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Die Naturphilosophen aus Milet

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„Alles ist aus dem Wasser entsprungen, alles wird durch das Wasser erhalten. Ozean gönn‘ uns dein ewiges Walten. Wenn du nicht Wolken sendetest, nicht reiche Bäche spendetest, die Ströme nicht vollendetest, was wären Gebirge, was Eb’nen und Welt? Du bist‘s, der das frischeste Leben erhält.“ – Faust II, Goethe

Lesch:

Am 28. Mai 585 v. Chr. begann die Philosophie mit einer Sonnenfinsternis. Eine Schlacht wurde sogar abgebrochen, weil die verfeindeten Herrschaften aus Lydien und Medien dachten, die Welt ginge unter. Das Ganze ist zurückzuführen auf einen Mann: Thales von Milet.

Milet liegt in Kleinasien, nicht weit von den Stränden entfernt, die heute die Touristen frequentieren. Manche schauen sich sogar die Ruinen von Milet und Ephesus an.

In Kleinasien, der heutigen Türkei, da hat die Philosophie ihr erstes Zentrum gehabt. Ich meine die europäische Philosophie. Man glaubt es kaum, wenn man heute über den Beitritt der Türkei in die Europäische Union nachdenkt. Aber die ersten europäischen Philosophen waren auf der Seite der heutigen Türken.

Vossenkuhl:

Du hast gerade einführend festgestellt, dass die Philosophie 585 begonnen hat. Das ist natürlich ein schönes Datum, eine gute Idee und auch ein guter Einstieg zu Thales. Der hat diese Sonnenfinsternis, die die Schlacht beendete, tatsächlich vorhergesagt.

Lesch:

Hat er sie wirklich berechnet?

Vossenkuhl:

Das wissen wir nicht so genau. Aber ich schätze, Du hast da so Deine Vermutung, wie er zu seinen Kenntnissen kam.

Lesch:

Ja. Es gibt Leute, die meinen, dass Thales wie viele andere in Kleinasien ihr Know-how aus Babylon hatten, also der Stadt im heutigen Irak. Die Herrschaften in Babylon waren so gute Astronomen, dass sie wussten, dass es alle 18 Jahre und ein paar Monate immer mal wieder eine Sonnenfinsternis gibt. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Thales gesagt hat: Also Freunde, im Mai, an dem und dem Tag, da wird’s zappenduster. Er hat wohl eher gesagt: Ungefähr um diese Zeit herum wird es zu einer Sonnenfinsternis kommen.

Was ich erstaunlich an dem Thales finde, dass er so ein wichtiges Ereignis wie eine Sonnenfinsternis versucht hat naturwissenschaftlich zu erklären. Er hat nicht gesagt: Die Götter zürnen uns oder so etwas. Die wurden in dieser Zeit gerne für alles Mögliche verantwortlich gemacht.

Vossenkuhl:

Das war ein ganz praktischer Mann, der Thales.

Lesch:

Er soll Politiker gewesen sein.

Außerdem Ingenieur, Philosoph und Mathematiker. Habe ich noch was vergessen?

Vossenkuhl:

Er war Nautiker. Er war auf der Nautikerschule. Er hat am Fluss Hyla einen Kanal gebaut. Genau da, wo auch die besagte Schlacht statt fand.

Sein Geburtdatum wird so um 625 - 628 v. Chr gelegen sein. Und er wurde sehr alt. Ganze 78 Jahre.

Lesch:

Ich habe gelesen, lieber Willi, dass Philosophen, Astronomen und Friseure sehr alt werden. Offenbar scheint Philosophie etwas zu sein, das lebenserhaltend ist. Astronomie auch. Das kann ich nur bestätigen. Friseur scheint auch ein sehr interessanter Beruf zu sein.

Vossenkuhl:

Wie meinst Du das?

Lesch:

Tja, es muss offenbar stressfrei sein und man erfährt viel von den Menschen. Das scheint die Lebensdauer zu verlängern.

Vossenkuhl:

Zurück zu Thales. Du hast mit gutem Grund gesagt, dass er der erste Philosoph in unserem modernen Sinn war. Davor gab’s – wahrscheinlich – nur Dichter wie Homer, deren Mythen und natürlich die Priester.

