Читать книгу Black or White - Hanspeter Künzler - Страница 8

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Drei Stunden täglich dauerten die Proben der Jackson Brothers unter der Ägide Josephs. Zum Spielen im herkömmlichen, kindlichen Sinn blieb wenig Zeit. Wenn Joseph auf dem Heimweg von der Arbeit um die Ecke kurvte, ließen seine Söhne alles stehen und fallen. Wenn sie nicht bereit standen, sobald Joseph mit der Probe loslegen wollte, drohte „Trouble“. Michael, so sind sich alle Beteiligten einig, legte am meisten Enthusiasmus an den Tag. Dazu verfügte er über eine frappierende Fähigkeit, Gesten, Tanzschritte und gesangliche Tricks im Nu nachzuahmen. „Wenn es mir gelang, Jermaine nachzumachen, erntete ich ermunterndes Gelächter, wenn ich zu singen anfing, dann hörte man mir zu.“, schreibt Michael. Das Repertoire der Gruppe bestand aus Rhythm & Blues- und Soul-Hits, die sich zumeist um die üblichen, weltlich-fleischlichen Themen drehten. Der Knirps verstand die wenigsten Texte, aber sein Imitationstalent erlaubte es ihm zu lernen, wie er diese selbst mit seiner Babystimme einigermaßen glaubwürdig interpretieren konnte. Oder wenigstens so, dass sie trotz der unfreiwilligen Komik in der Situation, dass ein Kind Lieder mit der Thematik von Erwachsenen sang, nicht einfach nur ulkig wirkten. Die Nachbarjugend zeigte wenig Respekt vor den Ambitionen der Jacksons: Manchmal wenn sie zu üben anfingen, flogen Steine auf den Bungalow. Joseph Jackson investierte jeden Cent in die Zukunft seiner Söhne (und damit der Verwirklichung seiner eigenen Träume). Katherine wehrte sich dagegen. Während sie sich die größte Mühe gab, aus Zutaten wie „Chitterlings“ (geschmorte Innereien vom Schwein, ein traditionelles Gericht aus der „Soul Food“-Cuisine, der afro-amerikanischen Kochkultur), Kohl und dergleichen ungeliebtem Billigstgemüse einigermaßen schmackhafte Mahlzeiten auf den Tisch zu zaubern, kam Joseph laufend mit neuen Instrumenten und Mikrofonen heim. Er kümmerte sich nicht um ihre Einwände: „Ich war das Haupt der Familie. Ich hatte das letzte Wort. Ich habe Katherines Meinung in der Sache schlicht übergangen.“ Sein Weitblick – nicht zu reden von seiner Investition – zeigte Früchte. Zum Beispiel hatte er Mikrofone vor seine Söhne hingestellt, lange bevor sie diese wirklich gebraucht hätten. Als sie nun anfingen, sich an Talentwettbewerben zu beteiligen, zeigte sich, dass er ihnen damit zu einem unbezahlbaren Vorteil verholfen hatte. Die wenigsten Konkurrenten waren an den Umgang mit dem Mikrofon gewöhnt. Die Jacksons hingegen wussten nicht nur, wie man es am besten in der Hand hielt, sondern sie konnten es noch showgerecht durch die Luft schwingen. Vater Jackson verfügte zudem über ein für seine Generation ungewöhnlich offenes Ohr. Wenn Smokey Robinson und seine Miracles „Tracks of My Tears“ sangen, lauschte er mit genauso viel Aufmerksamkeit wie seine Söhne. „Obwohl er mit seiner Band den Chicago-Sound von Muddy Waters und Howlin’ Wolf pflegte“, erinnert sich Michael, „erkannte er, dass die beschwingteren, gradlinigeren Sounds, die uns Kids gefielen, durchaus ihren Reiz hatten. Wir hatten Glück, denn es gab Leute in seinem Alter, die nicht so hip waren. Wir kannten einige Musiker, die der Überzeugung waren, der Sixties-Sound sei unter der Würde von Männern in ihrem Alter. Dazu gehörte unser Vater nicht.“ Am Wochenende unternahm Joseph regelmäßig musikalische Entdeckungsreisen in die Clubs von Gary und Chicago. Am Sonntag konnte er es kaum erwarten, dass Michael vom Gottesdienst heimkam, um ihm von seinen neuesten Entdeckungen vorzuschwärmen. „Von der Kirche direkt ins Showbusiness, das war mein Sonntag“, hat Michael lakonisch festgestellt.

