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Leukipp (5. Jh. v. Chr.) & Demokrit (460/59 - ca. 400/380 v. Chr.)
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Demokrit
Vossenkuhl:
Das Wahrnehmen und das Denken entstehe, wenn Bilder (aus Atomen) von außen heran kämen; denn keins von beiden widerfahre einem ohne das einfallende Atombild. Lieber Harald, was will uns dieses sagen?
Lesch:
Hier versucht jemand, die Sinneswahrnehmung auf etwas Materielles zurückzuführen. Damit der Mensch etwas erfährt, also mit den Augen sieht oder mit den Ohren hört, muss etwas Konkretes, Fassbares ausgetauscht werden.
Noch genauer: Wir reden über Demokrit und Leukipp. Die zwei, die den Materialismus in die Welt gebracht haben. Die zwei, die die Atome, die Unteilbaren, ins Spiel brachten.
Vossenkuhl:
Vielleicht sage ich erst einmal was zu Leukipp, weil man von dem wenig weiß. Das ist relativ schnell abgehandelt.
Leukipp ist höchstwahrscheinlich in Elea in Süditalien geboren, da wo schon Parmenides gelehrt und gelebt hat. Es gibt aber auch Leute, die behaupten, er sei aus Milet in Kleinasien.
Demokrit kommt aus einer völlig anderen Gegend. Er stammt aus Abdera in Thrakien. Das würde man heute in der Gegend von Makedonien suchen. Also zwei Philosophen, die sehr viel miteinander zu tun hatten, obwohl sie aus ganz unterschiedlichen Ecken kamen.
Lesch:
Demokrit gilt immerhin als einer der größten Wissenschaftler seiner Zeit, wenn nicht der Größte.
Ich habe nachgelesen. Wenn die früher von den großen Philosophen sprachen, dann waren natürlich immer Platon und Aristoteles dabei. Aber davor kam Demokrit. Er muss ein bemerkenswerter Mann gewesen sein.
Ein echter Durchblicker.
Zusammen mit Leukipp hat er praktisch einen vollständigen Gegenentwurf zu Parmenides und Xenophanes präsentiert. Wenn ich das richtig recherchiert habe, dann ist die Idee, dass es etwas Unteilbares gibt, in der Tat zunächst einmal von Leukipp gedacht worden.
Vossenkuhl:
Etwas Unteilbares, also atomos, nicht weiter teilbar. Was natürlich ein ganz wichtiger Gedanke ist, denn in Elea … ich tippe deshalb darauf, dass er aus Elea kam, weil es dort den Zenon gab - auch ein Schüler von Parmenides. Dieser Zenon hat Paradoxien entwickelt, die auf dem Gedanken basierten, dass etwas - eine Entfernung, ein Gegenstand - unendlich teilbar ist.
Wenn man nämlich etwas unendlich oft teilen kann, irgendeine Entfernung und sei sie noch so klein, dann kann man sie auch nie überwinden.
Lesch:
Erzähl doch. Ich bin sicher, dass Dir sofort ein Beispiel dafür einfällt.
Vossenkuhl:
Das mit dem Achilles und der Schildkröte eben.
Lesch:
Bestens. Schneller Hirsch gegen lahme Ente.
Vossenkuhl:
Jetzt kommt dieser Leukipp und sagt: Es gibt ein Ende dieser Teilung und das ist das Unteilbare. Die Paradoxien lösen sich auf einen Schlag auf, wenn man davon ausgeht, dass es stoffliche, substantielle Grundlagen gibt. Die sind so beschaffen, dass es irgendwo ein Ende für diese unendliche Teilbarkeit gibt. Schon hast Du mit dem Unteilbaren die Paradoxie aufgelöst.
Lesch:
Du kannst Dir jetzt sicher gut vorstellen, wie ich mit den Hufen scharre. Ich brenne darauf, die gesamte moderne Physik über Dich auszugießen. Aber das mache ich nicht. Noch nicht. Das kommt später.
Vossenkuhl:
Ich bereite mich zumindest innerlich darauf vor.
Lesch:
Ich kann mir gut vorstellen, dass sich das Gedankenexperiment von Zenon, dieses Paradoxon, das sich in den Gedanken ergibt, durch die Wirklichkeit doch völlig konterkariert wird. Siehe Läufer gegen Schildkröte.