Lesch:

Es gibt solche Sätze wie: Wer philosophiert, denkt griechisch.

Mit dem Thales haben wir einen, der in der Handelsstadt Milet den Anfangspunkt gesetzt hat. Er war einer dieser allerersten Denker, die versucht haben, irgendetwas über die Welt zu erfahren, ohne gleich wieder die Götter zu Hilfe zu nehmen. Kann man das als den Beginn der Philosophie bezeichnen oder gibt es da noch etwas?

Vossenkuhl:

Das ist bestimmt ein Markstein. Geht es dabei doch um die von Menschen selber gegebene Erklärung. Die Suche nach den Gründen, also nach den Archae, den Ursprüngen, den Prinzipien.

Diese Suche nach den Prinzipien, nach den Urgründen, das ist wohl der Beginn der Philosophie. So wurde sie aber noch nicht genannt. Ich glaube, dass erst die Pythagoräer darauf gekommen sind, sie so zu nennen. Pythagoras wäre der erste „Philosophos“.

Lesch:

Ah ja. Der Erste …

Vossenkuhl:

… der so genannt wurde.

Lesch:

Der erste Freund der Weisheit.

Vossenkuhl:

Ja. Ich glaube, dass dies das Entscheidende ist. Diese Fragen des Menschen: Was ist das erste Prinzip, was ist die Grundursache dessen, was ist, und wie erklärt man sich das?

Lesch:

Eine Frage, auf die ich bisher keine Antwort gefunden habe.

Warum Milet? Ich meine, Athen wäre doch naheliegender gewesen. Da gab es viele Menschen, die Zeit hatten, über die Dinge nachzudenken, und die sich nicht unmittelbar um ihre Existenz kümmern mussten. Warum so eine Handelsstadt wie Milet? Warum nicht Athen oder irgendein anderer Platz auf der Welt?

Vossenkuhl:

Dafür habe ich auch keine zuverlässige Antwort. Aber sicher ist, dass Kleinasien eine Art „melting pot“ der Kulturen war, also ein Schmelztiegel.

Lesch:

Multikulti.

Vossenkuhl:

Genau. Da gab es die Phönizier. Wir werden ja gleich noch über einen Mann reden, der Thales kannte und so an die 15 Jahre jünger war. Er hieß Anaximander. Seine Mutter soll Phönizierin gewesen sein. Dann lebten hier natürlich die Ionier und Lydier. Die Leute kamen aus allen Ecken zusammen. Die brachten alle ihre Kulturen mit. Ich glaube, dass das ein interessantes, vielleicht auch ein bisschen aufgeheiztes, kulturelles Klima war, in dem kritische Gedanken über das was ist, und warum das so ist, einen guten Nährboden fanden.

Lesch:

Also könnte man durchaus sagen, dass Philosophie in dem Sinne, wie wir sie heute verstehen, dadurch entstanden ist, dass sehr viele Ideen in einer Stadt umgerührt und neu zusammengesetzt wurden. Man ist nicht nur einer Idee hinterher gerannt. Gewisse Dogmen wurden so auch über den Haufen geworfen.

Vossenkuhl:

Ja. Wenn man sich das so im Nachhinein vorstellt. Das ist ja nun auch schon lange her.

Lesch:

Stimmt.

Vossenkuhl:

6. Jahrhundert vor der Zeitenwende.

Lesch:

Mehr als zweieinhalbtausend Jahre.

Vossenkuhl:

Wir können uns die Mentalität der Menschen nicht mehr so ganz genau vorstellen. Es ist auch nicht gesichert, ob der Thales bei den Milesiern so bekannt war wie jetzt für uns. Aber wahrscheinlich war er doch eine öffentliche Persönlichkeit. Und die Tatsache, dass er wahrgenommen wurde - er hat ja nichts Schriftliches hinterlassen, wir haben keine direkten Zeugnisse von ihm - das zeigt doch schon, dass er einen gewissen Respekt auch als Philosoph genoss. Obwohl damals die Philosophen so quasi mit einem lächelnden und einem weinenden Auge betrachtet wurden.

Lesch:

Komm, nun erzähl´ die Geschichte mit der Magd. Erzähl sie.

