leichter nachdenken und loslassen‹. Ich habe vielmehr den Eindruck, als scheucht jeder Schritt einen weiteren Gedanken in den entlegensten Ecken meines Gehirns auf, der dann ungefiltert durch meinen Kopf rasen muss. Und der gleichzeitig alles andere platt walzt, auch die schöne Gegend, die ich nur sporadisch wahrnehme. Derart aufmerksam hätte es für meine Wanderung auch der Frankfurter Stadtwald getan. Wäre auf jeden Fall kühler und billiger gewesen.
»Nicht-Pilger Paul aus Frankfurt. Hallo.«
Liz hat mich entdeckt und winkt mir zu.
Ich greife nach meiner Wasserflasche und meinem Rucksack und balanciere ein paar Meter den Bach entlang. Ungesehen weitergehen ist keine Option mehr.
Sie begrüßt mich herzlich und entspannt – war ja klar.
»Gut geschlafen?«
»Glaub schon.«
»Hab ich gehört.«
»Schnarch ich?« Ich setze mich direkt neben sie.
»Hat dir das noch niemand gesagt?«
»Nein.«
Mir entgeht natürlich nicht, dass sie zweifelt. Zu Recht, aber das gebe ich nicht gern zu. Schuld daran sind meine Nasenpolypen, die schon längst hätten operiert werden müssen, aber irgendwie ist mir das nicht ganz geheuer.
»Wirklich nicht. Ich schwöre. Bist du deswegen so früh losgelaufen?«
»Nein, nein, ich brauch für die Strecken einfach länger und will so weit wie möglich kommen, wenn’s noch nicht so heiß ist.«
Ich ziehe meine Sneakers aus und stelle sie betont weit von unserem Sitzplatz weg. Ein kleiner Gefallen, den Liz amüsiert zur Kenntnis nimmt.
»Danke für die Karte übrigens.«
Das kalte Wasser an den Füßen tut extrem gut.
»Woher wusstest du das?«
»Was wusste ich?«
»Das mit Köln.«
Ich spüre ihren Blick und wünsche mir mal wieder, ich hätte meine Klappe gehalten. Aber es ist zu spät. Mein gestotterter Rettungsversuch macht es nicht besser. »Und das, was du geschrieben hast. Mit dem Sehen. Ausgerechnet, also, auf einer Köln-Karte.«
»Ich weiß nicht, was du meinst.«
»Ach, ist auch egal. Blöder Zufall halt.«
»Gibt es Zufälle?«
»Klar, ist ja wohl einer, dass wir uns hier wiedergetroffen haben, oder?«
»Hm.«
Selber hm. Was soll es auch sonst sein? Ich reagiere nicht mehr darauf, sondern krame zwei belegte Panini aus meinem Rucksack, die ich mir im letzten Dorf gekauft habe.
»Magst du auch eins?«
Liz verneint. »Ist nett, danke, ich hatte schon was.«
Zum Glück. Ich genieße stumm vor mich hin, und als mir meine Füße signalisieren, dass sie wieder Normaltemperatur haben, und die Stille um uns nur vom Plätschern des Wassers und einem weit entfernten Traktor gestört wird, realisiere ich, dass auch meine rasenden Gedanken etwas zur Ruhe gekommen sind. Der Platz scheint perfekt dafür zu sein, das schweigende Nichtdenken zu üben. Liz sieht das anders.
»Magst du mir davon erzählen? Von der Köln-Sache?«
Irgendwie habe ich diese Frage schon erwartet.
»Nee, lass mal. Ist nur alter Kram.«
»Alter Kram, der mitwandert.«
»Meinst du dich?«
Liz lacht laut auf und boxt mir auf die Schulter. »You’re an idiot.«
Ich lache mit, weil ich froh bin, dass sie den Witz verstanden hat. Weiß man bei alten Leuten ja nie. Und weil sich gerade die Gelegenheit bietet, stelle ich ihr mal eine Frage, um nicht immer der Typ im Kreuzverhör zu sein. »Wo in Amerika lebst du eigentlich?«
»Ach, wir sind viel umgezogen. Am Schluss waren wir in New York.«
»Am Schluss?«
»Mein Mann ist gestorben und dann wollte ich auch nicht mehr dableiben.«
»Okay.«
Tolle Frage, die ich mir da ausgedacht habe, denn eine einfühlsame Erwiderung auf ihre Antwort fällt mir schon nicht mehr ein. Irgendwie klingt darauf doch alles falsch. Tut mir leid, zum Beispiel? Dafür kenne ich Liz doch viel zu wenig, um es ernst zu meinen. Und vielleicht gibt es ja auch gar keinen Grund für Mitleid, wer weiß das schon. Doch als ich nach einer höflichen Pause aufschaue, sehe ich, dass genau das Gegenteil der Fall ist. Und dann fällt mir doch noch etwas Kluges ein, also jetzt nicht nobelpreisverdächtig, aber immerhin der Situation angemessen.