Im Frühjahr 1965 traten die Jackson Brothers erstmals in der Öffentlichkeit auf. Während einer Modenschau für Kinder trugen sie drei Lieder vor, darunter „Doin’ the Jerk“, ein brandneuer Hit von Don Julian & The Larks. Der Organisatorin der Modenschau passte keiner der beiden von Joseph vorgeschlagenen Namen, The Jackson Family und The Jackson Brothers. Sie meinte, diese würden einen falschen Eindruck verbreiten, nämlich den, dass man es mit einer altmodischen Barbershop-Truppe wie den Mills Brothers zu tun habe (eine tatsächlich aus vier Brüdern bestehende Gesangsgruppe, die von den Roaring Twenties an bis in die 80er Jahre hinein höchst erfolgreich swingende Gesänge im Stil des Golden Gate Quartett servierte). Ihrem Rat folgend hießen die Jacksons fortan The Jackson 5. Wenig später gewannen sie mit einer Version des Tempations-Hits „My Girl“, bei der Jermaine und Michael sich beim Singen der Verse ablösten, den stadtweiten Talentwettbewerb an der Roosevelt High School. Nochmal zwei Monate vergingen, ehe man mit dem Robert Parker-Song „Barefootin’“ auch beim jährlichen Talentfestival im Gilroy Open-Air-Stadion von Gary triumphierte. Den Sieg sicherte nicht zuletzt die furiose und natürlich barfüßige Tanzeinlage von Michaels während des Gitarrensolos. Von da an fuhren die Jacksons in ihrem VW-Bus zu so vielen Talentwettbewerben, wie es nur ging. So konnten sie an einem Wochenende gut ein paar hundert Kilometer zurücklegen. Die Shows erforderten totale Konzentration, besonders dann, wenn man in einer fremden Stadt auftrat, wo Lokalbands auf die lautstarke Unterstützung der mitgebrachten Fans zählen konnten. Um eine Siegeschance zu haben, musste man um so viele Klassen besser sein als sie, dass selbst deren Fans nicht abstreiten konnten, dass der Sieg den Eindringlingen von auswärts gehörte. Darum war Joseph Jackson peinlichst darauf bedacht, dass jedes Detail stimmte. Er steckte die Söhne in einheitliche Anzüge, bei denen von der Schuhspitze bis zum zehntelmillimetergenauen Haarschnitt alles bei den Meistern des Faches abgeschaut wurde. Wenn sich einer der Brüder nur einen Moment lang nicht voll konzentrierte, konnte der Fehler den Auftritt ruinieren und Joseph, der für die verschwendete Chance das Geld aus dem Fenster geworfen hatte, zur gewalttätigen Weißglut treiben. Zum Glück kam das selten vor, denn die Boys legten sich mit einer Intensität ins Zeug, dass sie nach zwei Songs genau so ausgebrannt waren wie in späteren Jahren nach einer neunzig Minuten dauernden Show. Die Talentshows waren die Berufslehre der Jackson 5. Joseph habe zwar ein schrecklicher Mensch sein können, sagt Michael, aber er sei auch ein brillanter Manager und Lehrer gewesen. Inzwischen arbeitete dieser nur noch tageweise im Stahlwerk. Die meiste Zeit verbrachte er als Manager der Jackson 5 am Telefon. In dieser Zeit seien die Jacksons als Familie am glücklichsten, sei der Zusammenhalt am stärksten gewesen: „Als es nur uns und unser Talent gab.“ Nahe beisammen, das war auch wörtlich zu verstehen. Katherine und Joseph belegten im Bungalow das Schlafzimmer. Die Boys teilten sich das Kinderzimmer und schliefen in einem dreistöckigen Kajütenbett: Tito und Jermaine zuoberst, Michael und Marlon in der Mitte und Jackie zu unterst. Die drei Mädchen hatten ein Sofabett im Wohnzimmer für sich, Randy bekam dann noch die Couch.