Vossenkuhl:

Eigentlich erzählt hat’s der Platon in seinem Dialog „Theätet“. Der zeigt die zwei Seiten des philosophischen Lebens. Er erzählt also, dass eine Magd gesehen hat, wie Thales beim Nachdenken über die ersten Gründe, die „Archae“, dessen was ist, in eine Grube gefallen ist. Sie hat schallend gelacht, und gemeint: Da denkt er nun über den Himmel und über die Unendlichkeit nach und fällt einfach in eine blöde Grube. Sie hat ihn also ausgelacht.

Lesch:

So ist er wohl auch nicht auf seinen Urgrund gekommen, dass nämlich das Wasser der Urgrund aller Dinge ist. Er ist ja nicht in einen Brunnen gefallen.

Vossenkuhl:

Jedenfalls ist das nicht so überliefert. Es ist wohl nur eine profane Grube gewesen.

Lesch:

Ich habe auch noch eine Geschichte zu Thales auf Lager. Man hatte ihm ja vorgeworfen, dass die Philosophie zu nichts nütze sei. Er hatte aber aus astronomischen Informationen - weiß der Zeus wie er das gemacht hat - die Erkenntnis, dass die Olivenernte im nächsten Jahr sehr gut werden würde. Daraufhin hat er offenbar alle Olivenpressen, deren er habhaft werden konnte, zusammengekauft. Die Bauern mussten, als die Oliven geerntet waren, dann bei ihm die Olivenpressen kaufen. Das hat ihn zum reichen Mann gemacht. Er wollte damit eigentlich nur zeigen: Freunde, wenn ich will, kann auch ich Geld verdienen. Merke also: Ein Philosoph kann Geld verdienen, wenn er will. Aber er will nicht.

Vossenkuhl:

Ich bin sicher, dass er auch anderweitig gut Geld verdient hat. Jemand, der Kanäle baut, wird Geld verdient haben. Ich glaube schon, dass der nicht am Hungertuch nagte.

Zurück zum Feuchten, dem Wasser, und dem Prinzip, das den geschäftstüchtigen Thales so bekannt gemacht hat.

Lesch:

Das war ja nur der Beginn einer Sucherei, einer Definiererei von verschiedenen Elementen. Der eine hat das Wasser genommen. Wir werden nachher noch einen treffen, der sich für die Luft entschieden hat und dann noch einige andere. Es gibt ja ganz unterschiedliche Elemente. Der Thales hat nun einmal in einer Hafenstadt gewohnt.

Kann er deswegen das Meer oder das Wasser für etwas Substantielles gehalten haben, oder ist da mehr dahinter gewesen?

Vossenkuhl:

Der erste Gedanke spricht dafür. Er meinte aber auch, dass die Erde, auf der die Menschen leben, auf Wasser schwimmt, so wie ein Stück Holz. Er war der Meinung, dass die Erde ursprünglich nur aus Wasser bestand. Dann ist ein Großteil des Wassers verdunstet.

Der Rest hat sich in den Ozeanen gesammelt. Weiter – wie Du sicher weißt – hat er auch über die Herkunft des Lebens aus dem Wasser nachgedacht. Was mir völlig einleuchtet, weil ich selber gerne Fisch esse.

Lesch:

Du kommst aus dem Wasser und deswegen …

Vossenkuhl:

Ganz richtig. Meine Vorfahren müssen Raubfische gewesen sein.

Lesch:

Ein schlagender Beweis! Meine Vorfahren waren dann wohl Stockfische. Ich bin immer so verstockt.

Vossenkuhl:

Wirklich? Aber nur zuhause.

Lesch:

Der Thales hätte ja damit so etwas wie eine Evolutionstheorie aufgestellt?

Vossenkuhl:

Ja, so eine Art Deszendenz-Theorie, eine Abstammungslehre. Wir Menschen, meinte er, seien aus etwas Primitiverem entstanden, eben aus dem Feuchten, dem Wasser.

Lesch:

Das ist schon enorm. Das ist ja deutlich gegen den, sagen wir mal Trend von Religion, die dazu neigt, alles als ewig und unveränderlich hinzustellen. Jetzt sieht da einer Entwicklungsprozesse, die sich zu einem Weltbild formen. Das ist ja schon erstaunlich.