Vossenkuhl:
Natürlich. Das leuchtet sofort ein.
Lesch:
Also konnte doch diese Vorstellung der beliebigen Teilbarkeit nicht stimmen. Insofern ist es naheliegend, dass da umgehend Kontra gegeben wurde. Moment mal, das hat doch wohl mit der Wirklichkeit überhaupt nichts zu tun!
Weiß man sonst noch etwas über Leukipp, außer dass er der Begründer dieser Atomlehre war?
Vossenkuhl:
Es sind ein paar Sätze von ihm überliefert.
Lesch:
Das ist alles?
Wilhelm Vossenkuhl:
Aristoteles hat ihn erwähnt, aber sehr viel mehr über Demokrit geschrieben. Wahrscheinlich, weil Aristoteles in Demokrit sein eigenes Grundmodell erkannte. Er hat über den Demokrit berichtet, dass der über alles nachgedacht hätte. Über das Lebendige ebenso wie über das scheinbar Unbelebte. Über Pflanzen und Tiere, darüber wie der Kosmos entsteht und wie man ihn erkennt. Wir haben sogar viele Textstücke von ihm. Vor allem aber auch Berichte über das, was er gedacht hat. Er ist schon eine gut dokumentierte, historische Person.
Lesch:
Am Rande sei erwähnt, dass er auf Raffaels Bild „Die Schule von Athen“ – zu sehen im Vatikanischen Museum in Rom - als Lachender … ne ne, stimmt gar nicht …
Vossenkuhl:
Vielleicht doch!
Lesch:
Ist er der Lachende auf dem Bild?
Vossenkuhl:
Da bin ich nicht sicher, aber der eine, der rechts neben Sokrates steht und mit verschränkten Armen und zweiteiligem Bart still und wissend in sich hineinlächelt, das könnte er sein.
Lesch:
Weil er über die Torheit der Menschen lacht?
Vossenkuhl:
So könnte man das interpretieren. Er nahm diese Einsicht wohl etwas lockerer als Heraklit, der unten am Boden sitzt. Aber auch der scheint zu lachen.
Lesch:
Demokrit ist wohl ein sehr positiver Typ gewesen.
Vossenkuhl:
Er hat nicht nur über die Torheit der Menschen gelacht, sondern er hat die Wohlgemutheit als den eigentlichen Kern des Ethischen verstanden.
Lesch:
Ein schönes Wort.
Vossenkuhl:
Was? Die Wohlgemutheit? Ja. Das hört sich doch wunderbar an.
Lesch:
Liest sich sicher auch so. Wohlgemut. Sind Sie liebe Leser noch wohlgemut, wenn Sie uns hier so nachlesen? Ich hoffe es. Ich hoffe es sehr.
Vossenkuhl:
Euthymia, die Wohlgemutheit. Man dreht das heute gerne in Richtung Hedonismus, also hin zur Lust. Aber das war gar nicht die Idee.
Lesch:
Vielleicht ist es mehr Wellness?
Vossenkuhl:
Nein.
Es ist das „sittlich gut gestimmt Sein und das Gute genießen“ gemeint. Keine automatische Wünscherfüllung, sondern mehr, dass der Mensch im Maß bleibt. Der Gerechte tut, was er ethisch tun soll. Der Ungerechte, was er nicht soll.
Diese Wohlgemutheit, hat Demokrit so fröhlich gemacht. Er hat keinen Grund gesehen, mehr zu wollen, als das, was er zum Leben braucht.
Lesch:
Demokrit war einfach gut drauf, wie man heute so sagt.
Vossenkuhl:
Rundum zufrieden, ein feiner Kerl und guten Mutes.
Lesch:
Ist auch kein Wunder. Er hat ja nun ein Weltbild entwickelt, bei dem ich einfach nur sagen kann: Junge, Hut ab, das geht in die richtige Richtung.
Wir können knapp 2.500 Jahre nach Demokrit sagen: Der Mann war auf dem richtigen Weg. Er hatte mit seinen Atomen das Richtige gedacht.
Wie hat er sich denn das vorgestellt, wie die Atome miteinander in Wechselwirkung treten? Hatte er schon eine Ahnung von den Kräften, die wir heute zwischen den Atomen ausgemacht haben?
