Читать книгу Black or White - Hanspeter Künzler - Страница 5

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Die Einladung klingt reizvoll. „KING OF POP MICHAEL JACKSON TO MAKE A SPECIAL ANNOUNCEMENT IN LONDON AT THE O2“, heißt es in der E-Mail mit lauter Großbuchstaben. Wann: Donnerstag, 5. März 2009. Wo: The O2, Grand Concourse, Peninsula Square, London SE10 ODX. Die Fotografen hätten sich um 13 Uhr einzufinden, die restlichen Medien um 14 Uhr, mit dem „Announcement“ gehe es pünktlich um 16 Uhr los. Und siehe da, zu Hunderten erscheinen die Vertreter der Weltmedien. Zuerst stehen sie in der beißenden Kälte Schlange vor der Dame mit der Namensliste. Danach stehen sie Schlange vor der Dame, die ihnen einen Plastikstreifen ums Handgelenk heftet, der je nach Farbe Zugang zu den verschiedenen Lounges, „Kommunikationszentren“ und Radio- und TV-Absperrungen gewährt. Zuletzt stehen sie Schlange vor der Röntgenanlage für die Taschen, gefolgt vom persönlichen Security-Check. Ein Heer von bis an die Zähne mit Clipboards und Handys bewaffneten PR-Damen sorgt dafür, dass sich in den labyrinthartigen Gängen der Halle niemand verirren kann, selbst wenn er dies im Dienste seiner professionellen Schnüffelnase gern tun möchte. Keine der PR-Damen scheint allerdings so richtig zu wissen, was als nächstes passieren soll. Wird der King of Pop eine Ansprache halten? Wird er gar Fragen beantworten? Was wird überhaupt er noch zu erzählen haben? Die großen News waren ja schon am Morgen in der Boulevardpresse nachzulesen. Nämlich: Michael Jackson will endlich wieder Konzerte geben. Angefangen am 8. Juli, sollen es zehn Auftritte werden, hier in der O2-Halle. Das ist eine verblüffende und sensationelle Nachricht. Denn abgesehen von einer Handvoll von Charity-Shows um die Jahrtausendwende herum sowie einem desaströsen Mini-Auftritt im November 2006 bei den World Music Awards in London hat man den Superstar seit der „History“-Tour von 1996/97 nie mehr live erlebt. Und hatte es nicht erst vor ein paar Monaten noch geheißen, sein Gesundheitszustand sei so fragil, dass er sich kaum noch aus dem Haus traue? Punkt 16 Uhr holen uns die PR-Damen in der Lounge ab. Genau in dem Moment, als uns die BBC live vom Hyde Park Corner informiert, dass Jackson soeben sein Hotel verlassen habe, um einen Mini-Bus zu besteigen, kommen wir im Foyer des O2-Zentrums an. Dort sind nebst einer Bühne, die von einer gewaltigen Videowand umrahmt ist, mehrere Gehege für die diversen Kategorien von Journalisten eingerichtet worden. An die tausend Fans haben sich ebenfalls eingefunden. Sie singen, johlen, jubeln, werfen sich fürs Souvenir-Foto in Pose und spüren offensichtlich nichts von der sibirischen Kälte. Im Auto von Knightsbridge in die Docklands – beim spätnachmittäglichen Stoßverkehr kann das gut und gern seine zwei Stunden dauern! Warum müssen Popstars immer zu spät sein? Die Fotografen sind bereits ganz schön grummelig. Seit drei Stunden stehen sie auf einer winzigen Tribüne hinter ihren Stativen. Es ist so eng, dass sie kaum die Schultern bewegen können. Und weil sie alle auf einem Haufen hocken, werden sie nachher auch noch alle den gleichen Shot haben. Michael Jackson. Wird er ein neues Album ankündigen? Vielleicht gar den Rücktritt? Wird er im Pyjama auftreten und ein taufrisches Baby genannt Blanket II. über dem Bühnenrand zappeln lassen? Wird er überhaupt erscheinen?

So oder so, die Massenversammlung von Fans, Reportern und sonstigen Schlachtenbummlern beweist eindrücklich, dass Jackson auch heute noch „News“ ist. Heute – das heißt: etwas weniger als acht Jahre seit seinem letzten Studioalbum „Invincible“ und gute fünf Jahre seit dem bescheidenen letzten Hit mit der R. Kelly-Komposition „One More Chance“. Andererseits sind auch bereits wieder vier Jahre verstrichen seit dem Schauprozess von Santa Maria, wo Jackson unter Anklage stand, Unzucht mit einem Kind begangen zu haben. 2 200 akkreditierte Journalisten prophezeiten damals zuversichtlich einen Schuldspruch und damit das supernovahafte Verglühen des größten Superstars aller Zeiten. Aber Jackson wurde vom Geschworenengericht in allen Punkten freigesprochen. Seither hat er ein für seine Verhältnisse diskretes Leben geführt – ein Nomadenleben. Ein paar Monate wohnte er in Bahrain, ein paar in Dubai, ein paar weitere in Irland. Er trug sich mit dem Gedanken, ein Haus in der Schweiz zu kaufen, ging dann aber doch lieber nach Las Vegas. Im Juli 2008 machte ein Foto die Runde, das ihn im Pyjama und Pantoffeln zeigte, wie er im Rollstuhl durch die Straßen der Casino-Metropole gestoßen wurde. Bei dem Anblick konnte man die brutale Schlagzeile der britischen Boulevardzeitung The Sun nachvollziehen: „Demise of the King of Pop“ stand da geschrieben. Dann und wann hörte man indessen auch Gerüchte anderer Art. Jackson plane ein neues Album, hieß es. Nebst Akon und Will.i.am bestätigte auch Ne-Yo, dass er Jackson neue Songs auf den Leib geschrieben habe. Die Frage, was aus diesen Liedern werden sollte, wusste allerdings niemand zu beantworten.

