Читать книгу Mit Amor auf der Walze oder „Meine Handwerksburschenzeit“ 1805–1810 - Harald Rockstuhl - Страница 6
Vorweg einen kurzen Bericht
über meine Jugendjahre bis zur
Wanderschaft Ursprung und Zusammenhänge –
Die Lateinschule – Großfeuer – Singstunde –
Der erste Schmerz, Lehre und Gesellen würde –
Erfurt und die große Glocke – Ein Brandstifter
wird auf dem Scheiterhaufen verbrannt –
Die Tanzstunde und ihre Folgen –
ОглавлениеZur Welt gekommen bin ich in Langensalza am 4. September 1787. Meine Paten waren: Herr Hutters, Herr Miller und die Frau Bertlingen. Getauft hat mich der Magister Kranigfeld in der Bergkirche und dabei gesagt: „Ei, ei, ei! der Junge soll drei Tage alt sein? Das ist ja ein Kerl wie von sechs Wochen.“
Als ich ungefähr zwei Jahre alt war, starb mein Großvater Bechstedt im Alter von vierundachtzig Jahren. Während er an einem Butterbrote gegessen, hat ihn eine Art Schlagfluß getroffen und ist auch sobald tot geblieben. Er ist ein kleiner, etwas sonderbarer Mann gewesen, hat gern gelesen und geschrieben; es sind jetzt noch Schriften von ihm vorhanden. Ihm hat einmal geträumt, daß er an einem Baum hinauf in den Himmel geklettert sei. Die Schönheiten, die er da gesehen, hat er nicht genug beschreiben können. Petrus aber hat den Eindringling nicht eher wieder aus dem himmlischen Paradies hinausgebracht, als bis er ihm versprochen hatte, er solle ganz gewiß wieder hineinkommen, doch müsse er zuvor auf der Erde noch seine bestimmte Zeit leben. Da ist mein Großvater denn friedlich den Baum hinabgerutscht und aufgewacht.
Von diesem Traum muß etwas in seinem Gemüte sitzen geblieben sein. Meine Mutter erzählte manchmal, wie gleichgültig er den Verlust irdischer Güter aufgenommen habe. Auch hat er sich mit einigen anderen alten Bäckermeistern beim Spazierengehen um die Stadt zuweilen so verplaudert, daß sie in Jacken, Schürzen und Pantoffeln nach Gotha, auch nach Arnstadt zum Weizenbier gegangen sind, ohne zu Hause etwas davon zu sagen.
Der Vater meines Großvaters Bechstedt ist 1711 beim großen Brande in einem Backhaus hinter dem Rathause mit abgebrannt und sein Großvater (mein Ururgroßvater Bechstedt) ist Fuhrmann gewesen und hat in der Milchgasse gewohnt.
Meiner Mutter Vater (mein Großvater Scholl) war Böttchermeister. Ihm gehörte das Haus unter dem Berge, was jetzt der alte Schützenhaus-Vogelmacher, Wilhelm Bechstedt, zu eigen hat, dessen Ururgroßvater auch der Fuhrmann in der Milchgasse gewesen ist. Meine Mutter und der Pastor Scholl in Ufhoven, die beiden Kinder von Großvater Scholl, stammten aus seiner ersten Ehe. Er starb, als ich sechs Jahre alt war.
Mein Großvater Bechstedt hat noch einen Bruder gehabt; den haben die Preußen im Siebenjährigen Kriege par force zum Soldaten gemacht. Er ist ein äußerst geschickter, lebhafter Bursche gewesen und bald Unteroffizier geworden. Bei einem Scharmützel zeichnete er sich aus und wurde zum Husarenleutnant ernannt. Nach dem Kriege hat er um eine Zivilstelle angehalten, als Obereinnehmer in Halberstadt gelebt, geheiratet und einen Sohn und eine Tochter hinterlassen. Diese Tochter hat den Amtmann Bär geehelicht, welcher sich im Sommer 1800 vom Langensalzer Magistrat Auskunft erbat über die Verwandtschaft seiner Frau. Mein Vater nahm den Brief an sich und beantwortete ihn, worauf die Verwandten ihren Besuch ankündigten.
