Читать книгу Black or White - Hanspeter Künzler - Страница 9
ОглавлениеDer Älteste, Jackie, wird um die 15 Jahre alt gewesen, Tito 13, Jermaine knapp zwölf, Marlon neun und Michael acht, als die Jackson 5 mit ihrer Verpflichtung bei Mr. Lucky’s die Welt der Nachtclubs kennenlernten. Und je weiter die Band für ihre Auftritte reisen musste, desto seltener konnte sie in derselben Nacht zurückfahren. Es kam vor, dass sie erst am Montag früh im Morgengrauen wieder in Gary ankamen, wenige Stunden, bevor die Boys den Weg zur Schule anzutreten hatten. Es bedeutete auch, dass sie immer häufiger in Hotels übernachten mussten. Joseph genoss die neuen Freiheiten in vollen Zügen. Nicht selten kehrte er zu später Stunde mit einer Frau am Arm in die Hotel-Suite zurück – es konnten auch deren zwei sein. „Gute Nacht, Jungs!“, habe er ihnen gutgelaunt zugerufen und sei mit den Frauen im Nebenzimmer verschwunden. Regelmäßig begleitete die Katzenmusik stöhnender Groupies und quietschender Bettfedern die Jackson 5 beim Einschlafen. Angesichts der vielpublizierten „sexuellen Revolution“, in der Musiker und ihr Anhang bekanntlich eine führende Rolle spielten, war es nicht unbedingt erstaunlich, dass Joseph keine Hemmungen zeigte, aus seiner privilegierten Position als Manager sexuellen Profit zu schlagen. Selbst wenn das freigeistige Sixties-Klima in Betracht gezogen wird, wo schuldgefühlfreie Promiskuität zum guten Ton gehörte, wirkt es doch höchst befremdlich, dass Joseph in keiner Weise versuchte, seine serienmäßigen Ehebrüche vor den Söhnen wenigstens halbwegs zu verbergen. Die Boys – ganz besonders das jüngste Bandmitglied Michael – wurden durch seine Sorglosigkeit vor eine unmögliche Situation gestellt. Alle liebten sie ihre Mutter über alles – und (trotz allem) auch ihren Vater. Schuldeten sie es Katherine, ihr zu verraten, was während ihrer Reisen geschah? Oder schuldeten sie Joseph, der so an ihre Zukunft glaubte, Stille?
Keiner der Söhne sagte je ein Wort zu Katherine, offenbar darum, weil sie die Mutter beschützen wollten. Es kann nicht einfach gewesen sein, sich durch diese Verheimlichung zum Mitläufer von Josephs parallelem Leben gemacht zu haben. Die dadurch aufgebrochenen Emotionen dürften für den achtjährigen Michael fast nicht zu bewältigen gewesen sein, zumal er als hingebungsvoller Sohn seiner Mutter in puncto religiöser Überzeugung mit kindlicher Inbrunst nacheiferte. Wie konnte es dieser Gott zulassen, dass gerade die lammfromme Katherine vom eigenen Mann so gnadenlos hintergangen wurde? Wie konnte es geschehen, dass sich gerade die Frau, die daran glaubte, dass außerehelicher Sexualverkehr des Teufels sei (wie die meisten Sexualpraktiken eigentlich, außer der Missionarsposition), ausgerechnet einem Lebenspartner ewige Treue geschworen hatte, der die Freuden des Fleisches in vollen Zügen zu genießen trachtete? Wenn die Verführungen, die uns in den Weg gelegt werden, Satans Versuch sind, uns vom Weg Gottes abzubringen – machte das Joseph nicht zum Abgesandten Satans? Es ist unmöglich, nicht an den Ödipus-Mythos zu denken. So drängt sich bei Josephs exhibitionistischen Casanova-Auftritten der Verdacht auf, er habe seinen Söhnen, die als Musiker so viel mehr Talent besaßen als er selber, zeigen müssen, dass er dort, wo es wirklich zählte, nämlich im Bett, noch immer der Platzhirsch war. Ebenfalls im Sinne des Ödipus-Mythos sind die heldenhaften Versuche der Söhne, Katherine zu beschützen vor dem Schmerz, den der Vater ihr zufügen könnte.