Im Gegensatz zu vielen anderen Soul- und Funkgruppen führte der Pfad der Jacksons nicht über die Kirche zum Erfolg. Ganz im Gegenteil. Nach den Talentshows war die nächste Stufe auf dem Jacksons’schen Karrieretreppchen ein Engagement bei Mr Lucky’s, einem Nachtclub in Gary. Der Legende nach war die Gruppe dort bald so populär, dass sie jeden Abend fünf Sets spielte, sechs Mal in der Woche. Die Gage betrug 8 Dollar pro Abend, dazu kamen die Münzen und Banknoten, welche die Gäste einer alten Nachtklub-Tradition folgend auf die Bühne warfen. Manchmal waren Michaels Taschen so voll, dass er vor lauter Gewicht fast die Hosen verloren hätte. Bonbons und andere Süßigkeiten standen zuoberst auf seiner Einkaufsliste. Falls es Joseph gelang, für den arbeitsfreien Abend eine weitere Verpflichtung zu finden, wurde diese selbstverständlich auch wahrgenommen. Unterdessen hatte die Jackson 5 mit dem Schlagzeuger Johnny Porter Jackson (ein Nachbarjunge, der mit Michael & Co. nicht verwandt war) und dem Keyboarder Ronny Rancifer zwei ständige neue Mitglieder gewonnen, welche ihren Sound merklich druckvoller und vielseitiger machten. Im Herbst 1966 war Joseph überzeugt, dass seine Truppe reif sei für die ersten Plattenaufnahmen. Er schickte ein Demo-Tape gleich an die allererste Adresse für schwarzen Pop – Motown Records in Detroit, das selbsternannte „Hitsville USA“. Drei Monate später kamen die Aufnahmen zurück. Motown-Gründer Berry Gordy zeigte kein Interesse. Der Rückschlag war nicht allzu schwer verdaulich, konnten sich die Jacksons doch über Arbeit nicht beklagen. Unterdessen fanden sie in mehreren namhaften Nachtclubs in Chicago Anstellung. Außerdem operierten sie im sogenannten Chitlin’ Circuit. „Chitlin’“ ist die Kurzform der bereits erwähnten Chitterlings. Zum „Chitlin’ Circuit“ gehörte eine Reihe von Clubs und Theatern im Osten und im Süden der USA (darunter das berühmte Apollo Theatre in Harlem, New York, The Victory Grill in Austin, Texas, und The Regal Theatre in Chicago), wo schwarze Künstler und auch ein schwarzes Publikum willkommen waren, was noch in den frühen Sixties besonders in den Südstaaten keineswegs eine Selbstverständlichkeit war. Solche Lokale fassten bis zu zweitausend Zuschauer. Die Chitlin’-Circuit-Shows hatten den großen Vorteil, dass an einem Abend jeweils eine ganze Reihe von Künstlern auftrat, darunter manchmal auch ein großer Name. Drei Mal hintereinander gewannen die Jackson 5 den wöchentlichen Talentwettbewerb im Regal Theatre von Chicago. Die Belohnung für eine solche Leistung bestand darin, im Vorprogramm eines namhaften Stars gegen entsprechende Bezahlung aufzutreten. Die Jackson 5 zogen das große Los mit den seit Kurzem bei Motown unter Vertrag stehenden Gladys Knight and the Pips, die an jenem Abend einen neuen Song ausprobierten, „I Heard it Through the Grapevine“ (im Herbst 1967 erreichte der Titel Rang zwei in den Billboard-Pop-Charts). Nun reiste Joseph Jackson nach New York, um James Brown und Sam & Dave dazu zu bewegen, seine Schützlinge in ihrem Vorprogramm auftreten zu lassen. Beide lehnten die Ehre ab, aber Dave Prater (der Dave von Sam) sorgte dafür, dass die Jackson 5 im Mekka des Soul, dem New Yorker Apollo Theatre, auftreten durften, und zwar beim prestigereichsten Talentwettbewerb überhaupt, dem Superdogs Contest. Das Publikum in Harlem war bekannt für seine kurze Lunte. Wenn ein „Act“ nicht zündete, wurde er ohne falsches Mitleid sehr bald ausgebuht und von der Bühne gejagt. Die Jackson 5 hatten keine solchen Probleme. Am 13. August trugen sie auch hier die Siegestrophäe davon.