Vossenkuhl:
Er hatte die Idee, dass sich die Atome im leeren Raum bewegen, dass sie alle von gleicher Art, nur unterschiedlich in ihren Formen, Größen und Lagen sind. Da gibt es kugel-, sichel- und hakenförmige Atome. Qualitativ sind sie also gleich, nur quantitativ verschieden. Die Qualität bezieht sich auf Ausdehnung, Form, Masse, Schwere, Härte, aber auch auf die Süße, das Bittere, Warme, Kalte, Farbige. Also all das, was die britischen Empiristen später auch unter den Qualitäten verstanden. Das Grundprinzip ist aber, dass die Atome unteilbar sind, unzerstörbar, ewig.
Und dass sie den Raum ausfüllen. Sie verändern lediglich ihren Ort. Letztlich lässt sich alles, was sich verändert - Entstehung, Vergehen - nur auf die Ortsveränderungen der Atome zurückführen. Und dazu kommen natürlich noch die eben erwähnten Qualitäten.
Lesch:
Also kommen immer mehr Atome dazu.
Vossenkuhl:
Genau.
Alles ist nur eine Frage der Anordnung der Atome. Es gibt da noch so eine Idee, die eigentlich schon der Empedokles hatte: die „Wirbeltheorie“.
Das hat nichts mit unseren Nackenwirbeln oder Rückenmark zu tun. Er meinte - und das hat Demokrit wohl wieder aufgegriffen - dass die Anordnung der Atome in Wirbeln vor sich geht. Wie ein Luftwirbel, der die Blätter zusammenkehrt. Bei Empedokles war das wohl so, dass, als er am Strand in Agrigent saß und beobachtet hat, dass bestimme Kieselsteinchen, die runden und die flachen, immer zusammen lagen. Deswegen ging er davon aus, dass die Ursache dafür so eine Art Verwirbelung sei.
Der Empedokles meinte, dass auch die ganzen Weltkörper so entstanden sind. Demokrit hat diesen Gedanken aufgegriffen und postuliert: Die Atome wirbeln sich zusammen. Zu etwas Größerem.
Lesch:
Über die Brücke, die Du mir da baust, gehe ich nicht. Im Nachhinein gibt es ja immer wieder verschiedene Wirbeltheorien. Immer ist diese Balance von zwei Kräften am Werk. Da zieht etwas nach innen und gleichzeitig - durch die Verwirbelung - auch nach außen. Das ist praktisch. Wenn sich da etwas die Waage hält, dann mag es zu irgendeiner Art von „Strukturentstehung“ kommen.
Das geht später sogar so weit, dass Kant und Laplace gemeinsam diese Entstehungstheorie des Sonnensystems entwickeln. Das geht nämlich auch aus so einem Gaswirbel hervor und wird eine Scheibe. Will ich gar nicht bestreiten.
Vossenkuhl:
Aber immerhin wird etwas herumgewirbelt.
Lesch:
Wirbel ist nicht schlecht. Man merkt, diese griechischen Philosophen haben alles getan, was in ihrer Macht stand, um Erklärungen zu liefern, die sich eben nicht mehr auf die Götter berufen. Sie wollen sagen: Da ist ein Phänomen und das geht offenbar sogar mit rechten Dingen zu. Also muss es dafür auch eine vernünftige Begründung geben. Wenn ich nur lange genug hingucke, werde ich das schon rausfinden.
Nur, was natürlich nach meiner Einschätzung bei Demokrit entscheidend ist: Hier wird etwas fürchterlich anderes gemacht als bei Empedokles. Bei Empedokles gab es immer noch ein Subjekt mit seiner Geschichte. Weil Empedokles ein Mediziner war, steht der Mensch mit seiner Körperlichkeit im Vordergrund. Bei Demokrit gibt’s nur noch Atome. Mir sitzt hier kein Willi Vossenkuhl gegenüber, sondern eben eine Anzahl von Atomen, die irgendwie ineinander verhakt sind. Glücklicherweise so, dass ich Dich gut erkennen kann.
Das hat so etwas - was den heutigen Naturwissenschaften gerne vorgeworfen wird - das hat so etwas Kaltes. Das Subjekt wird völlig ausgeklammert. Aus dem Phänomen wird eine objektive, aus Bausteinen zusammen gesetzte Wirklichkeit gemacht. Wünsche, Hoffnungen, Träume, Visionen, das gibt es alles nicht. Alles hat nur mit den Atomen zu tun.
