Читать книгу Black or White - Hanspeter Künzler - Страница 10
ОглавлениеJackie Jackson hatte unterdessen die Fahrprüfung bestanden und den Zündschlüssel für den VW-Bus in der Tasche. Ob man nicht besser ohne den Vater losfahren würde, witzelte Jermaine, denn Joseph kehrte verspätet von der Arbeit zurück. Es nahm ihn niemand ernst. Unterwegs nach Detroit, schreibt Michael, habe er gespürt, dass sich sein Leben mit dieser Fahrt grundlegend verändern werde. Im Radio liefen die Beatles. Motown Records hatte für die Band das Gotham Hotel gebucht, ein urbaner Kasten im Stil New York der 30er Jahre. Alle gingen früh zu Bett – außer Joseph: der ging zum Ausgang. Am nächsten Morgen um fünf Minuten vor zehn Uhr ließ Joseph seine Leute auf dem Parkplatz von Motown der Größe nach in einer Reihe zur Inspektion antreten. Punkt zehn Uhr schritt er ihnen voraus durch die Eingangspforte. Der Mann, der sie in Empfang nahm, begrüßte sie – sie konnten es nicht glauben – alle mit Namen. Im Studio gesellte sich Ralph Seltzer zu ihnen. Nun mussten sie allerdings einen argen Dämpfer hinnehmen. Label-Gründer und -Präsident Berry Gordy werde, so wurde ihnen eröffnet, nicht persönlich anwesend war. Gordy verbrachte zu diesem Zeitpunkt bereits die meiste Zeit in Los Angeles, wo er alles daransetzte, für seine On-/Off-Freundin Diana Ross eine Filmkarriere einzufädeln. Joseph fühlte sich in seinem Stolz verletzt und wollte abmarschieren: Die Jacksons kämen zurück, wenn es Gordy besser passe. Er wurde zum Bleiben überredet. Die Vorspielprobe werde auf Film gebannt, damit Gordy die Resultate in Ruhe begutachten könne, die Entscheidung werde er zu gegebener Zeit mitteilen. Zum Start legte die Jackson 5 eine furiose Version des brandneuen James Brown-Hits „I Got the Feeling“ hin, wobei Michael die Manierismen von JB bis hin zum Ausruf „Good God almighty!“ perfekt kopierte. Keiner der anwesenden Motown-Angestellten applaudierte, jeder kritzelte im Notizbuch. Irritiert stürzten sich die Jacksons in den nächsten Song, bezeichnenderweise eine Version von „Tobacco Road“: Komponiert vom Country & Western-Songschreiber John D. Loudermilk, war das Lied vier Jahre zuvor von der englischen „Beat-Gruppe“ Nashville Teens in die amerikanischen Pop-Charts getragen worden. Die Wahl zeigt, wie weitgefächert das Repertoire der Jackson 5 sein konnte, und ist symptomatisch dafür, dass Motown nicht im Ruf stand, bloß „schwarze“ Musik schätzen zu können. Zum Abschluss konnten es sich die Jacksons nicht verkneifen, mit einer Interpretation von „Who’s Loving You“ des Motown-Haus-Komponisten Smokey Robinson zusätzliche Sympathie-Punkte zu sammeln. Die erwartete Begeisterung blieb aber aus. Seltzer erhob sich, sagte ohne eine Miene zu verziehen ein kurzes Dankeschön, versprach eine Antwort in zwei Tagen und ging von dannen. Über die Interstate 94 fuhren die Jacksons zurück nach Gary. Die Stimmung war gedrückt. Zu Hause warteten die Schulaufgaben. Aber drei Tage später saßen die Jacksons erneut im Büro von Motown Records in Detroit. Berry Gordy hatte sich das Schwarzweiß-Filmchen angeschaut und Seltzer mitgeteilt, es gelte, keine Sekunde zu verlieren, die Band müsse unter Vertrag genommen werden. Auch die Jacksons hatten keine Lust, lange zu fackeln. Nachdem Gordy per Telefon aus Los Angeles eingewilligt hatte, für einmal („nur einmal!