In den folgenden Monaten kletterten die Jackson 5 in der Hierarchie der Support-Acts rasch höher. Die Stars, in deren Vorprogramm sie auftreten durften, leuchteten von Tag zu Tag heller. Während die restlichen Jacksons nach ihren Auftritten das aufregende Leben hinter der Bühne genossen, verbrachte Michael jede freie Minute damit, diese Stars bei der Arbeit zu beobachten. Wenn ihm ein Tanzschritt oder eine Pose Eindruck auf ihn machte, ließ er nicht nach, bis er diese selber perfekt einstudiert hatte. Zu den Vorbildern, die er auf diese Weise aus nächster Nähe miterlebte, gehörten die Temptations, The O’Jays und Sam & Dave. Das Gesangsquintett The Temptations kam aus Detroit und war 1961 von Eddie Kendricks und Paul Williams formiert worden. Es stand bei Motown Records unter Vertrag und war jahrelang die erfolgreichste schwarze Gesangsgruppe überhaupt. Mit Wurzeln im Doo-Wop wandelten die „Temps“ ihren Stil immer wieder, um mit der Zeit zu gehen. Der Erfolg gründete einerseits in den Liedern, die der junge Smokey Robinson im Büro von Motown für sie schrieb, andererseits im Kontrast zwischen dem fragilen Tenor von Eddie Kendricks und dem virilen Bariton von David Ruffin. Die Gesangsgruppe The O’Jays stammten aus Canton, Ohio, kam ebenfalls von Gospel und Doo-Wop her und war bekannt für ihre herzensbrecherischen Bühnenauftritte. Ihr Erfolg beschränkte sich auf die R&B-Charts (damals das musikalische Ghetto für jegliche schwarze Musik), ehe sie viel später, 1972, mit „Back Stabbers“ zum Pop-Erfolg fanden. Sam David Moore kam aus Miami, David Prater aus Ocilla, Georgia. Beide lernten ihr Gesangsmetier in der Kirche und waren beim trendsettenden Label Stax Records in Memphis unter Vertrag, wo Isaac Hayes zum Stab der Songschreiber gehörte. Zusammen mit David Porter schrieb ihnen dieser das (lebens-) stildefinierende „Soul Man“ auf den Leib, mit dem sie 1967 die Top 3 der R&B- und der Pop-Charts erreichten. Am meisten habe er von Jackie Wilson gelernt, sagt Michael Jackson. Wilson – wie Joe Jackson ein Ex-Boxer – fiel durch seinen dramatischen und emotionsschwangeren Gesang- und Show-Stil auf. Sein Gesangsstil war vom Rhythm & Blues geprägt und von Little Richard, aber auch von Frank Sinatra und Sammy Davis Junior. Er trug schichtweise Make-up auf und perfektionierte die Kunst, sich mitten im Song auf ein Knie sinken zu lassen, um durch diese Geste der „Aufrichtigkeit“ seiner Worte erst recht Nachdruck zu verleihen. Während seine Platten zwischen abgeschmackt und sublim pendelten, konnte er live den plumpsten Gimmick-Song zum Erlebnis erheben. James Brown persönlich brachte Michael Jackson eines Abends in der Garderobe bei, wie man ein Mikrofon loslassen und wieder auffangen konnte, ehe es auf den Boden krachte. James Brown hatte diverse Spitznamen: „The Hardest Working Man in Show-Business“, „The Minister of the New New Super Heavy Funk“ – und natürlich „The Godfather of Soul“. Geboren 1928 in Barnwell, South Carolina, war er älter als viele andere Soul-Stars der Sixties. Dank der Bemühungen des Bandleaders Bobby Byrd (der Brown über Jahrzehnte hinweg zur Seite stehen