Das ist natürlich auf der einen Seite eine außerordentlich coole Angelegenheit, auf der anderen Seite ist es aber Programm geworden. Dass man nämlich weggeht von der Einzelperson mit ihrem ganzen „Mensch, das wäre doch toll“, hin zu einer Wirklichkeit, die sich von jedermann, jederfrau messen lässt. Zu jeder Zeit, an jedem Ort in der Welt liefert es reproduzierbare Ergebnisse, damit man endlich weiß, worüber man eigentlich spricht.
An der Stelle haben Demokrit und Leukipp mit ihrer rein materialistischen Erklärung der Welt einen echten Durchbruch geschafft.
Vossenkuhl:
Es gibt eine schöne Stelle bei Aristoteles, an der er den Demokrit mit dem Parmenides vergleicht. Er zeigt, dass der Demokrit in die ganz entgegengesetzte Richtung marschiert. Bei Parmenides wird alles zu einer Einheit zusammengedacht, und bei Demokrit zerfällt alles in lauter Atome. Der Zerfall wird allerdings durch die Unteilbarkeit der Atome gestoppt.
Auch interessant ist, dass der Demokrit eine Raumtheorie hatte. Er war der Meinung, dass die Atome im Raum sind. Sie füllen den Raum. Aber der Raum ist leer. Starker Tobak, nicht? Das ist heute schwer zu denken.
Lesch:
Tja. Raum ist ohnehin schwer zu denken. Raum ohne Dinge lässt sich eigentlich nicht denken. Selbst wenn wir elektromagnetische Felder reinsetzen, es bleibt doch immer irgendetwas, in dem was drin ist. Ich glaube nicht, dass wir denken können, es gibt leeren Raum, so einen unendlichen leeren Raum. Es erscheint mir als eines der Experimente, die sich aus dem Vorschlag Demokrits, es gibt etwas Unteilbares, ergeben hat.
Seit Ende des 19. Jahrhunderts wissen wir: Es gibt die Atome und sie sind teilbar. Da gibt es die Elektronen, da gibt es die Atomkerne. Die Atomkerne sind wiederum aus Teilchen aufgebaut, nämlich Neutronen und Protonen. Die Neutronen und Protonen sind wiederum aus Teilchen aufgebaut, den Quarks – für die Experten: aus up- and down-Quarks. Bei denen haben wir den Eindruck, dass sie wirklich elementar sind. Quarks sind elementar und Elektronen sind elementar.
Es ist ja ganz lustig, dass ein Elektron nicht mehr genau geortet werden kann. Wir wissen auch nicht genau, wie klein ein Elektron ist. Sobald wir dem Elektron zu nahe kommen - und da komme ich zum Raum - passiert etwas im Raum. Die Energie, die wir reinstecken müssen, um diesem Elektron nahe zu kommen, ist so hoch, dass um das Elektron herum - gemäß der Relativitätstheorie - Paare aus Teilchen und Antiteilchen stehen. Das heißt der Raum, in dem es eben nur das Elektron gab, ist jetzt angefüllt mit Elektronen-Positronen-Paaren. Ein Positron ist das Antiteilchen vom Elektron. Es ist also positiv geladen, aber genauso schwer wie das Elektron. Wir sehen also gar nicht das wirkliche Elektron, sondern nur ein von dieser Wolke umgebenes Elektron.
Vossenkuhl:
Noli me tangere – fass mich nicht an.
Lesch:
Ja, genau, don’t touch me. Das ist ganz schlimm. Das passiert uns aber jetzt schon seit längerer Zeit, dass wir bei den Experimenten inzwischen so hohe Energien aufwenden müssen, dass wir kaum noch eine Chance haben, das Phänomen, dem wir irgendwie erkenntnistheoretisch und physikalisch nahetreten wollen, zu fassen zu kriegen. Wir sind da scheinbar völlig hilflos.
Wir denken natürlich heute Raum und Zeit auch nicht mehr getrennt.
Vossenkuhl:
Eben.
Lesch:
Aber immerhin kann man sagen: Bis zu Newton und ins 19. Jahrhundert war der Raum da.
Und Newton hat auch gemeint, dass der Raum zunächst einmal leer sei.
