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Pythagoras

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Pythagoras

Vossenkuhl:

Pythagoras war nicht nur ein Philosoph. Er war der erste, der „Philosophos“ genannt wurde, also „Liebhaber der Weisheit“. Er ließ sich selbst gerne so bezeichnen. Daher kommt also der Name. Ein faszinierender Mensch. Pythagoras reiste viel in seinem Leben und wurde sehr alt.

Lesch:

Ein schlagender Beweis dafür, dass Philosophie offenbar lebensverlängernd wirkt. Der vielseitige Grieche hat versucht, Mathematik, Religion und Wissenschaft zusammen zu bringen. Er war auch ein richtiger Guru - Goethe weist darauf hin. Beide haben ja versucht, etwas in die Natur hineinzudeuten.

Viele verbinden mit Pythagoras nur die Formel:

a2 + b2 = c2. Das wäre übrigens das, was ich einen Außerirdischen auch fragen würde.

Ich würde ihm ein rechtwinkliges Dreieck zeichnen und ihm die beiden Kathetenquadrate vorgeben. Der Außerirdische muss - wenn er überhaupt irgendetwas von der Welt versteht – dann das Hypothenusenquadrat unten abliefern. Ansonsten würde er die euklidische Geometrie nicht kennen.

Vossenkuhl:

Das wäre dann wohl Deine Aufnahmeprüfung in unsere irdischen Sphären?

Lesch:

Ja, das wäre sozusagen mein „Shalom“ oder mein „Guten Tag“. Eigentlich wäre es das: a2 + b2. Dann muss der Außerirdische c2 sagen. Ich denke, dass das eine universelle Sprache ist. Insofern sind wir Naturwissenschaftler zumindest bis an diesen Punkt Pythagoräer geworden. Er ist für uns auf der naturwissenschaftlichen Seite unglaublich wichtig gewesen.

Aber Willi, sag‘ an: Wer war Pythagoras denn eigentlich?

Vossenkuhl:

Ein Mann aus Samos. Wir waren ja schon ganz nahe bei den Milesiern in Milet. Gar nicht weit vor der Küste liegt die Insel Samos. Sie gehört zu Griechenland.

Pythagoras war schon früh ein unruhiger Geist und viel auf Achse. Vor allem nach Ägypten. Dort hat er wohl auch die Religionen am Nil kennen gelernt. Dann ist er nach Süditalien ausgewandert und hat sich in einem kleinen Städtchen namens Kroton niedergelassen. Das liegt an der Ostküste von Kalabrien an der Stiefelspitze Italiens. Der Ort heißt heute Crotone. Dort hat Pythagoras eine Philosophen-Schule gegündet. Man könnte fast sagen, einen Orden oder Ashram.

Du hast ja ganz zu Recht darauf hingewiesen, dass er auch so etwas wie ein Guru war, ein religiöser Denker und eine Leitfigur. Dann ist er weiter gezogen in die heutige Basilicata, zum Golf von Tarent, nach Metapont. Das ist auch heute noch ein Ort, den man unbedingt besuchen sollte. Die Ausgrabungsfelder zeigen sehr eindrucksvoll, wie groß die Tempel damals waren.

Lesch:

Zu Pythagoras Zeiten.

Wie ist er denn überhaupt Philosoph geworden? Hat er eine Lehre bei irgendjemand gemacht?

Vossenkuhl:

Das ist nicht überliefert. Ich glaube, dass er ein Selfmademan war, der sich früh der Mathematik zuwandte. Bei wem er das gelernt hat, ist nicht überliefert. Er hat sich mit Mathematik nicht um der Mathematik willen beschäftigt. Sie sollte ihm bei der Erklärung der Wirklichkeit helfen.

Er ist nach den Milesiern, die sich mit dem Stofflichen beschäftigt hatten, nun ein ganz anderer Typ Denker. Bei ihm tritt die Zahl in den Vordergrund. Nicht einfach als Zahl: eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben, sondern als Formprinzip. Die Form löst das Stoffliche ab. Du bist doch auch ein Freund der Zahlen?