»Ihr wart lang verheiratet, oder?«
Liz nickt. »Fast sechzig Jahre.«
»Krass.«
Ich rechne schnell nach und komme zu der Erkenntnis, dass ich in den kommenden drei Jahren heiraten müsste, um das mit der durchschnittlichen Lebenserwartung eines Mannes noch erreichen zu können. Allerdings bin ich Realist genug, um zu wissen, dass die Chancen auf eine Hochzeit in naher Zukunft eher gering sind, weil ich es noch nicht mal eine Woche mit jemand aushalte und, wie gesagt, die Sache mit den Polypen auch noch nicht geklärt ist.
»Wenn du das machst, also mit geschlossenen Augen reisen, reist du dann zu deinem Mann?«
Noch mal so was Kluges, ich bin von mir selbst beeindruckt. Doch Liz antwortet nicht. Sie starrt erst ruhig vor sich hin, als würde sie überlegen, und beginnt dann einfach wieder zu erzählen. Nicht von sich, sondern von Helmut und Enzo und dem Freundeskreis, zu dem sie allem Anschein nach auch gehörte. Ich akzeptiere das, weil es mich ehrlich interessiert und ablenkt und weil ich schließlich auch nicht mit jedem Dahergelaufenen über meine privatesten Sachen reden würde.
Mittlerweile war der Frühling richtig und dauerhaft in Köln angekommen. Und mit ihm Tausende Touristen, die im Deutzer Rheinpark die gerade eröffnete Bundesgartenschau besuchen wollten. Vorzugsweise mit der Seilbahn, die seit einigen Tagen das rechte und linke Rheinufer miteinander verband. Alle wollten mit dieser einmaligen Attraktion fahren und Köln und den Rhein von oben sehen. Auch Helmut und Marlene. Darum reihten sie sich an diesem ersten Mai-Sonntag in der Nähe des Zoos in eine nicht enden wollende und ziemlich aufgedrehte Menschenschlange ein. Überall um sie herum wurde gelacht und geschwatzt und sobald eine Gondel über ihnen in den Himmel stieg, wurde sie mit einem großen Hallo verabschiedet.
Im Vergleich zu allen anderen war Helmut auffällig schweigsam und komplett nass geschwitzt. Nicht nur wegen der Temperaturen, sondern auch vor Angst, weil er gleich das erste Mal so richtig und nicht nur in Gedanken fliegen würde. Die meiste Aufregung kam aber daher, dass heute Marlenes Geburtstag war und er ihr auf der mehrminütigen Fahrt nach Deutz die Frage stellen musste, die er sich die letzten Wochen tausendfach mal laut, mal leise eingetrichtert hatte: Willst du mich heiraten? Es war alles genau geplant. Auf der anderen Rheinseite warteten ihre Freunde Jutta, Gerdi und Martin, um mit ihnen ihre Verlobung zu feiern, sofern er trotz seiner Höhenangst den entscheidenden Satz rausbringen und Marlene Ja sagen würde.
»Sollen wir nicht doch lieber mit dem Fahrrad fahren? Damit wären wir sicher schneller in Deutz.« Marlene fächerte sich mit einem in 4711 getränkten Taschentuch Luft zu und zählte die Menschen, die vor ihnen standen. »Wahrscheinlich wären wir sogar zu Fuß schneller. Wenn die alle Gondeln mit vier Personen besetzen, was sie nicht tun, sieht man ja, sind wir trotzdem erst an neunzehn, zwanzig, einundzwanzigster Stelle.«
Helmut schüttelte energisch den Kopf.