Und die Dinge sind da drin. Natürlich. Viele Vorstellungen sind zu Beginn der Neuzeit mit den Naturwissenschaften, die ja damals noch experimentelle Philosophie hieß, aufgetaucht. Man denke sich nur Newtons Buch als eine Sammlung von mathematischen Prinzipien der Naturphilosophie. Newton hat nie ein Physikbuch geschrieben, sondern immer nur naturphilosophische Bücher.
In diesem Sinne ist Demokrit natürlich der perfekte Vorläufer, der ein wesentlich stärkeres naturphilosophisches als naturwissenschaftliches Bild über die Welt abgeliefert hat.
Wenn er die Atome hat, brauchte er natürlich irgendein Gefäß, in dem sich diese aufhalten. Da liegt eine Raumtheorie nahe. Ich meine, man kann von keinem Menschen verlangen, dass er ohne Experimente über den Raum so nachdenkt, wie dann 2000 Jahre später Albert Einstein das getan hat.
Ich finde es höchst bemerkenswert, dass jemand so unglaublich stringent darüber nachdenken kann und das auch entsprechend formuliert: Da muss was sein. Dabei nimmt er auch noch einen erheblichen Verlust in Kauf. Er verliert ja alles, er verliert die Menschlichkeit, die Eigenschaften, die zum Subjekt gehören. Nur noch Atome, Atome, Atome.
Ich merke, dass Du mich unterbrechen willst. Aber das muss ich noch sagen: Die Atome sind quantenmechanisch tatsächlich nicht unterscheidbar.
Vossenkuhl:
Aha.
Lesch:
Also bei Atomen von einem Element, kann es sein, dass das eine mal ein Neutron mehr oder weniger hat. Aber wenn man diese Elementarteilchen nimmt, da kann man nichts machen, gar nichts.
Vossenkuhl:
Keine Identität? Nicht auseinander zu halten?
Lesch:
Nein, im Gegenteil. Wir Beide atmen im Moment Stickstoff und vor allem Sauerstoff ein. Diese Sauerstoff-Moleküle, die sich in uns mit dem Hämoglobin verbinden, sind austauschbar. Man stelle sich einmal vor, die wären so etwas wie schlecht oder gut gelaunt. Gott sei Dank sind sie das nicht. Sondern es gibt einen langen, ruhigen Ablauf an Atomphysik, der sich ständig in uns abspielt, auch jetzt.
Vossenkuhl:
Das ist sehr beruhigend. Während Du tief Luft holst, nutze ich meine Chance und gebe Dir Recht.
‘Kalt’ ist das Stichwort. Demokrit hat im Vorgriff oder besser vorausschauend etwas getan, was eigentlich erst im 17. Jahrhundert dann im Detail entwickelt wurde. Er hat nämlich unterschieden zwischen objektiven und subjektiven Merkmalen dessen, was wir erkennen können. Farben, süß, sauer, warm, kalt, das war für ihn subjektiv.
Das entsprach unseren sinnlichen Fähigkeiten. Für ihn war das nicht Natur, sondern das war nur unsere subjektive Wahrnehmung. Größe, Gestalt, Gewicht usw., das war objektiv. Insofern hat er schon noch gesehen, was subjektiv in unserer Wahrnehmung ist. Es war aber für ihn nicht materiell in irgendeiner Weise relevant. Es war eben unsere besondere Art und Weise, die Dinge wahrzunehmen. Bis im 17. Jahrhundert die britischen Empiristen ähnlich dachten, konnte man mit diesem Gedanken nicht so recht was anfangen.
Lesch:
Ja, wahrscheinlich nicht. Das lässt sich auch schwer der Welt der Klassik zuordnen. Wir werden ja etwas später über solche Leute sprechen wie Protagoras. „Das Maß aller Dinge ist der Mensch“.
Für Demokrit ist das offenbar nicht so. Sondern das Maß aller Dinge ist „atomos“, das Unteilbare. Und dann auch noch so weit zu gehen, sauber zu trennen, also im Grunde genommen eine genaue Analyse vorzunehmen, was eigentlich von dem, was ich aufnehme, in mir ist. Also, wie interpretiere ich eine Farbe? Ist der Wein rot und ist das Rot, was Du siehst, das gleiche Rot, was ich sehe? Da könnten wir uns nie darauf einigen.