Lesch:

Schon, schon. Für Pythagoras ist das aber ein Einschnitt, der ziemlich dramatisch ist. Dass auf einmal Inhalte nicht mehr so wichtig sind, sondern dass etwas darüber Liegendes anfängt, wichtig zu werden. Kann man Pythagoras schon als Metaphysiker bezeichnen?

Vossenkuhl:

Ja, natürlich. Das waren die anderen aber auch.

Lesch:

Ja?

Vossenkuhl:

Ja, ja.

Lesch:

Die hantierten doch ganz handfest mit Luft und Wasser. Gut, der mit dem Apeiron, der Anaximander, der hatte sicherlich schon etwas Metaphysisches, aber die anderen waren doch noch sehr im Hier und Jetzt.

Vossenkuhl:

Ich würde sagen, jeder ist Metaphysiker, der über Urgründe nachdenkt. Die findet man ja nicht auf der Straße oder unterm Busch oder im Wald, sondern das muss man sich ausdenken. Insofern waren schon die Milesier Metaphysiker. Ganz besonders aber Pythagoras. Er machte den großen Sprung vom Stofflichen zur Form.

Lesch:

Die Mathematik ist aber keine originär griechische Erfindung. Sie kommt aus dem Vorderen Orient. Die Babylonier kannten den Satz von Pythagoras viel früher, als er dann über Pythagoras in unsere Lehrbücher gekommen ist. Der hat ihn offenbar ganz gut „vermarktet“. Hört mal, Freunde, ich habe hier einen Satz, den könnt ihr nehmen, der ist gut.

De facto sind die Ägypter und die Babylonier in der Mathematik sehr weit gewesen. Die Griechen selber haben ja auch zugegeben, dass große Teile ihrer Philosophie zum Beispiel aus Ägypten kommen. Nicht zuletzt die Mathematik als eine unglaubliche Methode, um nicht zu sagen Waffe, um die Welt zu erobern bzw. zu verstehen. Da hat der Grieche Pythagoras ja wirklich fundamentale Beiträge abgeliefert. Nicht so sehr im Einzelnen. Er hat vielmehr herausgearbeitet, dass Zahlen tatsächlich überall in der Welt stecken.

Vossenkuhl:

Dein Kollege Heisenberg hat auch ganz euphorisch über Pythagoras geschrieben. Er sei der Erste gewesen, der die Mathematik als wissenschaftliches Instrument benutzt hat und ähnliches. Aber so war es tatsächlich.

Lesch:

Wie viele Gemeinden, pythagoreische Gemeinden gab es?

Vossenkuhl:

Zwei. Es waren so eine Art Schule oder besser: Ordensgemeinschaft.

Lesch:

Dabei durften auch die Frauen mitmachen. Das war in der damaligen Zeit beileibe nicht der Normalfall. Die Leitfigur Pythagoras muss schon ein Mann gewesen sein, der, in gewisser Weise ziemlich orthogonal zur Gesellschaftsordnung stand, geradezu senkrecht dazu. Beim Denken wurde das andere Geschlecht allerdings nicht mit einbezogen.

Vossenkuhl:

Die Frauen spielten in Metapont natürlich keine andere Rolle als sonst wo in Griechenland. Die gehörten ins Haus und kümmerten sich um den Oikos, die Wirtschaft. Das waren Haus, Familie, Gesinde und Landwirtschaft. Pythagoras war – würden wir heute sagen - ein Humanist . Er glaubte daran, dass alle Menschen sich untereinander mit Sympathie und Freundschaft begegnen sollten. Das hat er auch so gelebt. Das hat sicher zum Erfolg seiner Gemeinden beigetragen.

Lesch:

In dieser Gemeinde gab es ganz merkwürdige Regeln, die philosophisch nicht so besonders ergiebig sind. Sie halfen aber, das Zusammenleben zu koordinieren und zu strukturieren.