sollte) wurde er in den mittleren 40er Jahren aus der Reformschule entlassen, wo er wegen Diebstahls gelandet war. Er trat den Gospel Starlighters bei, die sich zur R&B-Combo The Flames wandelten und dann und wann die vorderen Positionen in den R&B-Charts erreichten. Erst 1960 war die Band aber richtig etabliert, 1962 kam das wichtige Album „Live at the Apollo“, das Brown selber finanzieren musste, weil niemand daran glaubte, dass sich ein Live-Album verkaufen lassen würde. Jetzt warf Brown die letzten Fesseln ab, die ihn mit der konventionellen schwarzen Pop-Musik verbanden. Seine Rhythmen wurden vertrackter, sein Gesang noch emotionsgeladener, die mit militärischer Präzision einstudierten Bläsersätze verbreiteten nichtsdestotrotz ein Gefühl von cooler, jazziger Anarchie. Im Juni 1965 veröffentlichte er die bahnbrechende Single „Papa’s Got A Brand New Bag“ (auf der B-Seite fand sich schlicht die Fortsetzung der A-Seite!), die gemeinhin als die Geburtsstunde des Funk gilt.

Die Tatsache, dass Michael den wahren Sinn der Texte, die er sang, nicht verstand – und dies auch wahrnahm –, beeinflusste seine Karriere nachhaltig. Weil er sich bei seiner Lied-Interpretation nicht an die ihm rätselhaften Worte halten konnte, klammerte er sich umso stärker an die Ausdrucksmöglichkeiten von Tanz und Bühnenpräsentation. Deswegen war für ihn das Vorbild von James Brown besonders wichtig. Dessen klingenscharfe Tanzeinlagen waren kaum weniger atemberaubend und flexibel als sein Gesang. „Bis dahin hatte es sehr wohl Sänger gegeben, die auch tanzen konnten, und Tänzer, die auch sangen“, schreibt Michael. „Aber wenn man nicht Fred Astaire oder Gene Kelly war, konnte man das eine besser als das andere, besonders bei einem Live-Auftritt. Mit James Brown änderte sich das. Wenn er über die Bühne schlitterte, kam ihm kein Spotlight nach. Die ganze Bühne musste mit Scheinwerferlicht getränkt werden, damit man nichts verpasste. So gut wollte auch ich sein.“ Damit machte der kleine Jackson aus der Not – er verstand die Worte nicht, die er sang – ein Credo. Was zählte, war nicht der eigentliche Inhalt der Worte, die es zu singen galt, sondern die Wirkung dieser Worte sozusagen als klangliches Tanzelement im Rahmen der Gesamtshow. Künstler wie Bruce Springsteen und U2, so heißt es in „Moonwalk“ weiter, hätten ihr Metier „wohl auf der Straße“ gelernt (sprich: es gehe solchen Künstlern darum, die Gefühle des Alltages zu reflektieren). Der Ton der Passage deutet an, dass Jackson eine solche Perspektive nicht nur fremd war, sondern geradezu unverständlich. Er, Michael Jackson, sei im Herzen ein Performer – er habe seine Bildung am Bühnenrand genossen. Darin bestand für ihn die wahre Lehre der Bühnenkunst. Oft spricht er von seiner Idealvorstellung einer Show. In seinen Augen soll eine Show den Zuschauer so unwiderstehlich mit sich reißen, dass dieser in eine magische Überwelt transportiert wird, wo alle Sorgen von ihm abfallen, um ihn in eine Zustand unverbrämter Ekstase zu versetzen. Ein bisschen wie in der post-armageddonhaften Weltordnung der Zeugen Jehovas. Oder in einer Geschichte wie Peter Pan.