Aber wir können gewisse Merkmale dieser Strahlung genau messen. Dann sind wir praktisch auf dem demokritschen Weg, wenn wir sagen: Diese Farbe Rot, die hat eine bestimmte Wellenlänge. Dann ist es ganz unerheblich wie Du das Rot siehst oder wie ich das Rot sehe. Sobald wir dieses Licht messen können, wissen wir, es handelt sich um die Wellenlänge XYZ.
Vossenkuhl:
Ja. Da kann uns keiner ein X für ein Z vormachen.
Lesch:
Das ist natürlich der große Vorteil.
Dieser argumentativen Stärke, dass man Dinge versucht zu objektivieren, der kann man sich kaum entziehen.
Vossenkuhl:
Ein schöner Nebeneffekt ist weiter: Wenn man das so objektiv fest machen kann, dann kann man sich ganz entspannen. Demokrit war wahrscheinlich der erste total Coole im neuzeitlichen Sinn. Ein cooler Denker. Der war ganz relaxed im Hier und Jetzt.
Das hat sich dann auch in seiner Ethik gezeigt, diese Wohlgemutheit. Sich zurücklehnen. So wie wir Beide gerade hier auf dem Sofa sitzen, so war seine ganze Grundhaltung. Was wollen wir uns denn groß aufregen? Das hat doch gar keinen Sinn. Die Dinge laufen so. Ja. Und so laufen sie eben.
Lesch:
Da kann ich natürlich ergänzend hinzufügen: Auch Physik entspannt. Wenn man sich lange genug mit Physik beschäftigt, dann wird man ganz ruhig. Man hält den Ball flach und denkt sich: Was soll der Quatsch?
Ich glaube schon, dass daraus ein enormes Vertrauen erwachsen kann. Aber das reicht eben nicht ganz. Materialismus oder dieser starke materialistische Teil seines Weltbildes kann nicht das Wesentliche für seine Freude am Dasein gewesen sein. Ich glaube, das war auch das gute Gefühl: Mensch, ich verstehe ein bisschen was von der Welt. Nicht die ganze Welt, aber so ein bisschen kann ich doch erklären. Damit kommt doch schon Freude auf.
Vossenkuhl:
Dass er so cool drauf war, drückte sich natürlich auch darin aus, dass er der Meinung war: In der Moral geht es im Wesentlichen darum, dass man das Seine tut. Er war nicht so unmenschlich, wie sich das vielleicht aus der Atomlehre ableiten lässt. Er hatte vielmehr ein klares Bild des Menschen. Der soll eben das tun, was sich gehört. Der Gerechte tut, was er soll, und der Ungerechte, was er nicht soll. So einfach stellten sich für ihn die Dinge dar.
Eine enge Verwandtschaft im Denken wird ihm zu Recht mit dem späteren Epikur nachgesagt. Aber er war kein Hedonist, kein Lusttheoretiker. Es ist sicher falsch, wenn man meint, dass dieser wohlgemute Mensch einfach nur auf Lust aus gewesen sei. Für ihn bedeutete Lust, das zu tun, was einem sittlich aufgetragen ist.
Lesch:
Jetzt benutzen wir die „Golden Gate“-Brücke: Wir nehmen den Materialismus von Demokrit und besetzen ihn durchaus positiv. Dann hat der Materialismus oder eine materialistische Weltsicht offenbar den riesengroßen Vorteil, dass man weiß, dass es in der Welt mit rechten Dingen zu geht. Man braucht nicht auf Wunder zu hoffen – auch nicht auf Götter. Es läuft alles so, wie es nur funktionieren kann. Ab und zu mag es mal einen Ausreißer geben, aber selbst das ist noch mit den Naturgesetzen in Einklang zu bringen. Mit diesem Rüstzeug führt kein Weg an einer gewissen Gelassenheit vorbei.
Vossenkuhl:
Einer großen Gelassenheit.
Lesch:
Ich habe aber nicht den Eindruck, dass wir bei unserer ganzen materialistischen Weltsicht heutzutage gelassener wären als das vor 500 Jahren der Fall gewesen ist. Eher im Gegenteil. Ich glaube, wir haben einen großen Teil von Vertrauen verloren. Wir stehen geradezu unter Kontrollzwang. Wir wissen zwar immer mehr von der Welt um uns herum, aber irgendwie kriegen wir es nicht mehr auf die Reihe, den Dingen zu vertrauen. Immer dieser Lenin mit seinem Spruch: „Vertrauen ist gut, Kontrolle ist viel besser“. Der Materialismus alleine scheint es nicht zu sein, der uns zum Glücke führt.