Vor allen anderen Dingen aber standen die Zahlen. Sie standen im Mittelpunkt. Die Eins stand für Gott, weil nur einer da ist. Zwei steht für …

Vossenkuhl:

… das Andere.

Lesch:

Für Verschiedenheit. Drei ist die Synthese von eins und zwei. Vier ist eine heilige Zahl. 1 + 2 + 3 + 4 gibt 10, wiederum eine ganz wichtige Zahl. Dann gibt es ein Dreieck, das ist das göttliche Dreieck. Überall Verbindungen von Zahlen mit etwas, was die Zahl zunächst einmal gar nicht hergibt.

Eine Zahl ist eine Zahl. Meine Güte, es ist doch im Grunde genommen völlig schnurzegal. Bei uns gibt es heute ja auch noch so Zahlen. Wir haben zum Beispiel die 13. Freitag, der 13. ist immer noch schicksalsschwanger. Die Sieben ist eine ganz wichtige Zahl, weil die mit den sieben Tagen in der Woche zusammenhängt. Dann hat es auch noch 12 geschlagen. Trotzdem würde kein Mensch heute den Zahlen eine so große Bedeutung zuordnen, wie das damals die Pythagoräer gemacht haben. Für die war das was ganz Wichtiges.

Vossenkuhl:

Das stimmt. Es ist eines der frühesten Zeugnisse der Zahlenmystik, die es natürlich in anderen Kulturen auch gegeben hat. Im Judentum gibt es ähnliche mystische Vorstellungen für Buchstaben und Zahlen – die Kabala. Die Pythagoräer standen dem nicht nach. Sie waren echte Zahlenmystiker.

Lesch:

Die waren Freaks. Die standen auf Zahlen.

Vossenkuhl:

Wir lernen heute in der Schule nicht mehr unbedingt, dass die Eins oder die Zwei etwas Besonderes sind. Wir verstehen die Zahlen als abstrakte Entitäten, nicht als reale Entitäten. Es gibt nicht die Eins. Für den Pythagoräer schon.

In manchen Schulen oder Schulsystemen, zum Beispiel in den Steiner-Schulen, da werden die Kinder zunächst einmal auch mit dieser Art von Zahlenauffassung vertraut gemacht, weil es offenbar sehr viel greifbarer, verständlicher, vorstellbarer ist, dass es die Eins gibt. Also vor der Abstraktion erst einmal das Konkrete, Anschauliche.

Lesch:

Der Weg, wie die zu dieser besonderen Bedeutung von Zahlen gekommen sind, lief lustigerweise über die Musik. Dass sie eben Saitenlängen festgestellt haben. Immer dann, wenn sie eine Saite in einer bestimmten Art und Weise unterteilten, kriegten sie die Oktaven, Quinten, Quarten usw.

Die Entdeckung einer Zahl, die nicht passte, also einer Zahl, die als ein Bruch von zwei ganzen Zahlen nicht darstellbar war, muss unsere Freunde völlig aus dem Gleichgewicht gebracht haben. Man stelle sich ein Dreieck vor, Seitenlänge 1 + 1 zum Quadrat gibt: 2.

Jetzt will man aber die Seitenlänge wissen, dass a2 + b2 = c2. Also ist c gleich Wurzel aus a2 + b2. Das hieße: Wurzel aus 2. Das ergibt aber keine Zahl mehr, die man als Bruch von zwei ganzen Zahlen darstellen kann.

Vossenkuhl:

Stimmt.

Lesch:

Da taucht etwas ganz Fürchterliches auf. Fast könnte man sagen: Die Götter haben geschlampt. Was sind denn das für Zahlen?

Die passen ja nicht. Das kann nicht sein. Also Verbot! Es gab heftige Auseinandersetzungen. Trotzdem waren die Herrschaften und Pythagoras höchst selbst eben der Meinung, dass die Welt Zahl sei.