“) eine Ausnahme zu machen und auf Joseph Jacksons Bedingung einzugehen, die Laufdauer des Vertrages auf ein Jahr statt der hausüblichen sieben Jahre zu beschränken, setzten alle beteiligten Jacksons ihre Unterschrift darunter – auch der Drummer Johnny Porter Jackson. Joseph unterschrieb einen weiteren Vertrag, der festhielt, dass er als Erziehungsberechtigter dafür verantwortlich sei, dass die minderjährige Band ihren Verpflichtungen nachkomme. Der erste Auftritt der Jackson 5 in ihrer Eigenschaft als frischgeschlüpfte Motown-Küken fand am 27. September 1968 im Gilroy Stadion in ihrer Heimatstadt Gary statt. An der Seite von Bobby Taylor & The Vancouvers, Gladys Knight & The Pips und Shorty Long nahmen sie an einer Benefiz-Veranstaltung zu Gunsten des Unterstützungs-Fonds für die Bürgermeisterwahl von Richard Hatcher teil. Der Legende nach soll Diana Ross die Jackson 5 bei dieser Veranstaltung entdeckt und Berry Gordy ans Herz gelegt haben. In Wahrheit war sie zu dem Zeitpunkt in Los Angeles und stritt – wie immer – mit den restlichen Supremes.
Um die Tragweite des Erfolgs von Motown Records erkennen zu können, ist ein historischer Ausflug nötig. Der Vater von Motown-Gründer Berry Gordy Jr., Berry Gordy Sr., war ein rühriger Geschäftsmann. Als Sohn eines befreiten Sklaven (der wiederum Sohn einer schwarzen Sklavin und eines weißen Plantagenbesitzers war) hatte er einen kargen Flecken Land in Georgia übernommen. Zum Erstaunen der weißen Nachbarschaft schaffte er es, aus dem Verkauf eines Haufens Abfallholz ein kleines Vermögen zu befürchten. Weil er Angst haben musste, dass ihm die freundlichen Nachbarn den Scheck stehlen würden, reiste er nach Detroit, um ihn einzulösen – und blieb, wie viele andere schwarze Emigranten aus den Südstaaten, dort. Die ansässige Automobilindustrie – allen voran die Firma Ford – hatte zu den Ersten gehört, die bei der Einstellung von Arbeitskräften keinen Unterschied gemacht hatten zwischen weißer und schwarzer Hautfarbe. Der Civil Rights Act von 1875 sah zwar vor, dass jeder Amerikaner ungeachtet seiner Rasse und seines Status (etwa als vormaliger Sklave) ein Recht auf gleiche Behandlung an öffentlichen Orten und am Arbeitsplatz hatte. Dennoch gingen von den Südstaaten in der Folge starke Bemühungen aus, die Bewegungsfreiheit und das Mitspracherecht von Schwarzen (und Juden und armen Weißen) auf gesetzlicher Ebene erheblich einzuschränken. Die sogenannten Jim Crow-Gesetze wurden von den einzelnen Staaten separat eingeführt und nicht selten vom Ku Klux Klan mit illegalen Mitteln, die von den Sheriffs stillschweigend toleriert wurden, „verwaltet“. Unter dem aus Virginia stammenden Präsidenten Woodrow Wilson – er amtierte von 1913 bis 1921 – nahmen diese Bestrebungen auf nationaler Ebene noch zu. Auch Detroit blieb von den Jim Crow-Gesetzen und den daraus resultierenden Spannungen nicht verschont. 1943 kam es zu tagelangen Krawallen, nachdem weiße Arbeiter in Streik getreten waren, weil ihnen die Firma Packard schwarze Arbeiter an die Seite stellen wollte. 34 Menschen wurden bei den Ausschreitungen getötet. Berry Gordy Jr. war vierzehn Jahre alt.
