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Einleitung

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Während ein großer Teil der Literatur des 18. Jahrhunderts, jedenfalls soweit sie zu Aufklärung und Empfindsamkeit gehört, neue Tugendideale präsentiert und kultiviert, gefällt sich die Literatur des Rokoko in der Feier der Sinnlichkeit. Mit dieser Thematik bezieht sie Oppositionsstellung gegen die Hochaufklärung und deren Tugendkult, den diese vorwiegend im bürgerlichen Roman und im bürgerlichen Trauerspiel teilweise bis zum Exzess betreibt. Statt der asketischen, menschen- und leibfeindlichen Strenge der Tugend huldigt das Rokoko der heiter-lächelnden, lebensfrohen Göttin der Freude und des Genusses. Es ist die Zeit Christoph Martin Wielands, des jungen Goethe in Leipzig, Wolfgang Amadeus Mozarts. Es ist die Zeit der großen Maler François Boucher, Jean-Honoré Fragonard und Antoine Watteau, des erotischen Kupferstichs, der intimen Zeichnung. Indem die Rokoko-Dichtung sich weigert, sich unter das Moralpostulat zu stellen, religiöse Themen aufzugreifen oder die Natur ausschließlich als Gottes Schöpfung zu preisen, verlagert sie ihre Hauptfunktion auf das delectare (allerdings nicht ohne das docere ganz zu vergessen und sei es ein docere in Liebesdingen). Sie will hauptsächlich kultivierte Dichtung sein, die dem guten Geschmack huldigt (was minder begabten Autoren nicht immer gelingt). Sie thematisiert das Vergnügen am irdischen Dasein, das unmittelbar aus der natürlichen Empfindung und Stimmung entsteht und keiner religiösen oder philosophischen Rechtfertigung mehr bedarf. Der Rokoko-Mensch richtet sich auf dieser Erde ein, genießt das Genießenswerte und findet sich mit den allzu menschlichen Unzulänglichkeiten ironisch und weise ab.

Wenn es auch eine geschlossene Kunsttheorie des Rokoko nicht gibt, so lässt sich doch eine Reihe von Kennzeichen nachweisen, die als »typisch« für diese Epoche gelten können. Es sind dies der ›Scherz‹, der in Umdeutung des aufklärerischen ›Witzes‹ in vielfältiger Gestaltung die Literatur des Rokoko durchzieht, die Forderung und Förderung des ›Gefälligen‹, ›Graziösen‹, die Freude, die das Rokoko mit der Anakreontik verbindet, die Vorliebe für das Kleine und Niedliche, für Ironie, Parodie und Pikanterie. Dazu gehören aber auch die Anmut, der Reiz der Grazie, schäferliche Ausprägungsformen und die Annäherung des dichterischen Kunstwollens an die Bildkunsttheorie. Diese Kennzeichen lassen sich in den Texten der anliegenden Auswahl fast alle nachweisen, obwohl sie thematisch eingegrenzt ist auf die Darstellung des Erotischen und Sexuellen. Folie und Rechtfertigung für die erotischen Reizsensationen bildet die antike Mythologie sowohl in der Dichtung als auch in der zeitgenössischen Bildkunst. Auffällig ist eine erstaunliche Korrespondenz zwischen Rokoko-Texten und Rokoko-Malerei bzw. ‑Graphik. Sie zeigt die Homogenität des Kunstwollens in Dichtung und Malerei und die Einheitlichkeit und Eigenständigkeit der Epoche. Es ist in den letzten Jahrzehnten in der deutschen Literaturwissenschaft üblich geworden, Rokoko-Texte der Anakreontik zuzuordnen und den Begriff ›Rokoko‹ ganz zu vermeiden. In Anbetracht der Materiallage ist das ein Fehler. Die Anakreontik verfolgt andere Zielsetzungen und ist viel enger zu fassen als das Rokoko. Die hier versammelten Texte können nur zu einem geringen Teil der Anakreontik zugerechnet werden. Durch ihre augenfällige Nähe zur Rokokokunst vorwiegend Frankreichs stehen sie der französischen Malerei und Graphik wesentlich näher als den Dichtungen des antiken Anakreon und den Anakreonteen (Wieland und Rost zum Beispiel sind keine Anakreontiker). Manche scheinen von den französischen Kunstwerken geradezu angeregt worden zu sein, ihre Gedichte und Verserzählungen zu schreiben. Die möglichen Zusammenhänge zwischen Dichtung und Malerei der Zeit bedürfen noch einer genaueren Untersuchung. Es wäre wünschenswert, wenn sie in absehbarer Zeit in Angriff genommen werden würde. Wer Gemälde und Graphiken der oben genannten Boucher, Fragonard, Watteau und anderer zeitgenössischer Künstler des Rokoko betrachtet, dem fallen die Parallelen offen ins Auge.

Die Anthologie, die zahlreiche vergessene Texte wieder entdeckt, zielt darauf ab, das Bild vom deutschen 18. Jahrhundert, das sich aufgrund der bevorzugten wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der „Tugendliteratur“ der Aufklärung verfestigt hat, zu modifizieren. Die Texte stammen von allgemein bekannten Autoren wie Lessing, Wieland und Goethe, aber auch von vergessenen oder heute kaum bekannten Dichtern, deren Werke eine Neu- bzw. Wiederentdeckung verdienen. Selbstverständlich wurden auch die großen Erotiker des Rokoko wie Rost und Scheffner berücksichtigt, ebenso wie Wilhelm Heinses berühmt-berüchtigtes Gedicht Die Kirschen. Neben den Werkausgaben der genannten Autoren wurde vor allem die zwischen 1790 und 1810 mehrfach aufgelegte, aber in den Bibliotheken kaum vorhandene zweibändige Anthologie Nuditäten oder Fantasien auf der Venus-Geige (mit dem fingierten Druckort Padua [= Berlin]) ausgewertet, wodurch viele Texte, die sonst kaum noch zu finden sind, aufgenommen werden konnten. Publikationen der letzten Jahrzehnte zur Liebesauffassung der Aufklärung kennen in der Regel diese Texte nicht und zeichnen dadurch ein einseitiges Bild der Epoche.

Das Rokoko ist eine in den letzten vierzig Jahren von der deutschen literaturwissenschaftlichen Forschung vernachlässigte Epoche, die es wieder ins allgemeine Bewusstsein zu heben gilt. Der Band »Erotisches Rokoko. Literatur der Sinnlichkeit« will einen wichtigen Beitrag zur Neuentdeckung leisten und darüber hinaus wegen der Lebendigkeit der Texte und der offenen Thematisierung von Erotik und Sexualität einen größeren Interessentenkreis ansprechen.

Der Herausgeber wählt diesen Weg der Publikation, da es ihm nicht gelungen ist, einen Verleger für einen Text-/Bildband in Printform, der literarische Texte und Abbildungen einander gegenüber stellen wollte, zu gewinnen.

Erotisches Rokoko. Literatur der Sinnlichkeit

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