Vossenkuhl:

Ja. Genau.

Lesch:

Kann man das in der Philosophie heute nachvollziehen? Warum das damals so lief?

Vossenkuhl:

Man kann es schon nachvollziehen. Aber nur eingeschränkt, weil es sehr stark religiös motiviert war. Wir haben in der Philosophie verlernt, die Wirklichkeit des Kosmos über harmonische Klänge zu verstehen.

Lesch:

Was ich übrigens sehr bedaure. Das Universum ist nicht in allem harmonisch, aber es ist trotzdem eine wunderbar stimmige Angelegenheit.

Vossenkuhl:

Man sollte auch in der Philosophie öfters wieder spielen und singen. Mit Wein und Weib.

Lesch:

Da bin ich dabei.

Vossenkuhl:

Alkohol war übrigens bei den Pythagoräern nicht erlaubt. Wein kam nicht auf den Tisch. Pythagoras war Asket und damit saßen auch seine Jünger auf dem Trockenen.

Lesch:

Ach was!

Vossenkuhl:

Die Askese hatte für Pythagoras eine ganz bestimmte Bedeutung. Für ihn ist die Seele durch den Körper belastet. Ja. Die Seele wird schon dadurch unrein, dass sie in einem Körper angesiedelt ist. Deswegen muss der Körper möglichst rein gehalten werden. Die Ernährung war für die Pythagoräer deshalb ganz wichtig. Kein Fisch, kein Fleisch, keine blähenden Dinge. Alkohol und ähnliches gehörte nicht zum Diätplan.

Lesch:

Das klingt für mich so ein bisschen wie … na ja frustriert, über das eigene Dasein.

Vossenkuhl:

Ich glaube die Idee war, sich zu reinigen. So hat Pythagoras auch Lebensregeln aufgestellt. Eine, die mir völlig plausibel erscheint, postuliert, dass man sich am Ende eines Tages fragen soll: Was habe ich heute falsch gemacht? So eine Art Gewissenserforschung. Also: Ich habe das und das nicht richtig gemacht, ich war nicht freundlich zu dem oder ich habe den und den angelogen oder was auch immer. Also, diese Reinigung der Seele und die Diät, das waren keine getrennten Sachen. Reinheit war die eigentliche Idee – und Geistigkeit. Die Beschäftigung mit Mathematik und Philosophie sollte auch der Vergeistigung dienen. Man hat das nicht um seiner selbst willen gemacht, sondern man wollte damit reiner, lauterer werden.

Lesch:

Das klingt so, als ob die Wirklichkeit um uns herum oder das, was wir mit den Sinnen so aufnehmen, nicht das ist, was wirklich erstrebenswert ist. Da muss es etwas geben, das dahinter steckt. Was reiner ist als das, was uns vordergründig zugänglich ist.

Das erscheint mir wie eine Flucht vor der realen Welt.

Vossenkuhl:

Das ist sicherlich die Tendenz. Aber wenn man das Göttliche als das Höchste anerkennt - und das war eben das, was die Pythagoräer dachten - und wenn das das Ziel und die Bestimmung des eigentlichen Daseins ist, dann ist es nicht so überraschend.

Man will sich dem Göttlichen annähern. Das ist nicht einfach nur so ein Gedankenideal, das man abends kurz vor dem ins-Bettgehen beim Lesen realisiert, sondern das ist Ziel des ganzen Lebens. Und das ist ernst zu nehmen. Das Göttliche, das Ewige, das Unveränderliche, danach strebt man. Die menschliche Seele hat nach Ansicht der Pythagoräer die Tendenz dazu.

Etwas, was für die Pythagoräer und Pythagoras selbst enorm wichtig war, war die Seelenwanderung. Diese Möglichkeit, sich durch die Wiederkehr der Seele noch zu steigern. Pythagoras sagte: Wir werden uns sicherlich wieder begegnen. Ihr werdet mich wiederkommen sehen an meinem Stab.