Es bedurfte vieler einzelner Vorstöße von Menschenrechtskämpfern, Gewerkschaften und ähnlichen Organisationen, um über die 40er und 50er Jahre hinweg einen Bundesstaat nach dem anderen zu zwingen, ein Segregationsgesetz nach dem anderen aufzuheben – was allerdings mancherorts nur dazu führte, dass der offene Rassismus hinter vorgehaltener Hand (oder brutal in einem einsamen Straßenpark) weiterging. Erst im Juli 1964 veranlasste Präsident Johnson die endgültige Abschaffung aller Jim Crow-Gesetze. Ein Jahr später setzte er es über den Kopf der Südstaaten hinweg auch noch durch, dass künftig wirklich jeder Amerikaner das Wahlrecht hatte. Noch im Jahr 1967 rief der Film „Guess Who’s Coming to Dinner?“, in dem es um eine gemischtrassige Ehe ging, heftige Proteste auf den Plan.
Die Gordys hielten sich von politischen und sozialen Konflikten fern. Im Mittelpunkt stand für sie die Familie und ihr Wohl. Berry Gordy Sr. hatte in Detroit als Straßenhändler angefangen und eine Lehre als Pflasterer gemacht. Dabei sparte er genug Geld, um eine Zimmerei, einen Lebensmittelladen und schließlich auch noch eine kleine Druckerei zu kaufen. Mit Bertha Gordy, der Mutter von Berry Gordy Jr., heiratete er eine bemerkenswerte Frau. Sie zog acht Kinder auf, absolvierte daneben ein Wirtschaftsstudium und gehörte zu den drei Gründerinnen einer Versicherungsgesellschaft für die Bewohner der „schwarzen“ Quartiere (sprich: Stadtteile, in denen es Schwarzen vom Gesetz her nicht zu wohnen verboten war) von Detroit. Alle anderen Gordys halfen in der Folge kräftig mit in den diversen Familienbetrieben – außer den jüngsten Söhnen, Robert und Berry Jr. Diese waren unverbesserliche Faulpelze und Hochstapler, die in der Schule nichts bis gar nichts taten. Wie Joseph Jackson kehrte Berry der Schulbank vorzeitig – und zum Schrecken der Eltern – den Rücken, um sich als Profi-Boxer zu verdingen. Im Alter von zwanzig Jahren konnte er auf eine nicht schlechte, aber auch nicht besonders gute Karriere zurückblicken: von neunzehn Kämpfen hatte er dreizehn gewonnen. Das ständige Training passte indessen auch nicht zu seinem Naturel. Nun richtete er sich im Hinterzimmer der väterlichen Druckerei ein, um Songs zu schreiben (der Vater war froh, dass der Querschläger überhaupt etwas tat). Ohne dabei irgendwie aufzufallen leistete er seinen Militärdienst in Korea ab (er behauptet seither, perfekt Koreanisch zu sprechen). Zurück in Detroit vermochte er seinen Bruder George dazu zu überreden, sich an einem Plattenladen zu beteiligten. Er setzte alles daran, seine Kundschaft zum Genuss von Jazz im Stil von Charlie Parker und Miles Davis zu überreden, aber in der schwarzen Arbeiterszene zählte bloß Rhythm & Blues. Mit der Zeit fand auch er Gefallen an den ihm solchermaßen aufgezwungenen Fats Domino, Jimmy Reed und Ray Charles – und an einer gewissen Thelma Coleman, die er alsbald ehelichte. Der Laden vermochte sich nicht über Wasser zu halten. Berry Jr. – unterdessen Vater einer Tochter namens Hazel und zweier Söhne – strauchelte von Job zu Job, die ihm nicht selten von den Schwiegereltern vermittelt worden waren. Einmal war ihm die Arbeit zu dreckig, ein anderes Mal zu langweilig, und überhaupt: Was interessierte ihn Staub, Krach und Schweiß, wenn Wein, Weib, Gesang und die neueste Herrenmode in der Luft lagen? Die Familie überlebte, weil die Gordys ihm mietfrei eine Wohnung