Vossenkuhl:

In der Zeit damals überhaupt solche Hypothesen aufzustellen! Einfach mal zu fragen: Wo kommen wir eigentlich her? Schon allein auf die Ideen zu kommen, dass nicht alle Menschen vor uns so wie wir ausgesehen haben könnten. Sondern dass es da eine Art Entwicklung vom Einfacheren zum Komplizierteren gegeben haben könnte. Das ist schon eine enorme spekulative Leistung.

Lesch:

Für mich als Astrophysiker ist das naheliegend. Der Wasserstoff hat ja einen Ruf wie Donnerhall bei uns im Weltall. Er ist das häufigste Element. Er ist das erste Element, das überhaupt im Universum entstanden ist und er ist natürlich auch Teil des Wassers – Wasserstoff eben. Und wenn man die Frage stellt, wie kann denn Leben im Universum entstehen, würde man heute sofort sagen: Ohne Wasser geht erst mal gar nichts.

Leben ist keine trockene Angelegenheit, sondern es ist fundamental vom Wasser abhängig. Also kann man sich einen weiten Bogen von Thales bis zur Suche nach außerirdischem Leben gönnen. Denn nach was suchen wir auf dem Mars? Wir suchen nach Wasser.

Vossenkuhl:

H2O. Ohne diesen Lebenssaft geht gar nichts.

Lesch:

Wenn wir irgendwo da draußen flüssiges Wasser finden würden, dann wären das zumindest sechs Richtige im Lotto. Flüssiges Wasser ist nun mal das entscheidene Lösungsmittel für die Transformation der toten Materie zur lebendigen Materie, der Urgrund. Ohne Wasser läuft gar nichts. Also, da muss ich schon sagen, Thales, Hut ab, Hut ab!

Vossenkuhl:

Unser Mann aus Milet war ein richtig dicker Fisch, um mal im nassen Element zu bleiben.

Lesch:

Nun haben wir ja mit dem Thales nur einen der Ingenieure, oder besser der Philosophie-Ingenieure von Milet.

Vossenkuhl:

Der praktischen Philosophen. Dazu zählte auch Anaximander. 15 Jahre jünger als Thales. 6. Jahrhundert.

Lesch:

Anaximander. Der hat ja nun was in die Welt gebracht! Als ich das zum allerersten Mal gelesen habe, dachte ich: Boah, der Mann hatte ja einen unglaublichen Durchblick!

Vossenkuhl:

Da warst du platt.

Lesch:

Wie eine Flunder. Der hatte sich überlegt, das mit dem Wasser von Thales mag ja ganz nett sein. Dass sich aus dem Wasser alles entwickelt. Durch Verdichtung von H2O wird was Festes, durch Verdünnung entsteht die Luft.

Anaximander hat sich aber gefragt: Was steht denn hinter diesem Werden und sich Verändern. Da muss was sein, was schon immer da war und unbegrenzt ist, unendlich.

Der war der Allererste, der das Unendliche gedacht hat. Du weißt, unendlich wird vor allen Dingen gegen Ende hin sehr groß.

Vossenkuhl:

Ewigkeit ist eine sehr lange Zeit, vor allem gegen Ende zu, sagte Woody Allen.

Lesch:

Genau.

Und da hat sich Anaximander dieses Apeiron ausgedacht?

Vossenkuhl:

Das „nicht Bestimmte“.

Lesch:

Wie kommt man auf so eine Idee?

Vossenkuhl:

Vielleicht wenn man sich überlegt: Wie kann man eigentlich die unabsehbare Vielfalt, die unendliche Vielfalt dessen, was man sehen, hören, riechen kann, wie kann man das prinzipiell erklären? Auf welches Grundprinzip kann man das zurückführen?

Dann ist es keine schlechte Idee, sich all diese Einzelheiten weg zu denken und zu überlegen: Was ist eigentlich der gemeinsame Nenner? Dann kann man sagen: Es ist potentiell so. Aristoteles hat einige Zeit später zwischen Akt und Potenz, zwischen Sein und Möglichsein unterschieden.