Ich weiß nicht, woher er diese Lehre hatte. Es klingt sehr fernöstlich. Aber schätzungsweise hat er diese Vorstellung auf irgendeiner seiner Reisen mitbekommen, vielleicht in Ägypten.

Lesch:

Da haben wir aber schon einen ganz erheblichen Unterschied. Diese Männer in Milet waren tätige Männer. Die standen mitten im Leben. Pythagoras hat erst auch für eine Weile politisch gewirkt, bis er dann angefangen hat, sich mit seiner Truppe von der Welt zurückzuziehen. In ein Ashram-Camp. Pythagoras als Guru, als Weiser hat die ganze Sache angeführt.

Wenn ich es mir recht überlege, wenn sich so eine Philosophie wirklich durchsetzten würde und sich Menschen zurückzögen, voreinander und voneinander, das wäre doch eine Katastrophe?!

Vossenkuhl:

Ja, das wäre fatal.

Lesch:

Kann man sich eine Zivilisation als eine Summe von sich voneinander isolierenden sozialen Gemeinschaften vorstellen, die alle ihre eigenen Regeln haben? Also, für mich ist das eine Sackgasse.

Vossenkuhl:

Ich glaube, dass es damals keine war. Als Pythagoras sich in Kroton niedergelassen hatte, versammelte er als erstes eine Gruppe um sich. Erst später gab es noch eine zweite. Die eine Gruppe hat wohl diese Askese, so wie Du das befürchtest, als Rückzug aus der sinnlichen Wirklichkeit stark übertrieben. Die sollen sich sogar nicht einmal gewaschen haben.

Lesch:

Das stinkt ja zum Himmel!

Vossenkuhl:

Aber gut. Es gibt oft, wenn ein Guru wirkt, gewisse Übertreibungen. Die andere Gruppe hat aber mehr die Lehre oder das Intellektuelle in den Vordergrund gestellt. Die siedelte sich in Tarent an, nicht weit von Metapont, an diesem schönen Golf in der Basilicata.

Lesch:

Ja, dort ist es sehr schön. Ich meine, da fließt einem ja fast schon Milch und Honig direkt … ja, da ist es wunderbar.

Vossenkuhl:

Eine malerische Landschaft. Ich glaube, dass Pythagoras selbst noch da war, als diese Gruppe in Tarent schon im öffentlichen Leben verankert war. Was er in Metapont gemacht hat, ist nicht überliefert. Ich bin hingefahren und habe mir das einmal angeschaut. Es ist sehr beeindruckend. Ich stelle mir an solchen Orten bestimmte Bilder vor, die sich nicht geändert haben können. Wenn man z.B. aufs Meer schaut, dann hat man so ein Bild.

Lesch:

Genau. Das ist seit 2.000 Jahren immer noch gut erhalten. Zumindest an der Oberfläche.

Vossenkuhl:

Auch wenn man die Küstenlinien betrachtet. Da hat sich auch nicht viel geändert. Wenn man dann auf dem Ausgrabungs-Gelände ist, wo jetzt noch die Mauerreste der Tempel zu sehen sind, dann kann man sich noch ungefähr die Dimensionen dieser Stadt vorstellen.

Es gibt übrigens ein wunderbares Museum in Metapont. Da kann man schon gut zwei, drei Stunden verbringen.

Lesch:

Wenn Du so von der Mittelmeer-Antike schwärmst, dann bekomme ich das Gefühl, dass Philosophie sehr viel mit dem Wetter zu tun hat. Um Philosophie betreiben zu können, muss man etwas Zeit haben, und einen warmen schönen Platz, damit die Gedanken über das Alltägliche hinaus fliegen können. In Friesland, wo die kalten Stürme die Küste peitschen, da konnte wohl eine Philosophie nicht recht entstehen. Da war man wohl eher mit dem Überleben beschäftigt.