»Auf keinen Fall, wir warten. Das geht ganz schnell. Außerdem ist das dein Geburtstagsgeschenk.«
Marlene lächelte liebevoll und reichte ihm ihr parfümiertes Taschentuch. »Willst du auch? Du siehst aus, als könntest du es gebrauchen.«
»Lass mal.«
Helmut mochte den Geruch noch nie. Aber weil Marlene in der Buchhaltung dieser Parfumfirma arbeitete, hatte sie immer eine Flasche bei sich.
»Lieber eine Zigarette?«
»Danke, mir ist schon schlecht.«
»Wirklich?«
»Nein, war nur ein Witz.«
Helmut grinste bemüht unbekümmert. Doch Marlene inspizierte ihn genau.
»Siehst aber tatsächlich so aus. Wirklich alles in Ordnung?«
»Ja. Wirklich. Ich weiß halt nur nicht, was mich erwartet. Ist schon ziemlich hoch.«
»Was soll denn passieren?«
»Es könnte wackeln.«
Marlene stöhnte belustigt auf. »Ich sag doch, lass uns mit dem Rad fahren.«
»Nein.«
»Aber wehe du übergibst dich.«
»Ich bin ein Mann, Männer übergeben sich nicht.«
»Aha. Und was war das in der Nacht nach deiner Karnevalsprügelei?«
»Da hatte ich eine Gehirnerschütterung. Das habe ich dir schon hundertmal erklärt.«
»Aha.«
»Sag nicht immer Aha.«
Marlene schaute ihn an, wie sie ihn in den letzten Monaten oft angeschaut hatte, und rückte in der Schlange einige Schritte auf. Helmut atmete einmal tief durch. Bitte nicht jetzt. Jedes
Mal, wenn sie auf diesen verdammten Abend zu sprechen kamen, reagierte er so unkontrolliert harsch, dass es ihm schon Sekunden danach leidtat. Und trotzdem war es nicht selten der Fall, dass sich daraus ein Streit um Nichtigkeiten entwickelte, obwohl sie sich früher nie gestritten hatten. Das durfte jetzt auf keinen Fall passieren. Schnell griff er nach Marlenes Hand und gab ihr einen Kuss auf die Wange.
»Ich werde mich nicht übergeben. Versprochen.«
Marlene gab ihm einen Kuss zurück. »Und wenn es passiert, liebe ich dich nicht weniger.«
Helmuts Herz machte einen Satz. Und er hoffte, dass es ein fröhlicher war, weil Marlene ihm quasi jetzt schon die Antwort auf seine Frage gegeben hatte. Doch ganz sicher war er sich nicht. Seit diesem Abend im Februar war er sich mit gar nichts mehr sicher. Auch nicht, ob der Schritt nach vorn, den er dank Gerdis Ansage gleich wagen würde, in die richtige Richtung ging. Immerhin wurden die Bilder, die ihn nachts heimsuchten, seit seiner Entscheidung für den Antrag weniger. Es muss also die richtige Richtung sein und der Aussetzer seines Herzens war garantiert ein fröhlicher.
»Helmi, hast du es dir doch anders überlegt?«
Marlene war schon wieder drei Meter vor ihm. Sie sah wieder mal unbeschreiblich gut aus in ihrem gepunkteten Sommerkleid. Helmut schloss eilig auf, während sie sich in ein aufgeregtes Gespräch mit der Familie vor ihnen vertiefte.
Er kramte nach den 4 Mark in seiner Tasche, die er gleich für die Tickets bezahlen musste. Eigentlich kostete die Fahrt nur 3 Mark 40 für zwei Personen, aber Helmut war gestern schon hier gewesen und hatte mit dem Kassierer dieses horrende Trinkgeld ausgehandelt, damit Marlene und er auch ja eine Gondel für sich allein haben würden. Keinesfalls wollte er seine Frage vor Publikum stellen.
»Wir sind gleich an der Reihe. Ging doch schneller als gedacht, was?« Jetzt war Marlene auch nervös.
»Hab ich doch gesagt.«
»Schlauberger. Viel Spaß!«
Sie winkte der Familie zu, die jetzt durch eine schmiedeeiserne Absperrung zur Einstiegsstelle durchgelassen wurde, während Helmut die Fahrkarten bezahlte und der Kassierer ihm verschwörerisch zuzwinkerte.