überließen. Immerhin war die Zweitkarriere von Berry Jr. als Glücksspieler erstaunlich profitabel. Mit dem Geld kaufte sich der klassische „Hustler“-Typ auffällige Anzüge und ließ sich die Haare glätten und pomadieren. Thelmas Versuch, sich von ihm scheiden zu lassen, scheiterte vorerst an (ihrem) Geldmangel. Endlich gab Berry Jr. auch einen vergleichsweise angenehmen Job beim Automobilhersteller Lincoln-Mercury auf, um sich erneut dem Songschreiben zu widmen. Zwei seiner Schwestern, Anna und Gwen, arbeiteten in der Show-Bar „Flame“ – Gwen hatte die Konzession gepachtet, für die Kunden Souvenir-Fotos anzufertigen. Die Schwestern machten Berry mit dem Club-Besitzer Al Green (nicht der Al Green!) bekannt, der auch als Manager von Jackie Wilson tätig war, den Berry Jr. noch in seinen Boxer-Zeiten kennengelernt hatte. Durch Green begegnete Gordy, den Thelma inzwischen doch noch verlassen hatte, dem Songschreiber Billy Davis. Zusammen komponierten die beiden „Reet Petite“. Al Green legte den Song Jackie Wilson vor, und im September 1957 schnupperte Berry Gordy Jr. damit seine erste Hitparadenluft.
Wie der Musikhistoriker Charlie Gillett in seinem Buch „The Sound Of The City“ festhält, lag der Popgeschmack der weißen amerikanischen Teenager in der zweiten Hälfte der 50er Jahre recht nahe beim Geschmack ihrer schwarzen Alterskollegen. Fats Domino, Elvis Presley, Chuck Berry und Little Richard hatten sich als Rock’n’Roller in den „Popular“-Charts (sprich: den Charts, welche die Kaufgewohnheiten des gesamten Pop-Publikums reflektierten) ebenso etabliert wie in den „Rhythm & Blues“-Charts (den Charts für schwarze Musik). Aber die führenden Kräfte in der amerikanischen Musikindustrie zogen es vor, an den alten Demarkationslinien festzuhalten. Die großen Plattenfirmen, TV-Stationen und Konzertlokale konzentrierten sich weiterhin auf „Popular“. Plattenläden, Konzertlokale und vor allem Radiostationen stellten sich auf ein spezifisches Publikum ein, ohne sich darum zu kümmern, was auf der anderen Seite der Straße passierte. So drifteten die beiden „Märkte“ „Popular“ und „Rhythm & Blues“ bald wieder auseinander. Rock’n’Roll war die gemeinschaftliche Ausdrucksform der ersten Generation von Teenagern, die dank der blühenden Industrie in den Nachkriegsjahren über ihre eigenen finanziellen Mittel verfügte und dadurch für die Unternehmer im Unterhaltungsgeschäft interessant geworden war. Das bevorzugte Medium der Teenager war die Single, die mit billigen Mitteln in kürzester Zeit aufgenommen und verbreitet werden konnte. Aber die großen Plattenfirmen waren nicht flexibel genug, auf die kurzlebigen Trends im Singles-Markt einzugehen. Viel lieber belieferten sie den weißen Pop-Mainstream, der leichter manipulierbar war und durch saft- und kraftlose Saubersounds gekennzeichnet war, wo von Rebellion und emotionellem Selbstausdruck nicht die Rede sein konnte (in den Augen vieler kam „das Ende“ des Rock’n’Roll am 24. März 1958 mit dem Einrücken von Elvis in die Armee). Wie schon in den frühen Rhythm & Blues- und Country & Western-Jahren gab es nur noch zwei Möglichkeiten, wie Außenseitermusik einen Weg in die Pop-Charts finden konnte: Wenn die großen Plattenfirmen ihre etablierten Stars verwässerte Versionen der Underground-Hits einspielen ließen oder wenn die kleinen Fische – Sänger, Musiker, Manager, Produzenten – zur Selbsthilfe schritten