Daraus wurde indes vorerst nichts; mein Vater starb im Dezember desselben Jahres. Erst im Jahre 1804 kamen die Amtmann Bärs mit ihren zwei kleinen Jungen nach Langensalza und wohnten im Hause am Berge bei Vetter Wiegand – nach meinem Vater der nächste Verwandte, der ein Haus besaß. Sie blieben vierzehn Tage hier, waren vielmal zu Gast bei meiner Mutter und meine erste Ausflucht in die Welt ging zu ihnen, worauf ich später zurückkommen will.
Mein Vater und meine Mutter standen fast in gleichem Alter; beide sind 1753 geboren. Meines Vaters einzige Schwester war die Frau Köhler in der Treisch-mühle.
Meinen Eltern wurden sechs Kinder geschenkt, von denen zwei in jungen Jahren unverehelicht gestorben sind. Die anderen führe ich hier auf:
1 Katharina Sophie, geb. 1785, die jetzige Frau Minor hier.
2 Meine Wenigkeit, geb. 1787, der ich dies schreibe.
3 Eleonora Dorothea, geb. 1791, gest. 1857, verheiratet mit Pastor Köttner in Volkenroda, später Wiegeleben.
4 Johann Heinrich, geb. 1793, gest. 1850 an der Cholera, als Besitzer der Treischmühle.
Er hinterließ fünf Kinder: August, Anton, Heinrich, Eleonora und Lina.
Meine ältere Schwester, Frau Minor, hat keine Kinder. Meine jüngere Schwester, die Pastor Köttner, hatte drei. Davon starb ein Knabe klein und ein Mädchen unverehelicht. Das dritte, Lina, ist die jetzige Madame Klauwell, hinter dem Rathause.
Etwas roh und wild ging es wohl bei uns in den neunziger Jahren zu. Was die Älteren über die französische Revolution und den Krieg lasen, das spielten wir Schuljungen ihnen praktisch vor. Vor den Toren der Stadt, im Felde, schlugen wir aufeinander los, daß das Blut darein lief und warfen uns mit Steinen Löcher in die Köpfe.
Sobald ich zum Sextus, Herrn Ströhler, in die Schule kam, wurde ich angeworben und mußte unter dem Kommando des Generals Heinemann (jetzt noch lebender alter Cafetier) kleine Wagen mit Wurfsteinen beladen, hinter der Front herziehen, was stets Arbeit der Jüngsten war.
Zwei Jahre saß ich bei Herrn Ströhler, dann führte er mich und Andreas Koch, als seine zwei besten Schüler, zum Quintus, Herrn Ratz, hinüber. Auch draußen im Felde war ich befördert worden und als Unteroffizier schon manchmal mit Blutflecken und Beulen nach Hause gekommen. Wieder zwei Jahre saß ich nun in Quinta, bei Herrn Ratz, wo wir schon viel Latein deklinieren und konjugieren mußten; auch wurde fleißig Geographie getrieben, was meine Liebhaberei war. Herr Ratz, an sich ein ganz gescheiter Mann, schlief leider oft während des Unterrichts und wir waren viel zu böse Jungen, als daß wir dies hätten ungenutzt hingehen lassen. Es wurde allerhand Allotria getrieben und von vielen drolligen Geschichten will ich nur eine hier erzählen.
Auf dem Tisch lag die große Karte von Europa und die Neulinge sollten die Namen der Länder lernen. Herr Ratz sagte diese laut vor, indes er mit dem Finger auf das betreffende Land wies.
„Portugal!“ rief er laut. Darauf die Jungen alle: „Portugal!“ Nun rückte der Finger auf Spanien: „Hispania!“ – Das Echo: „Hispania!“ – Herr Ratz nickte. „Frankreich!“ –: „Frankreich!“ – Das Haupt des Herrn Ratz sank tiefer; doch als ein dummdreister Bengel namens Musbach lachte, bekam er eine Dachtel. „Dummer Junge, paß auf! – Deutschland!“ –: „Deutschland! Ach, das ist unser Land“, sagten einige Jungen. „Du, Friede” wo muß en da Langensalz liegen?“ – Herr Ratz neigte den Kopf sachte auf die Karte, seine rechte Hand rutschte fort und der Finger kam zu den Samojeden, während der gute Mann, seiner selbst kaum noch bewußt, „Italien“ rief. Da brach ein mächtiges Lachen los; Musbach war der tollste und schrie: „Herr Ratz, Herr Ratz, das ist ja Rußland.“
Nun fuhr der Lehrer auf und griff zum Stock. „Du Erzschlingel, du mußt Hiebe kriegen.“
Musbach duckte sich, verlor aber den Stock nicht aus den Augen. Des Gestrengen Arm hob sich. Unglücklicherweise kam ein großes Loch im Rock dabei zum Vorschein. Wie das Musbach sah, fing er fürchterlich zu grölen an: „Ach, das große Loch, ach, Herrjeses, ach, Herrjeses!“ ...