Vossenkuhl:
Aber wir werden ja bald sehen - und das war auch die Kritik von Aristoteles an Demokrit - dass es andere Sachen geben muss, die man so, wie er das tat, nicht erklären kann. Im Materialismus steckt ja auch drin, dass das Denken nur materialistisch erklärt werden kann.
Selbst die Denkvorgänge im Hirn sind atomare Prozesse, die für Demokrit so zu erklären sind, dass wir Atombildchen, also atomar zusammengestellte Bildchen im Kopf haben, die wir quasi durch die Bilder bilden, die wir sehen. Das ist ein Prozess. Was wir im Kopf haben, das bleibt dann da drin. So wissen wir, aha, Baum, Mensch usw. Das ist etwas, was in dieser Radikalität eigentlich erst wieder im 20. Jahrhundert so gedacht wurde.
Lesch:
Natürlich auch deshalb, weil es da gemessen worden ist. Diese griechischen Naturphilosophen hatten die richtigen Gedanken ohne diesen experimentellen Spiegel. Es ist unglaublich, aber es scheint immer wieder durch: Mensch, die haben die richtige Richtung.
Wie hängt das zusammen, dass 2000 Jahre später durch die technologische Entwicklung auf einmal diese Sätze fast gleichlautend wieder in der Literatur erscheinen? Geholfen hat sicher, dass man meinte, man könne das Denken messen. Ich muss aber klarstellen: Das, was man da misst, sind Bewusstseinszustände. Das ist nicht das Bewusstsein.
Vossenkuhl:
Das ist völlig richtig. Das ist ganz wesentlich, und das war natürlich auch dann die Kritik von Aristoteles und von vielen anderen an Demokrit. Er hat zu gewissen Phänomenen mit der Atomtheorie gar keinen Zugang. Oder wie hätte er wohl „das Schöne“ erklärt? Was ist schön?
Lesch:
Ja, was jetzt?
Vossenkuhl:
Oder „das Gute“. Was ist gut? Woher haben wir das? Was verbinden wir damit? In der Moderne hat man sich dann damit beholfen, es als Illusion einfach weg zu diskutieren. Die Antike hat sich das aber nicht gefallen lassen.
Lesch:
Daran hat sie auch recht getan. Denn das Schöne und das Gute, das sollte man sich doch nicht weglabern lassen. Auf keinen Fall. Und schon gar nicht weg argumentieren.
Vossenkuhl:
Offensichtich haben wir mit Demokrit einen Freund von Dir gefunden.
Lesch:
Unbedingt. Ein lachender Philosoph. Das muss ein Freund sein.
Vossenkuhl:
Also diese Wohlgemutheit, gelassen, cool, zurückgelehnt und wissenschaftlich auch ganz schön ausgeschlafen.
Vielleicht sollten wir noch einen kurzen Gedanken an seine Moral verschwenden. Er war schon der Meinung, dass die Moral eine Ordnung hat. Er war auch der Meinung, dass diese Verwirbelung der Atome eine Ordnung aufweist. Aber woher diese Ordnung in der Moral kommt …
Lesch:
Das konnte er auch nicht sagen.
Aber das kann man ihm nicht vorwerfen. Für einen Atomisten stellen sich gewisse Fragen nicht mehr. Da gibt es einen Anfang, über den man nichts sagen kann, weil man von vorneherein davon ausgeht, der sei schon da gewesen. Insofern ist man hier wieder an einem Punkt angelangt, an dem noch etwas dazukommen muss. In diesem Sinne hat der Demokrit wichtige Schritte in die richtige Richtung gemacht. Ich ziehe meinen Hut.
Vossenkuhl:
Es ist paradox: Gerade weil er so wichtige Schritte gemacht hat, ist er über Jahrhunderte mehr oder weniger ignoriert worden. Platon schweigt.
Aristoteles hat ihn zwar oft erwähnt, weil er viel von ihm übernommen hat. Ansonsten wurde Demokrit einfach ignoriert. Das kann wohl auch einem großen Denker passieren.
Unser Freund hätte diesen Sündenfall der Philosophiegeschichte mit Gelassenheit weggesteckt. Wohlgemut hätte er weiter seiner Lust gefrönt und getan, was zu tun war.