und ihr eigenes, unabhängiges Plattenlabel gründeten, um ihre Platten selber an den Mann zu bringen. Eine schöne Illustration für diesen Vorgang liefert der (weiße) Comedian Tom Lehrer. Seine 1953 auf eigene Kosten aufgenommene und in Studentenkreisen populäre LP „Songs by Tom Lehrer“ wurde noch Jahre später von RCA Records abgelehnt mit dem Argument, man könne es nicht riskieren, dass die Kundschaft brüskiert werde und gar die Kühlschränke und Kochherde boykottiere, welche die Firma ebenfalls noch herstellte. Kein anderes Major-Label wollte das Album veröffentlichen, das heute zu den Klassikern des Genres zählt, und so vertrieb es Tom Lehrer weiterhin selber. Abseits der Zwänge des „Big Business“ verdrängte im Rhythm & Blues nun der Einfluss von Gospel die alten Blues-Elemente. Dadurch wurde ein neuer Stil kreiert – Soul. Sam Cooke war der erste schwarze Sänger, der Gospel auf diese Weise in die Hitparade brachte („You Send Me“, 1957). Ray Charles’s „What’d I Say“, „Shout“ von den Isley Brothers und Jackie Wilsons „Lonely Teardrops“ (Co-Autor: Berry Gordy Jr.) erschienen alle 1959 und waren weitere Meilensteine.
Kurz nach dem Hitparadenerfolg von „Reet Petite“ saß Berry Gordy Jr. im Büro von Nat Tarnopol, der nach dem Tod von Al Green Jackie Wilson allein managte, als eine Gruppe von Teenagern zur Vorsingprobe erschien. Tarnopol schickte The Matadors alsbald weg, aber Gordy eilte ihnen nach und kam mit ihnen ins Gespräch. Erstaunlicherweise stammten die Songs der Gruppe aus der Feder des 17-jährigen Lead-Sängers William „Smokey“ Robinson. Innerhalb kürzester Zeit entwickelte sich ein außergewöhnlich starkes Band zwischen den beiden ambitionierten Songschreibern. Gordy verbrachte Stunden damit, die ungehobelten, aber einprägsamen Lieder Robinsons so zurechtzustutzen, dass sie ins Schema eines Pop-Songs passten. Das erste erfolgreiche Resultat war im Januar 1958 die Single „Got a Job“, ein Antwort-Song auf den Silhouettes-Hit „Get a Job“ (allerdings ließ sich Gordy als alleiniger Komponist auflisten). The Matadors hießen nun The Miracles. Zur gleichen Zeit bemühte sich Gordy, Nachwuchssänger zu finden, mit denen er Demo-Aufnahmen der Songs machen konnte, die er weiterhin mit Billy Davis komponierte, um sie potentiellen Kunden vorzuspielen. Auf seiner Suche stieß er auf David Ruffin, Melvin Franklin (später beide bei den Temptations) sowie Brian und Eddie Holland. Dann kam für Berry Gordy Jr. der große Aha-Moment. Sein Bruder Robert hatte ihn dazu überredet, ihn ein Lied einspielen zu lassen, das er selber komponiert hatte, „Everyone Was There“. Die Studiomusiker waren skeptisch – sie meinten, der Song klinge „zu weiß“ für einen schwarzen Sänger. Dennoch konnte ein respektables, unabhängiges New Yorker Label gewonnen werden, die Single zu veröffentlichen. Die Radiostationen spielten sie auch häufig. Ein Auftritt in der samstagabendlichen TV-Sendung von Dick Clark sollte Robert Gordy (alias Bob Kayli) den Durchbruch sichern. Das Gegenteil passierte: Auf der Stelle interessierte sich niemand mehr für die Platte. Für Berry Gordy war klar, was passiert war: Dem schwarzen Publikum war das Stück tatsächlich „zu weiß“ (sprich: poppig), während das weiße Publikum nicht verstand, warum ein Pop-Song von einem Schwarzen gesungen wurde. Berry Gordy betrachtete die Situation aus einer anderen, geradezu revolutionären Perspektive. So