Wenn ich mir weiter überlege: Die Askese, die kann man doch nur dann fordern, wenn man so viel hat, um zu sagen: Freunde, nun beschränkt euch mal! Leute, die ständig nichts zu futtern haben, denen kann man nicht erzählen: Das ist prima, dass du nichts zu futtern hast. Das ist der Weg zur Reinheit.

Ich würde gerne noch einmal zurück kommen zum Thema Zahlen und Mathematik im Allgemeinen.

Gab es wirklich vor Pythagoras nichts in der Philosophie, was darauf hindeutet, dass es eine Methode wie die Mathematik gab, die Vorgänge in der Natur so beschreibt, dass man sie von Mensch zu Mensch tragen kann? Dass man so eine Währung hat, so eine Naturwährung, wenn ich das mal so sagen darf. War er wirklich der Erste, der das so intensiv betrieb?

Vossenkuhl:

Nach allem was wir wissen, ja. Es gibt keine anderen Zeugnisse.

Lesch:

Wir kennen von diesen sogenannten Vorsokratikern immer nur Fragmente, wenn überhaupt. Und dann haben Platon und Aristoteles etwas aufgeschrieben. Aber ansonsten wissen wir nichts.

Vossenkuhl:

Es wurde viel mündlich überliefert. Wahrscheinlich gab es auch Schriftliches, das aber nicht erhalten ist. Einzelne Sätze kennen wir als Zitate anderer, späterer Philosophen.

Vielleicht sind viele Texte der ganz frühen Philosophen in der großen Bibliothek in Alexandria verbrannt.

Lesch:

Zusammengefasst war es eine der ganz einschneidenden Veränderungen. Wenn man sich anschaut, wann Naturwissenschaften, namentlich die Physik, stark geworden sind, dann vor allem in dem Moment, wo sie sich reduziert haben. Als sie angefangen haben, die ganz großen Fragen zurück zu stellen. So Fragen wie: Wie können wir etwas formulieren, so dass jeder Mann, jede Frau auf der Welt das versteht?

Auch heute ist es immer wieder interessant, wenn zu einer Konferenz Menschen aus allen Kontinenten mit völlig unterschiedlichen Sprachen kommen. Selbst wenn das Englisch der Einzelnen noch so schlecht ist, eine Gleichung ist überall gleich.

Vossenkuhl:

Ich verstehe Deine Begeisterung.

Lesch:

Das ist doch ungeheuerlich.

Vossenkuhl:

Es war lange nach der Pythagoräer-Schule - viel später dann in Athen - eine bleibende Übung, dass man die Harmonie der Sphären über Mathematik und Musik - Musik als eine Art hörbarer Ausdruck der Mathematik - begreifen konnte. In dieser puren, hörbaren Form hat sich die Mathematik nicht lange gehalten. Sie ist dann in der Philosophie erst in der Neuzeit wieder auferstanden. Descartes hat wieder Mathematik getrieben. Auch vor ihm haben sich einige Leute daran verzückt. Später dann Leibniz. Leibniz war ein genialer Mathematiker.

Kant war schon wieder weniger genial als Mathematiker, obwohl er Mathematik-Vorlesungen gehalten hat.

Die Mathematik hatte nicht immer eine gleich bleibende hohe Bedeutung innerhalb der Philosophie. Aber Pythagoras war sicherlich der erste Mathematik-Philosoph.

Man darf jetzt aber nicht nur auf die uns heute geläufige Vorstellung von Mathematik schauen. Mit den Zahlen waren Formvorstellungen verbunden, d. h. es hat sich in der Entwicklung des Instrumentariums des Nachdenkens über die Wirklichkeit etwas Wichtiges ereignet.

Man hat nun nicht mehr einfach über die Stoffe nachgedacht, die Verdünnung und Verdickung der Luft oder des Wassers. Nun ist plötzlich das in den Vordergrund getreten, was man einfach „Begriffe“ nennt. Also Begriffe als Formen für Dinge, für Gegenstände.