Aber immerhin hat Anaximander gemeint, dass das Unbestimmtsein, das unendliche Unbestimmtsein eigentlich die Quelle und der Ursprung von allem Bestimmtsein sein muss. Denn das Bestimmtsein ist selber unendlich viel. Also muss es ja irgendwoher kommen. Es muss wohl so eine Art von Ursprung dieser Bestimmbarkeit gegeben haben.

Lesch:

Wenn Du mal irgendein Geschichtsbuch aufschlägst, und nimmst irgendeine der Kulturen vor den Griechen. Die haben sich alle vor dieser Unendlichkeit geschützt, indem sie sagten: Da gibt es Kreisläufe, da gibt es die Götter und die sind Endstation für das Bild von der Welt.

Jetzt kommt einer in Kleinasien daher und bringt diesen neuen Gedanken ein, vor dem man ja auch heute noch erschauert. Ich meine, wenn man das Unendliche wirklich an sich herankommen lässt, da wird einem doch eiskalt! Weil es einfach nicht denkbar ist.

Vossenkuhl:

Es hat aber eine gewisse Plausibilität. Wenn ich davon ausgehe, dass es unendlich viel Bestimmtes gibt, dann muss ja grundsätzlich, prinzipiell die Unendlichkeit schon mal gegeben sein. Bevor das Bestimmte sichtbar wurde, muss es unsichtbar und unbestimmt gewesen sein. Das unendlich Unbestimmte bedeutet: Alles das, was wir wahrnehmen, diese unendlichen Möglichkeiten dessen, was man sehen, hören, riechen, erklären kann, das muss ja der Möglichkeit nach schon im Ursprung als Unendliches angelegt sein.

Lesch:

Der Anaximander, von dem ich übrigens glaube, dass er einer der unterschätztesten Philosophen ist, war ja auch noch Geograph und Meteorologe und hat sich mit vielen verschiedenen Sachen beschäftigt…

Vossenkuhl:

Er hat ja auch eine Erdkarte angefertigt.

Lesch:

Aber noch mal zurück zu seinem „Apeiron“, dieses Unbegrenzte. War das etwas Materielles oder wie muss man sich das vorstellen?

Vossenkuhl:

Nein, das Prinzip, das dem zugrunde liegt, ist nicht materiell. Aber die Erscheinungsweise schon. Vielleicht könnte ich mal den allerersten Satz der Philosophie zitieren.

Lesch:

Höchste Zeit. Ich bin gespannt.

Vossenkuhl:

Von Thales ist nichts Schriftliches überliefert. Aristoteles hat ihn aber erwähnt. Von Anaximander haben wir nur einen einzigen langen Satz. Der hat es allerdings in sich. Hier ist ein Teil davon: „Ursprung und Urgrund der seienden Dinge… ist das Grenzenlos-Unbestimmbare… Woraus aber das Werden ist den seienden Dingen,…, in das hinein geschieht auch ihr Vergehen, nach der Schuldigkeit; denn sie zahlen einander gerechte Strafe und Buße für ihre Ungerechtigkeit nach der Zeit Anordnung.“

Also Ursprung und Ziel: Was mit dem Unrecht gemeint ist, weiß ich nicht so genau. Aber offensichtlich ist da so ein Schuldzusammenhang, eine Schuldigkeit der Dinge einander gegenüber. Wichtig ist, dass Anfang und Ende dasselbe sind. Ursprung und Ziel. Das Unendliche ist am Ausgangspunkt ebenso unbestimmt grenzenlos wie am Ende.

Lesch:

Das ist schon ein Hammer, mit dem Grenzenlosen anzufangen. Ich als Physiker würde natürlich immer das Gleichgewicht der Kräfte im Auge haben. Aber das kann sich ja mal in die eine oder die andere Richtung verschieben: In der Tat könnte man die Vorgänge im Universum und natürlich auch hier auf der Erde – die ist ja ein Teil davon – als ein Geben und Nehmen verstehen. Diese Gegensätze, die da eine Rolle spielen, finde ich schon ganz erstaunlich.