Andere Bands verbreiteten alsbald das Gerücht, beim Sänger der Jackson 5 handle es sich um einen 42-jährigen Zwerg. Als dies zum ersten Mal an sein Ohr drang, brach Michael in Tränen aus. Sein Vater sei vor ihm auf die Knie gefallen, damit ihre Gesichter auf gleicher Höhe gewesen seien, und habe ihm erklärt, es sei dies doch ein großes, indirektes Kompliment! Es bedeute, dass die Leute nicht glauben könnten, ein neunjähriger Junge könne singen und tanzen wie er. Michael erzählt die Anekdote noch heute bei jeder Gelegenheit. Es ist eine der wenigen Erinnerungen, aus denen der Vater als ein Mensch mit Mitgefühl hervorgeht. Im Herbst 1967 brachte Joseph Jackson Demo-Aufnahmen von neuen Songs nach Hause, die ein gewisser Gordon Keith komponiert hatte. Dieser war wie Joseph in den Stahlwerken tätig, hatte sich aber ein kleines Studio eingerichtet und hegte Ambitionen, sich als Produzent und Songschreiber nach dem Vorbild von Berry Gordy zu etablieren. Er machte seine Absichten mit dem Namen deutlich, den er seinem Studio und seinem frisch aus der Taufe gehobenes Plattenlabel gab, „Steeltown“. Keith gab den Jackson 5 eine Woche Zeit, einige seiner Songs einzuüben. Die Resultate gefielen ihm. Daraufhin lud er die Band ein, ein paar Samstage lang in seinem Studio Aufnahmen zu machen. Er heuerte für die Sessions sogar Bläser und Begleitsängerinnen an. Die erste Jackson 5-Single hieß „Big Boy“ und erschien im Januar 1968 auf Steeltown Records. Gordon Keith schaffte es, mit der Plattenfirma Atco einen Vertrag für einen landesweiten Vertrieb abzuschließen. Die Aufnahme tat Michaels Stimme keinen Gefallen, aber ein knackiger Bass-Riff von Jermaine sorgte dafür, dass sich das Stück dennoch zum Lokalhit mauserte. Gordon Keith und seinem Geschäftspartner Ben Brown sei eine Foto-Session mit der Familientruppe in besonders guter Erinnerung geblieben, schreibt J. Randy Taraborrelli in seiner monumentalen Michael Jackson-Biographie. Nachdem sich die Boys den Anweisungen des Fotografen entsprechend hingestellt hätten, habe sich Michael plötzlich schmollend abgewendet. So gebe das höchstens ein Familien-Porträt und ganz bestimmt nicht eine glamouröse Publicity-Aufnahme ab. Joseph hielt seinen selbstbewussten Sohn dazu an, die Gruppe nach seinen eigenen Vorstellungen umzustellen. Dieser platzierte sich selber im Vordergrund, wo er eine lässige James Brown-Pose einnahm – und das war denn auch genau die Aufnahme, die es für einen appetitanregenden PR-Text brauchte. „Er war eine so reife Seele, dass es den Anschein machte, er sei schon in einem früheren Leben ein Superstar gewesen“, sagte Ben Brown, der in späteren Jahren für die Jackson-Familie arbeitete.