Eine Stunde und fünfundvierzig Minuten dauert das Warten. Pech für die Medienvertreter, welche sich vorher allzu oft bei den Freidrinks bedient haben: Wer die Toiletten aufsucht, wird nicht wieder eingelassen. Endlich Bewegung auf der Bühne. „Ready for this? You have waited long enough!“, hebt Big Brother-Moderator Dermot O’Leary an. „750 Millionen verkaufte Alben, 13 Grammys. London heißt ihn willkommen, den King of Pop, Mister Michael Jackson!“ Auf der Videowand sehen wir, wie ein Mini-Bus vor dem O2-Center anhält. Wie der besagte King of Pop an einem Spalier von breiten Security-Protzen vorbei dem Eingang zuschreitet. Ein bisschen gebückt wirkt er. Sein Gesicht ist hinter einer schwarzen Sonnenbrille versteckt. Das putzige Näschen sieht eigentlich ganz normal aus. Das silberne Muster auf der schwarzen Uniformjacke wirkt auf den ersten Blick wie die Röntgenaufnahme eines Brustkastens. „Ozzy Osbourne!“, fährt es einem durch den Kopf: die gleichen schwarzen Haarsträhnen, der gleiche leicht gebückte und leicht wacklige Gang. Aber mit ersten Eindrücken ist es so eine Sache. Als man sich die Szene später auf youtube nochmal anschaut, sieht man bloß einen Michael Jackson, der zügig durch die Tür schreitet, den dort auf ihn wartenden Buggy zur Seite winkt und im Korridor verschwindet. Die Fans heulen derweil auf wie ein Jumbo-Jet kurz vor dem Start und blitzen mit Fotoapparaten und Handys Richtung Videowand. Ehe Jackson tatsächlich die Bühne betritt, kredenzt die Videowand eine Sequenz von Video-Highlights aus seiner ganzen Karriere. Das Fangeschrei wird noch ein paar Dezibel lauter. Und dann steht er endlich da, dieser Michael Jackson. Flüstert O’Leary etwas ins Ohr und wird von diesem hinter das Mikrofon mit dem roten Schild gewiesen: „King of Pop – Michael Jackson“. Man fürchtet ob des resultierenden Kreischens um die Glasfront der schönen Nobelhalle, wo selbst die Hamburger in Ciabatta serviert werden. Michael macht mit seiner Rechten das Victory-Zeichen und sagt: „I love you so much. I love you so much.“ Die versammelte Fangemeinde, zu der Teenager ebenso gehören wie deren Eltern und womöglich Großeltern, dankt es mit einem kurzen Aufschrei und versinkt in inniger, respektvoller Stille. Jackson guckt kurz auf seine Schuhe, zupft am Ärmel, lehnt sich vor: „Thank you all.“ Guckt in die Runde. Räuspert sich. Rückt das Mikrofon zurecht. Sticht mit dem Zeigefinger in die Luft und sagt: „This – is – it!“ Wendet sich vom Mikrofon ab, geht leicht in die Knie und zappelt mit den Armen wie Rafael Nadal nach dem siegreichen Ass. „Ich will nur sagen“, sagt er dann und bittet mittels hochgehaltener Hand um neuerliche Ruhe, „dieses werden meine letzten Show-Performances sein – in London. Das wird es sein. This is it. Wenn ich sage: This is it, dann heißt das nun wirklich: This is it. Denn …“ – ein Zwischenruf aus dem Publikum entlockt Jackson ein Schmunzeln und einen kleinen Lacher. Er wendet sich ab. Blickt grinsend zu O’Leary hinüber. Blickt ins Publikum. Dieses skandiert mittlerweile aus voller Brust „We want Michael“, obwohl es ihn nun ja eigentlich hat. Jackson drückt sich die rechte Hand flach auf die Brust, dann die Linke flach auf die Rechte. Dann spricht er weiter: „Ich werde die Songs aufführen, die meine Fans hören wollen.“ Pause. Kreischen. „This is it. Ich meine: This is really it. Das ist der endgültige Schlusspunkt. Okay? Ich werde euch also im Juli sehen. Und …“ Pause. Kreischen. Zurufe. Jackson grinst. Hebt die Hand zum Gruß. „I love you. I really do. Das müsst ihr wissen. I love you so much. Really. From the bottom of my heart.“ Diesmal die Linke flach auf die Brust. „This is it – see you in July!“ Zwei, drei Faust-in-die-Luft-Posen für die Fotografen. Ein Handküsschen fürs Publikum, und schon entschwindet der King zwischen den feuerroten Vorhängen. O’Leary wird vom raschen Ende des Auftrittes sichtlich überrascht. Er fasst das Gesagte kurz zusammen und fügt noch das Datum der ersten der zehn geplanten Shows hinzu – 8. Juli 2009. Niemand hört mehr zu. Um ihn herum hat man bereits mit dem Abbau der Bühne begonnen. Kaum zwei Minuten hatte Michael Jackson vor dem Mikrofon gestanden. Zwei Minuten, die unter den Journalisten zuerst ungläubiges Gelächter („Zwei Minuten! This is it! Der hat sie ja nicht alle!“), dann rege Diskussionen auslösen. Was hat Jackson mit seinen Sprüchen nun wirklich gemeint? Sollen das tatsächlich seine letzten Konzerte überhaupt werden? Oder muss man ihm beim Wort nehmen, sind es nur die letzten in London? Wird er in zwei Jahren statt in London einfach in Exeter auftreten? Oder für die nächsten zehn Shows nach Berlin, New York oder Johannesburg bitten? Könnte er gar eine Tournee unternehmen, wenn die O2-Konzerte gelingen? Und was ist mit dem neuen Album? Einer langen Tradition folgend, hat es Michael Jackson erneut geschafft, bei einem öffentlichen Auftritt mehr Fragen aufzuwerfen als zu beantworten. Schon seine Erscheinung zum Beispiel. Für einen 50-jährigen, der vor Kurzem noch zu schwach war zum Gehen, machte er einen erstaunlich robusten und jugendlichen Eindruck. Die Stimme war auch nicht das, was man erwartet hätte. Richtiggehend kräftig war sie gewesen, vital. Nicht wiederzuerkennen gegenüber dem heliumleichten Flöten, mit welchem er einst die Fragen von Martin Bashir beantwortete! Bald erfinden die versammelten Medienvertreter ein Gerücht. „War er das wirklich, der Jackson?“, fragen sie hinter vorgehaltener Hand. „War das nicht ein Double?“