»Gute Wahl, Junge.«
Das Kompliment galt natürlich Marlene, die sich verständlicherweise wunderte. »Was meinte der gerade?«
Helmut tat ahnungslos. »Keine Ahnung. Dass wir mit der Seilbahn fahren wahrscheinlich.«
Marlene gab sich mit der Antwort zufrieden. Sie schlängelten sich durch das kleine Eisentor, zeigten ihre Fahrkarten vor und dann ging alles ganz schnell, fast zu schnell. Sie wurden im Abfahrtsbereich positioniert, beobachteten, wie ihre Gondel auf der gegenüberliegenden Seite glückliche Menschen auswarf und dann langsam zu ihnen herüberschlingerte, stiegen ein, mussten nervös lachen, weil es tatsächlich wackliger war, als sie gedacht hatten und wurden mit einem Ruck hochgezogen.
»Oh mein Gott.«
Marlene war völlig aus dem Häuschen. Die Menschen unter ihnen wurden kleiner, das Panorama um sie herum immer weiter.
»Schau mal, Helmi, der Dom. Und da, das Hansahochhaus. Ist das schön, alles. Und da drüben ist Mülheim. Helmi, das ist wirklich das schönste Geschenk, das ich jemals bekommen habe.«
Helmut folgte Marlenes Fingern, die in alle Himmelsrichtungen zeigten, und war von seinem ersten Mal echtes Fliegen nicht weniger fasziniert. Doch schon nach kurzer Zeit hatten sie die Mitte des Rheins erreicht und er realisierte, dass er handeln musste, sonst wäre die Fahrt vorbei und seine Frage ungestellt. Er griff nach der kleinen Schatulle in seiner Jacke und kniete sich in der engen Gondel, so gut es ging, vor Marlene hin.
Sie reagierte erschrocken. »Oh nein, ist dir jetzt doch schlecht?«
Helmut verneinte. »Ich muss dich was fragen und ich muss schnell sein, weil wir ja gleich drüben ankommen.«
Er räusperte sich einen Frosch aus dem Hals, der immer da war, wenn die Nervosität kaum auszuhalten war.
»Liebe Marlene, du bist die schönste und lustigste und klügste Frau, die es gibt. Und obwohl ich nicht genau weiß, was du ausgerechnet an mir findest, aber weil du der wichtigste Mensch in meinem Leben bist und ich dieses Leben nur mit dir verbringen möchte und ich dich liebe und mir schrecklich leidtut, dass ich in letzter Zeit manchmal komisch war, und ich verspreche, dass sich das ab sofort wieder ändert, will ich dich fragen, ob du meine Frau werden willst.«
Helmut klappte die Schatulle mit dem Verlobungsring seiner Mutter auf und traute sich dann zum ersten Mal, Marlene in die Augen zu schauen. Ihr liefen Tränen über die Wangen und Helmut hatte für wenige Sekunden Angst, dass sie seinen Antrag nicht annehmen würde. Doch unter ihren Tränen strahlte sie übers ganze Gesicht.
»Ja, ich will.«
»Wirklich?«
»Natürlich. Wen soll ich denn sonst heiraten wollen.«
Marlene beugte sich zu Helmut runter und gab ihm einen leidenschaftlichen Kuss. Und ohne dass sie es merkten, fuhren sie küssend in die Zielhaltestelle ein. Dort war das Gejohle groß, denn ihre Freunde standen wie verabredet bereit, um sie in Empfang zu nehmen.
Marlene war fassungslos. »Hast du das alles geplant?«
»Sicher.«
Helmut konnte nicht beschreiben, wie erleichtert er war, dass alles so reibungslos geklappt hatte. Er war verlobt mit der besten Frau der Welt, er würde ein tolles Leben führen, er würde eine eigene Familie haben, er würde ab sofort rundum glücklich sein, weil er genau das hatte, was sich viele andere wünschten.
»Bei deinem Vater habe ich übrigens schon um deine Hand angehalten, er ist nicht begeistert, aber einverstanden.«
»Ohne mich vorher mal zu fragen?«
»Er meinte nur, dass du eh nicht auf ihn hörst.«
»Das stimmt«, lachte Marlene.