gesehen war die Diskussion, ob Elvis Presley „Rock’n’Roll“ oder „Rhythm & Blues“ gesungen hat (eine Diskussion, die in gewissen Kreisen heute noch geführt wird), unsinnig: Für Gordy war die Musik von Elvis Presley schlicht „Pop“. Fortan erachtete er es als seine große Herausforderung, Popmusik zu kreieren, die von Schwarzen gesungen und gespielt wurde. Er nahm ein Darlehen von $ 1 000 aus der Familienkasse auf und startete Motown Records. Mit seiner neuen Lebenspartnerin Raynoma Liles zog er an die Nummer 2648, West Grand Boulevard, Detroit und gab dem netten Häuschen gleich einen neuen Namen: „Hitsville USA“ – es wurde das Hauptquartier des brandneuen Labels, samt Studio. Die Gebrüder Holland hatten sich unterdessen mit dem Songschreiber Lamont Dozier zusammengetan. Holland-Dozier-Holland wurden alsbald als Hausproduzenten erachtet, während aus der Feder von Smokey Robinson am laufenden Band hochklassige Schlager flossen. Ein Unterlabel – Jazz Workshop – wurde gegründet. Sein Zweck war es, den Kontakt zu lokalen Jazzmusikern aufzubauen, um jederzeit auf einen Pool von Begleitmusikern zurückgreifen zu können. Tatsächlich kristallisierte sich eine hervorragende Hausband heraus – The Funk Brothers. Die Platzverhältnisse im Studio waren prekär. Alle Beteiligten mussten flexibel, tolerant und improvisationsfähig sein. Musiker und Sänger standen sich praktisch auf den Füßen. Die Enge war dem Groove nur förderlich, denn alle hörten genau, was der andere tat, und eine heiße Passage wirkte ansteckend. Berry Gordy hatte ein geniales Auge für praktische Aspekte der Musik, die sonst niemand beachtete. So war ihm aufgefallen, dass das Autoradio zu einem der wichtigsten Pop-Medien avanciert war. Er richtete im Studio eine Anlage ein, die es ihm ermöglichte, zu testen, wie seine neuesten Aufnahmen über ein billiges Autoradio klingen würden. Er erkannte die Wichtigkeit von – schwarzen – Discjockeys und besuchte sie persönlich im Studio: Ein schwarzer Plattenlabeldirektor hatte selbst bei den Independent Labels absoluten Seltenheitswert, und Gordy konnte auf Unterstützung bauen, selbst dann, wenn seine Musik dem jeweiligen Discjockey nicht gefiel. Indem sie die Singles spielten, verpassten sie dem Motown-Sound automatisch Glaubwürdigkeit. Gordy hatte genaue Vorstellungen, wie eine Motown-Single aufgebaut sein musste. Während für die meisten zeit- und stilgenössischen Produzenten der Beat und das Image des Künstlers am wichtigsten waren, stellte er den „Song“ in den Vordergrund. Er verlangte von sich und seinen Komponisten, dass in den Texten kein überflüssiges Wort auftauchte und dass sie im Präsens geschrieben waren. Slangausdrücke waren verboten. Jeder Song musste über mehrere „Hooks“ verfügen, melodische oder textliche Momente, die unweigerlich im Ohr hängen blieben. Das konnte nebst einem eingängigen Refrain ein kurzer Bassriff sein, eine gelegentliche Bläsersalve, ein „oooh-aaaah“ von den Begleitsängern oder auch nur irgend ein Geräusch, das Gordy im Studio mit dem machte, was gerade zu Hand war. Bei den Refrains kannte Gordy keine Hemmungen: Sie wurden endlos wiederholt und durch Händeklatschen oder Perkussion noch stärker hervorgehoben. Im Oktober 1960 feierte Motown Records mit „Shop Around“ von Smokey Robinson & The Miracles den ersten Crossover-Pop-Hit. Es ist typisch für Gordy’s instinktive Sorgfalt im Umgang mit Details, dass