Lesch:

Die Philosophie wurde abstrakt.

Vossenkuhl:

Abstrakt, ja. Und plötzlich hatte man ein neues Instrument. Man sprach nun eine neue Sprache, die Formensprache. Man hatte plötzlich die Möglichkeit, über diese Formensprache die Wirklichkeit sehr viel präziser zu fassen als durch das Nachdenken über die stofflichen Veränderungen. Da gibt es ja keinen Anfang und kein Ende. Das ist auch irgendwie mit dem Apeiron so – kein Anfang und kein Ende.

Man hat natürlich schon überlegt: Es muss einen Anfang und ein Ende geben. Aber man sieht’s nicht, man hat’s nicht. Mit den Begriffen hat man Formen, die dem Ganzen eine Architektur, eine Struktur geben, die mit dem Kopf beherrschbar ist.

Lesch:

Aber macht das Philosophie nicht kälter? Wenn Philosophie der Versuch des Menschen ist, etwas über das Urgründliche zu erfahren, über Alles, über das Wichtigste. Bei aller Liebe zur Mathematik, da sind doch keine Subjekte mehr im Spiel. Der Einzelne hört auf und wird nur noch zu einer Ansammlung von Zahlen. Ein Prinzip wird zu einem Gott gemacht.

Wenn Mathematik zu einem Gott wird, dann werde ich unruhig.

Vossenkuhl:

Das war es eigentlich nicht, sondern es war eher im Dienste der Gottheit. Also es war nicht Mathematik um ihrer selbst willen, sondern man wollte sich dem Göttlichen nähern, dem Göttlichen angleichen. Weil die Formen, also die Formensprache, das Formenverständnis dem Göttlichen näher schien als die bloße Aufzählung und Beschreibung des Materiellen.

Lesch:

Das ist schon schwierig. Ich fand es leichter, sich über Thales, Anaximander und Anaximenes zu unterhalten als jetzt über diesen unglaublich abstrakten Pythagoras, der möglicherweise etwas in die Welt gebracht hat, was zu dem Tiefsten gehört, was wir über Natur überhaupt sagen können, die mathematischen Naturgesetze. Aber wenn es zu kalt wird, dann ist mir seine Musik eigentlich … die passt mir dann nicht.

Vossenkuhl:

Wahrscheinlich ist es denen aufgrund ihrer Askese sowieso etwas kalt gewesen. Obwohl es in Kroton meistens schön warm war.

Lesch:

Also Pythagoras, ein Mann des Maßes, der Zahl und der Musik.

Vossenkuhl:

Und ein Mann, der dem Göttlichen sicherlich um ein gehöriges Stück Philosophie näher gekommen ist als seine Vorgänger. Wir wissen natürlich jetzt nicht so genau, wer seine Vorgänger waren. Wir haben bei den Milesiern über diesen „melting pot“ in Kleinasien geredet. Ich glaube, Pythagoras war selber so ein „melting pot“.

Er hat so viele Kulturen kennen gelernt und in sich zusammengemischt. Warum er sich nun in Süditalien niedergelassen hat, das ist uns nicht klar. Wahrscheinlich hat er sich dort freier und ungebundener gefühlt als an anderen Orten. Es gab ja dort keine großen Ansiedlungen. Es gab Siracusa, die größte Stadt der griechischen Antike, aber die lag weitab übers Meer auf Sizilien.

Ich glaube, er suchte die Unabhängigkeit. Vielleicht auch das, was Du vorher sagtest, dieses weg von den großen Mengen, Ablenkungen und Umtriebigkeiten, um zur Meditation, zum Nachdenken zu kommen.

Aber vielleicht ist das tatsächlich richtig, wenn Du sagst, dass der Mensch bei ihm als konkrete Person aus dem Zentrum des Interesses eher herausrückt. Aber das sind Spekulationen.

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