Danach redet man draußen mit den wahren Fans. „Unglaublich, auch wenn er nur ein paar Minuten dastand“, sagt ein junger Mann. „Wie immer, bei Michael.“ Ein anderer kann es kaum fassen: „Amazing. Amazing. Er ist echt zurück! Wir lieben ihn.“ „Wir warteten sechs Stunden“, strahlten zwei ebenfalls junge Damen. „Es war brillant. Nur schon, dass er wirklich dastand.“ „Ich bin ein Michael Jackson-Fan, seit ich geboren bin“, kommt es von einem nigerianischen MJ-Fan: „Allein schon ihn live vor mir zu sehen war amazing.“ Es ist erstaunlich. Zwei Minuten auf der Bühne, kommen sich die Fans da nicht veräppelt vor? Nein, ist die simple Antwort. Immerhin ein Mann, ein Jamaikaner, gibt zu, nicht der allergrößte Jackson-Fan zu sein. Trotzdem ist er happy: „Michael ist einfach ein phänomenaler Künstler. Der Künstler einer Generation. Ein Künstler, den, würde ich sagen, jedermann einmal im Leben live erleben will.“ Eintausend Pfund – den Betrag sind die meisten Befragten bereit für ein Ticket auszugeben.

Einige Tage später folgt die Nachricht, dass Jackson der Ticket-Nachfrage entsprechend vierzig weitere O2-Konzerte bestreiten wolle. Wenn alles gut geht, wird sich die Serie bis in den Februar 2010 hineinziehen. Insgesamt fünfzig Shows in einer Halle, die 17 000 Zuschauer fasst. Beim ersten Ansturm gingen stündlich 39 474 Tickets weg. Die Konzerte waren in Rekordfrist ausverkauft. Damit stellt Jackson seinen alten Rivalen Prince in den Schatten, der vor zwei Jahren mit vergleichsweise mickrigen einundzwanzig O2-Shows eine Karriere-Renaissance einleitete. Jackson habe sich einer Reihe von Fitness- und Gesundheitstests unterziehen müssen, ehe der Veranstalter sich auf die Konzerte einlassen wollte.. Die Versicherungssumme für den Fall einer Absage der fünfzig Konzerte soll sich auf 300 Millionen Pfund belaufen. Wen verwundert es da, wenn Gerüchte aufkommen?


The Jackson 5 nach einem TV-Auftritt bei American Bandstand. Michael Jackson (mitte), mit seinen Brüdern (v.l.n.r.) Marlon, Jackie, Randy und Tito.

© PA/picturedesk.com

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