Nicht nur der Vater genoss das Leben „on the road“. Auch Michaels Brüder kamen bald auf den Geschmack. Der daheim so strenge Joseph ließ unterwegs die Zügel schleifen. Marlon und Michael hatten Order, sich schlafend zu stellen, wenn die älteren Brüder mit „Freundinnen“ ins Hotel zurückkehrten und sich in den anderen Betten mit ihnen vergnügten. Dann waren da auch noch die Clubs, in denen sie auftraten. Strip-Shows gehörten zum Alltag, und Joseph hatte nichts dagegen, wenn seine Sprösslinge sich die Shows zu Gemüte führten. Michael konnte es nicht verstehen, dass es Männer gab, die gierig an den Slips schnüffelten, welche die Stripperinnen auf dem Höhepunkt ihrer Show ins johlende Publikum warfen. In der Peppermint Lounge in Chicago hatte jemand ein Guckloch in die Wand gebohrt, auf der anderen Seite befand sich die Damentoilette. „Da sah ich Dinge, die ich nie vergessen habe“, heißt es in Michaels Memoiren. Unvergesslich geblieben ist ihm auch eine Show-Einlage im New Yorker Apollo Theater. „Ich hatte schon ziemlich viele Stripperinnen erlebt, aber dieses Mädchen hatte ganz besonders schöne Wimpern und lange Haare. Sie legte eine tolle Vorstellung aufs Parkett. Ganz plötzlich, ganz zum Schluss, da hat sie sich die Perücke vom Kopf gerissen und zwei große Orangen aus dem Büstenhalter gezogen.“
Es stellte sich heraus, dass hinter all dem Make-up ein hartes Männergesicht versteckt war. Das Publikum habe wild applaudiert. „Das hat mich umgehauen. Ich war ja bloß ein Kind. So was hätte ich nie im Leben erwartet.“ Die Jacksons waren imstande, den Ton ihrer Vorstellung dem des Lokales anzupassen. Wenn es Zeit war für die populäre Joe Tex-Nummer „Skinny Legs And All“, schickte Joseph Michael ins Publikum, wo dieser von Dame zu Dame sprintete, um ihnen unter den Rock zu gucken und dabei anzüglich mit den Augen zu rollen. Auch bei dieser Freak-Show kam Michael das Talent zugute, dass er eine Rolle perfekt spielen konnte, deren Sinn er so wenig verstand wie die Texte seiner Lieder. Michael hätte bei den sexuellen Erfahrungen seiner Brüder genug Gelegenheit gehabt, sich quasi am Bühnenrand „Bildung“ anzueignen, wie er es mit seinen Idolen im Theater getan hatte. Diese Art von aufgezwungener Lehre wirkte nur abstoßend auf ihn. Ein paar Jahre später, auf der Höhe ihres Erfolges, entdeckten die Jackson 5 in ihrer Garderobe in einem Londoner Theater wiederum ein Guckloch. Diesmal erlaubte es einen Blick auf die sich nackt erholende amerikanische Star-Schauspielerin Carol Channing. Vier Jacksons drängten sich aufgeregt um das Guckloch, der fünfte, Michael, wandte sich angewidert ab. Ist es bei einem derartigen Wirrwarr von widersprüchlichen Impulsen, unverständlichen Emotionen und überwältigenden Eindrücken ein Wunder, dass Michael sich mit Haut und Haar ins Show-Business stürzte? In ein Shangri-La, wo ein mit verblüffender Leichtigkeit hingeworfener Spagat wie ein Zaubertrick alle Sorgen und Komplikationen zum Verschwinden bringen konnte?