Vossenkuhl:

Thales, Anaximander und der Dritte im Bunde, der Anaximenes – auf den kommen wir noch – waren sehr umtriebige Leute, die mitten im Leben standen. Thales war Navigator und der Anaximander hat griechische Kolonistengruppen von Milet in neue Siedlungsgebiete ans Schwarze Meer geführt.

Lesch:

Die Jungs, wenn ich das mal so sagen darf, standen ja voll im Saft. Die waren mit ganz unterschiedlichen Aufgaben betraut. Und dann geben die solche Sätze von sich! Möglicherweise ist dieses vielseitige, praktische Leben die Voraussetzung dafür, dass man die Scheuklappen aufmacht. Dass man sich nicht abschottet, sondern mitkriegt, was mittendrin und Drumherum so alles läuft.

Vossenkuhl:

Man darf sich diese Leute nicht so vorstellen, dass sie völlig weltabgekehrt irgendwo im stillen Kämmerlein saßen und da so vor sich hin gebrütet hätten. Das Gegenteil ist richtig. Sie standen wirklich mitten im Leben.

Lesch:

Das ist übrigens für mich ein Argument, eine Universität in eine Stadt mitten rein zu setzen und sie nicht draußen in der Pampa anzusiedeln.

Eine intellektuelle Landschaft wie eine Universität gehört mitten unter die Menschen. Das ist doch das, was man von diesen ersten Philosophen lernen kann. Neue Ideen, das ist die Vermischung von verschiedenen Dingen. Und dann sollte Gelegenheit sein, sich mal in Ruhe darüber Gedanken machen zu können.

Vossenkuhl:

Also, jetzt kommen wir zu Anaximenes, der wohl ein Schüler von Anaximander war. Der lebte im 5. Jahrhundert. Es ist schon erstaunlich, dass in einem Jahrhundert drei große Denker in dieser Stadt Milet gelebt haben. München kann ähnliches von sich nun nicht behaupten. Schon gar nicht in jener Zeit. Nicht einmal in jüngerer Zeit.

Anaximenes war die Position seines Lehrers Anaximander nicht so ganz geheuer. Die hat ihm wohl nicht so ganz eingeleuchtet. Allerdings hat auch er daran festgehalten, dass der Ursprung und das Ziel identisch sind, dass aus dem unendlichen Unbestimmten das Bestimmte wieder zu sich zurückkehrt. Aber er hat dann doch gemeint: Der Stoff, so ähnlich wie das bei Thales das Wasser war, der Stoff, aus dem das alles wird und vergeht, das sei die Luft.

Ihm schwebte so eine Art von Äther-Stoff vor.

Lesch:

Oh je. Bei Äther werde ich sehr empfindlich. Der ist tatsächlich hinter seinen Lehrer zurückgegangen? So ein ganz konkreter Urstoff sollte plötzlich wieder das Maß aller Dinge sein?

Vossenkuhl:

Ja ja. Er hat dann noch gemeint, dass alles aus Luft ist.

Lesch:

Ein echter Luftikus. Die Ideen. Sollten die auch nur heiße Luft sein?

Vossenkuhl:

Sind sie ja auch manchmal. Aber im Ernst: Der Luft-Gedanke ließ sich schon mit dem Apeiron seines Lehrers Anaximander verbinden. Anaximenes meinte: Alles was ist, ist entweder verdichtete oder verdünnte Luft. Er hat auch Wärme und Kälte damit in Verbindung gebracht. Nur dummerweise – das widerspricht unserer Anschauung heute – hat er gemeint, die verdichtete Luft ist Kälte, aus der verdünnten entsteht das Feuer.

Lesch:

Es ist genau umgekehrt.

Vossenkuhl:

Ja. Es ist genau das Gegenteil richtig.

Lesch:

Aber er hat sich offenbar dann auch an diese „Denke“, um dieses schöne neuhochdeutsche Wort zu gebrauchen, gehalten, dass es ein Prinzip gibt, das der ganzen Wirklichkeit zu Grunde liegt.

Vossenkuhl:

Ja. Und zwar ein stoffliches.