Glücklich stiegen sie aus der Gondel und nahmen die Glückwünsche ihrer Freunde entgegen. Marlene zu ihrem Geburtstag, sie zusammen zu ihrer Verlobung. Es war genauso ausgelassen und fröhlich, wie Helmut es sich die ganze Zeit vorgestellt hatte.
Und dann besuchten sie gemeinsam die Bundesgartenschau. Sie bestaunten mit vielen anderen Menschen das Blütenmeer des Rheinparks, der noch vor wenigen Jahren ein einziger Schutthaufen gewesen war. Sie gönnten sich einen Kuchen und stießen mit Sekt an, wie es die Reichen aus Düsseldorf taten. Und sie standen vor den faszinierenden Wasserspielen und waren sich sicher, dass Köln und das Leben in dieser Stadt von nun an von Jahr zu Jahr nur noch schöner werden würde.
Helmut und Marlene hielten sich dabei fast den ganzen Tag an den Händen, weil sie ihr Glück nie wieder loslassen wollten. Erst auf dem Rückweg zur Seilbahn, mit der sie im Sonnenuntergang zurück zum linken Rheinufer fahren wollten, ließ Helmut Marlene kurz mit den anderen allein. Er wollte sich bei allen für diesen Tag bedanken, der so unvergesslich war, und stellte sich bei einem Eisverkäufer an, der sich mit seinem Fahrrad durch die Menschenmassen klingelte. Es war ein teurer Tag, aber jeder Pfennig hatte sich gelohnt, deswegen kam es auf die eine Mark auch nicht mehr an.
Helmut schaute zu Marlene, winkte ihr verliebt zu und wollte schon seine Bestellung aufgeben, als er eine bekannte Stimme hörte.
»El Mut! Retter! Endlich! Ciao, wie gehen dir?«
Helmut hob langsam seinen Kopf und es war, als ob die Welt um ihn herum einstürzte. Diese Augen, dieses Lächeln, er starrte wie hypnotisiert auf Enzos Gesicht.
»Bin jetzt Eismann. Gibt alles. Schoko, Vanille, Erdbeere …«
Er hörte gar nicht richtig zu, weil er viel zu beschäftigt damit war, die Bilder unter Kontrolle zu halten, die in seinem Kopf durcheinanderwirbelten. Sie kamen doch normalerweise nur nachts. Und überhaupt hatte er sie doch schon längst überwunden.
Ein Mann aus der Schlange beschwerte sich lautstark. Helmut musste sich zusammenreißen. Er versuchte so zu tun, als wäre nichts, und konzentrierte sich wie versteinert auf die Eisauslage.
»Ich hätte gern fünf …«
Es funktionierte nicht. Wie magnetisch angezogen schaute er wieder hoch. Enzo zwinkerte ihm mit einem Eisportionierer in der Hand zu, und in diesem Augenblick kapierte Helmut, dass es nicht nur seine Bilder waren, die seinen Kopf beinah zum Platzen brachten, sondern dass Enzo sie auch sah.
Wortlos drehte er sich um und ging zitternd zurück zu den anderen.
»Schöne Scheiße.«
Damit meine ich nicht die Geschichte von Helmut und Enzo, sondern Liz’ verdrehtes Knie, das uns seit ein paar Minuten am Weiterlaufen hindert.
Wir wollten gerade los, als sie auf den glatten und glitschigen Ufersteinen ausrutschte, stolperte und beinah in den Bach stürzte. Zum Glück konnte ich sie noch festhalten.
Leicht grün im Gesicht sitzt sie jetzt an ihren Rucksack gelehnt im Gras.
»Das ist gleich wieder gut. Ich muss es nur kurz ruhig halten. Und kühlen.«
Als ob. Wenn alte Menschen stolpern, ist es doch nie gleich wieder gut.
»Das wird aber schon ganz dick.«
Liz ignoriert meinen Kommentar, genauso wie sie wohl auch ihre Schmerzen ignoriert, und weil ich in meinem schweren Rucksack alles, aber keinen Kältespray dabeihabe, suche ich nach einem gebrauchten T-Shirt, um ihr mit dem kalten Bachwasser wenigstens einen kühlen Verband machen zu können.