die zuerst in Detroit veröffentlichte Lokalversion 3’04 dauerte, die nationale Popversion hingegen nur 2’50. Auch das ein Motown-Credo: Die Singles mussten zu kurz sein, damit sie jeder gleich nochmal hören wollte. Innerhalb kürzester Zeit hatte Gordy zehn Künstler um sich geschart, welche ohne weiteres imstande waren, die Pop-Top-10 zu knacken: The Temptations, The Miracles, The Four Tops, Marvin Gaye, Junior Walker, Stevie Wonder, Mary Wells, The Marvelettes, Martha and the Vandellas (Martha Reeves hatte als Sekretärin im Büro von Hitsville USA gearbeitet) und The Supremes. In den Popcharts von 1964 gehörte Motown zu den drei erfolgreichsten Plattenfirmen. In der Tat war der Motown-Sound nun dermaßen omnipräsent, dass die Fachzeitschrift Billboard die separaten R&B-Charts eine Zeitlang einstellte. Während der ersten zehn Schaffensjahre gelangen Motown Records nicht weniger als 79 Top-10 Crossover-Pop-Hits. Weil Gordy zudem nicht nur ständig neue Stimmen suchte, sondern auch junge Songschreiber, die er heranziehen konnte, blieb der Nachschub an Songs frisch. Der Ruf von Motown garantierte, dass jedes lokale Jungtalent zuerst hier anklopfte. Vor Motown hatte es kaum ein schwarzer Künstler über das Chitlin’ Circuit hinaus geschafft, jetzt füllten sie die gleichen Hallen wie alle anderen Top-Stars. Motown profitierte vom Erfolg der Beatles. Mit ihrer so stark vom Rhythm & Blues beeinflussten Musik weckten die Beatles bei ihren Altersgenossen das Interesse an diesem Musikstil, zumal die ersten Beatles-Singles in den USA auf dem unabhängigen R&B-Label Vee-Jay erschienen waren und John Lennon Smokey Robinson als Lieblingssänger nannte. Dank der Gehhilfe der Beatles fanden weiße amerikanische Popfans den Zugang zum Pop von Motown leichter (raubeinige Gruppen wie die Rolling Stones, die Yardbirds und Them verhalfen Ike & Tina Turner, John Lee Hooker und Howlin’ Wolf zu einem neuen Publikum). „Mir gefällt es nicht, wenn man unsere Musik „schwarze Musik“ nennt“, sagte Berry Gordy Jr., „Ich ziehe es vor, sie als Musik mit schwarzen Stars zu bezeichnen.“ Er war überzeugt, dass 70% aller Motown-Platten von weißen Musikfans gekauft wurden. Das war für ihn ein Zeichen des Erfolges. „Was Motown einmalig machte in der Geschichte der Popmusik, war die Kombination von Blackness und Erfolg“, schreibt der Musiksoziologe Simon Frith. Das machte Berry Gordy Jr. zu einer der ganz großen, inspirierenden Figuren im kulturellen Aufbruchsklima der Sixties. Es war eine klassische amerikanische Erfolgsstory – vom Fließband in der Autofabrik zum Multimillionär und Frauenhelden –, die zeigte, dass die Erfüllung des „American Dream“ auch für Schwarze eintreten konnte.
Den Herbst 1968 verbrachte die Jackson 5 im Motown-Studio in Detroit. An der Seite ihres Entdeckers Bobby Taylor, der als Produzent agierte, nahmen sie die ersten Songs unter dem Banner von Motown auf. Während einer sensationellen Woche im Dezember belegten nicht weniger als fünf Motown-Singles einen Platz in den amerikanischen Pop-Top 10: An der Spitze stand Marvin Gaye mit seiner Version von „I Heard It Through The Grapevine“. Es folgten auf Platz 2 Stevie Wonder mit „For Once in My Life“, auf Platz 3 Diana Ross & The Supremes mit „Love Child“, auf Platz 7 Diana Ross & The Supremes and the Temptations mit „I’m Gonna Make You Love“, und auf Platz 10 The Temptations mit „Cloud Nine“.