Bei Anaximander hätte man sagen können: Na ja. Der denkt auch an das Stoffliche. Das ist nicht einfach nur so abstrakt. Aber es ist doch eine Begrifflichkeit da, die so einen Prozess beinhaltet, begrifflich. Das Stoffliche ist zwar zentral, aber doch nicht für die Erklärung so wesentlich. Es ist doch eher das erkennbar, was man später „Metaphysik“ genannt hat, also das Metaphysische, was jenseits alles Stofflichen liegt.

Es ist übrigens so, dass diese erste Schrift von Anaximander und dann alle anderen Schriften, welche die Philosophen vor Sokrates schrieben, immer den Titel tragen „Über die Natur“.

Dabei muss man sich klar machen, was sie unter Natur verstanden.

Lesch:

Mehr als das, was wir heute unter Natur verstehen?

Vossenkuhl:

Wir unterscheiden heute das Belebte und das Unbelebte, organisch, anorganisch. Die antiken Philosophen haben selbst das, was wir heute das Anorganische nennen, als belebt betrachtet. Was ja nicht so ganz unsinnig ist, wenn man an die molekularen Bewegungen denkt.

Zum Beispiel hat Thales geglaubt, dass ein Magnet lebt. Schließlich zieht er Eisen an. Er konnte sich das nur so erklären, dass der Magnet halt eine lebendige Kraft hat.

Lesch:

So was wie eine Seele hat und beseelt ist? Richtig?

Vossenkuhl:

Beseelt. Genau. Unter Natur wurde alles das verstanden, was beseelt ist. Also Gras, Bäume. Alles hat Seele und damit Lebenskraft.

Lesch:

Das ist ganz angenehm. Die haben sich nie in eine Problematik verbissen, so wie wir das heute tun. Heute wird pausenlos die Auseinandersetzung zwischen Religion und Wissenschaft geführt. Gott und Wissenschaft sind in keiner Art und Weise zusammenzubringen. Wissenschaftler, die an Gott glauben, sind für die atheistischen Kollegen suspekt und ebenso umgekehrt. Die Altvorderen haben sich darüber keinen Kopf gemacht. Der Begriff „Seele“ ließ solche Probleme erst gar nicht hochkommen.

Vossenkuhl:

Wir können da auch nicht wirklich zwischen Theologie und Philosophie unterscheiden. Die Milesier, die waren allesamt der Meinung, dass die Götter überall sind.

Lesch:

Ist ja nichts dagegen einzuwenden.

Vossenkuhl:

Überall sind die Götter. Und unter Göttern wurde eben auch das verstanden, was man als Prinzipien erkennen kann. Das Göttliche ist auch das Prinzipielle. Die haben natürlich jetzt nicht im strengen Sinne monotheistisch oder ähnlich gedacht wie wir heute, sondern sie hatten überall göttliche Prinzipien.

Lesch:

Und die schossen üppig ins Kraut.

Vossenkuhl:

Überall waren Götter.

Lesch:

Trotzdem lässt sich feststellen: In dem Moment, als einige Menschen anfingen, sich mit ihrem Gehirn die natürlichen Vorgänge zu erklären, in diesem Moment führte der Weg hinaus aus einer Welt, die nur von den Göttern durchdrungen war.

Damit begann die Emanzipation des Menschen von den Göttern. Das steckt doch eigentlich in unseren drei Denkern aus Milet.

Vossenkuhl:

Das ist eindeutig so.

Lesch:

Das ist der Markstein für das europäische Abendland. Diese drei Herren samt der nachfolgenden griechischen Philosophie schaffen das Fundament. Hier beginnt Europa. Genau da!

Vossenkuhl:

In Kleinasien.

Also die Türkei in die EU. Zumindest philosophisch. Aber ich gebe Dir völlig recht, Du hast es auf den Punkt gebracht.

Dies ist die Loslösung vom Götterhimmel und von den Mythen. Ich glaube, das ist der Anfang dessen, was man die Emanzipation der Menschen nennen kann. Dass diese Philosophen im Vertrauen auf die eigene Vernunft nach Ursprüngen suchen, sich nicht einfach auf das verlassen, was so von oben kommt und was ihnen auf den Kopf fällt. Sie vertrauen auf die eigene Vernunft, auf das eigene Denken.

Lesch:

Vertrauen, genau genommen Selbstvertrauen war der Anfang aller Philosophie.

Die Großen Denker

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