»Vielleicht hilft das ja.«
Während ich diese provisorische Notversorgung durchführe, grübele ich, was ich denn jetzt tun soll. Unser eigentliches Vorhaben, dass nun jeder in seinem Tempo weitermarschiert, ist hinfällig. So viel steht fest. Ich kann Liz auf keinen Fall allein weitergehen lassen, weil ich mir ja noch nicht mal sicher bin, dass sie überhaupt weitergehen kann. Und wenn nicht? Ein Taxi findet man in dieser italienischen Abgeschiedenheit vermutlich noch schwerer als einen Orthopäden.
»Denk gar nicht daran, einen Krankenwagen zu rufen.«
»Hab ich doch gar nicht gesagt.«
»Ich habe dir angesehen, was du gedacht hast.«
Ich knote das nasse Shirt um ihr Knie und setze mich neben sie.
»Das soll jetzt wirklich nicht unhöflich sein, aber in deinem Alter sollte das vielleicht echt mal von ’nem Profi untersucht werden.«
»Das ist unhöflich.« Liz tut entrüstet, klopft danach aber zuversichtlich auf den Verband. »Du nimmst gleich dein Shirt und gehst weiter. Ich komm schon zurecht.«
»Vergiss es. Ich lass dich hier sicher nicht allein sitzen.«
»Dann stell ich dir so lange Fragen, bist du schreiend davonläufst.«
»Versuch’s doch. Ich bin ziemlich gut im Weghören.«
Ich halte Liz’ Blick stand, bis wir lachen müssen. Wahrscheinlich weil wir beide wissen, dass es nicht stimmt.
»Sag aber hinterher nicht, dass ich dich nicht gewarnt hätte.«
Ich nicke und ziehe mein Handy aus der Tasche. Irgendwie ist es an der Zeit für ein Selfie. Wahrscheinlich, weil wir zum ersten Mal so richtig zusammen gelacht haben, vielleicht aber auch, weil ich seit über einer Stunde nicht über meine eigenen Themen nachgedacht habe. Rekord.
Ich lege meinen Arm um Liz’ Schultern, presse meine Zungenspitze zwischen die Schneidezähne, weil ich das immer mache, um auf unnatürlichen Fotos natürlich zu wirken, und drücke den Auslöser.
Das Foto sieht fröhlich aus, zumindest ist das mein Eindruck. Blöderweise nur meiner.
»Bist du glücklich?«
»Oh Mann«, stöhne ich und vergrößere das Foto auf dem Display.
»Frag mich doch so Sachen, wie meine Eltern heißen zum Beispiel. Oder wie mein Abischnitt war.«
Liz spielt ein Gähnen vor. »Mich interessiert aber mehr, warum deine schönen grauen Augen nicht so lachen, wie sie für jemand in deinem Alter lachen sollten.«
Verärgert stecke ich mein Handy wieder weg. Ich ahne, was sie meint. Nicht mal meine Zungenakrobatik kann darüber hinwegtäuschen, dass ich fröhlich aussehend traurig wirke. Verdammt.
»Augen sind der Spiegel der Seele.«
»Ja, danke. Reicht jetzt.«
Das war das erste und letzte gemeinsame Foto.
Liz versucht, ihr Knie zu beugen und zu strecken und macht den T-Shirt-Verband ab.
»Die Kälte hat gutgetan. Sollen wir los?«
»Wenn’s geht.«
Ich mache das Shirt noch mal nass, helfe Liz bei ihrem professionell gepackten 7-Kilo-Rucksack und schultere dann meinen. Froh darüber, dass sie nicht länger auf meinem angeblich trüben Seelenspiegel rumhackt.
»Tut mir leid, dass ich deinen nicht auch tragen kann. Geht’s wirklich?«
Sie nickt, hakt sich bei mir unter und zieht nur beim ersten Schritt die Luft durch die Zähne.
»Ja, wirklich.«
Die ersten Meter sind wackelig, auch weil wir uns erst aneinander gewöhnen und einen gemeinsamen Rhythmus finden müssen. Doch Schritt für Schritt wird es harmonischer. Nur meine Befürchtung bleibt, dass wir in diesem Tempo niemals unser heutiges Etappenziel erreichen werden.