Im Mai 1968 durften The Jackson 5 ein weiteres Mal im Apollo auftreten – diesmal gegen Bezahlung. Etta James trat als Hauptattraktion auf, und wiederum stand Klein Michael hinter der Bühne und verfolgte jede Bewegung mit. Etta James ging das auf die Nerven und sie verscheuchte den Dreikäsehoch mit den großen Augen. Nach der Show klopfte Michael an ihre Tür, um sich zu entschuldigen. James sei vom Charme und dem abgeklärten Selbstbewusstsein des Buben derart angetan gewesen, dass sie ihn zu einer Privatlektion in Sachen Bühnenkunst in ihre Garderobe bat. Die Jackson 5 nahmen noch eine zweite Single für Steeltown Records auf, „We Don’t Have To Be Over 21 (To Fall in Love)“. Ob sie überhaupt zu diesem Zeitpunkt je erschienen ist, bleibt unklar – denn jetzt überstürzten sich die Geschehnisse. Im Juli wurden die Jackson 5 von Bobby Taylor & The Vancouvers eingeladen, im High Chaparral Club in Chicago ihr Vorprogramm zu bestreiten. Die Band war Taylor im Verlauf einer weiteren „Battle of the Groups“ im Regal Theater aufgefallen. Wie Gladys Knight waren auch die gemischtrassigen Kanadier bei Motown unter Vertrag. Taylor war von den Jacksons so beeindruckt, dass er Ralph Seltzer anrief, den Direktor der „kreativen Abteilung“ von Motown, und ihm dringlich empfahl, die Gruppe zu einer Vorspielprobe ins firmeneigene Studio in Detroit einzuladen. Seltzer war nicht auf Anhieb begeistert von der Idee. Schließlich klang das Konzept einer Familiengruppe mit einem neunjährigen Lead-Sänger doch sehr nach „Gimmick“. Außerdem konnte es gut sein, dass die Boys nach dem Stimmbruch nicht mehr zu gebrauchen waren, da wäre dann jede Aufbauarbeit verschwendete Liebesmühe gewesen. Aber er ließ sich von Taylor überreden. Daheim bei den Jacksons herrschte schon große Aufregung. Die Band war eingeladen worden, nach New York zu fahren, um in der TV-Show von David Frost aufzutreten. Alle waren sie sich einig, dass dies den Start zu einem großen Durchbruch darstellte. Als die Boys samt Aufgaben, die ihnen die Lehrer speziell für den Trip nach New York zusammengestellt hatten, aus der Schule heimkamen, wurden sie von Joseph kurz und trocken informiert, die Reise sei abgeblasen. Nach einer Kunstpause, während deren den Boys das Herz in die Hosen rutschte, fügte er hinzu: „Motown hat angerufen.“ Ein kalter Schauer sei ihm da den Rücken hinuntergefahren, schreibt Michael. Am 23. Juli 1968 erschienen die Jacksons zur Vorspielprobe bei Motown Records in Detroit.

(Fußnote: es ist nicht einfach, aus den diversen Beschreibungen der frühen Tage der Jacksons die richtige Variante auszusuchen. So könnte man aus „Moonwalk“ schließen, die Single „Big Boy“ sei vor dem dreifachen Talentshow-Triumph in Chicago und dem Auftritt mit Gladys Knight erschienen – aber es ist erwiesen, dass „Big Boy“ erst im Januar 1968 veröffentlicht wurde, während aber der „neue“ Gladys Knight-Song „I Heard it Through The Grapevine“ bereits im September 1967 in die Läden kam. Anderen Quellen zufolge fand das Superdogs Final im Apollo erst am 14. Februar 1968 statt. Wieder andere behaupten, Joseph sei mit den Boys ohne Einladung von Motown auf Geheiß von Bobby Taylor nach Detroit gefahren. Taylor soll darauf bestanden haben, dass Suzanne de Passe – eine Nachbarin, die vor wenigen Wochen eine Stelle bei Motown angetreten hatte – einer Accapella-Darbietung der Jacksons beiwohnte; daraufhin habe diese postwendend eine offizielle Vorspielprobe organisiert.)

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