Herr Ratz konnte nicht zuschlagen; er drehte sich schnell um und rief ein paarmal: „Ruhe!“ – Wahrscheinlich hat er sich das Lachen verbissen, denn er war ein kluger und gutmütiger Mann.
In diesen zwei Jahren ging das Kriegspielen immer schlimmer fort; auch die Erwachsenen hatten Gefallen daran, wenn wir mit Trommeln und Fahnen zum Tore hinausmarschierten. Wir hatten uns in Franzosen und Deutsche geteilt und jede Abteilung war manchmal fünfzig Jungen stark. Die Leute eilten ans Fenster und die Clemenser Soldaten [vom kurfürstlich Sächsischen Regiment Prinz Clemens] riefen manchmal die Wache ins Gewehr, wenn es durchs Mühlhäusertor ging. Nur die vielen Blessierten wollten den Eltern nicht gefallen und mancher durfte deswegen nicht mehr mit. Mein Vater aber sagte: „Das schadet den Jungen nichts, sie lernen vorsichtig sein und kriegen Courage.“
Im Jahre 1797 nach Ostern fand das Examen für Quarta statt. Eine wilde Gewohnheit wollte, daß die Jungen, die aus Quinta nach Quarta versetzt wurden, sich mit dem Plumpsack durchschlagen mußten: Die Quartaner standen gewappnet im Gange; wir rückten scharf an, schlugen uns fürchterlich, trieben sie zurück und endlich zu ihrer Tür hinein, die sie fest hinter sich schlossen. Da wir die Tür nicht eindrücken konnten, so holten wir ein Scheit Holz aus dem Schulholzstall, rannten eine Füllung durch und die Tapfersten, Bayer, Heng und ich, krochen zuerst durch.
Wir bekamen zwar Beulen und blaue Flecken, machten aber die Tür auf und unser Korps drang ein. Nun schlugen wir uns noch eine Viertelstunde dermaßen, daß wohl keiner dabei war, der es nicht vier Wochen nachher noch gefühlt hätte.
So war die damalige Zeit. Jetzt geht’s anders zu – ob aber besser, das wage ich nicht zu beurteilen.
Der Herr Quartus Nohr verstand, sich in Respekt zu setzen und es ging nicht mehr so wild zu wie vorher. In der Hauptsache lernten wir Rechnen, Schreiben, Geschichte und Latein. Geschichte trug er erzählend vor und wir hörten alle gern zu, wenn er von der Entdeckungsreise des Kolumbus und anderen Abenteuern berichtete.
Wenn er einen verbundenen Kopf sah, verbot er uns zwar das Werfen mit Steinen, doch das Kriegspielen nicht, denn er war der Meinung, daß wir alle noch vor die Franzosen müßten. Er wußte uns auch an der Ehre zu fassen. Nur die rohesten Jungen bekamen Stockschläge. Die meisten deuchte es Strafe genug, wenn er einen mit seinen großen schwarzen Augen scharf ansah und dabei den Kopf schüttelte. Das hieß: ,Ei, ei, wie hast du dich vergessen ... Nun, ich hoffe, du wirst es nicht wieder tun.‘
Und wirklich! man nahm sich wenigstens fest vor, es nicht wieder zu tun.
Eine stärkere Strafe war das Knieen vor der Tafel, danach kam eine kleine Bank zum Alleinsitzen in der Ecke, die ‚Reue und Buße‘ überschrieben war und die wir nur die Jammerbank nannten. So ging ein Jahr hin.
Um diese Zeit fing ich an, mich fester an den Vater zu hängen. Er nahm mich mit, wenn er über Land ging, um Holz oder Schweine zu kaufen. Das Schulversäumnis schlug Herr Nohr nicht hoch an, denn er meinte, es sei auch Schule, so mit dem Vater über Land zu gehen. Als ich aber einmal dies nur vorgegeben hatte, in Wahrheit jedoch mit einem kleinen Kriegskorps als Hauptmann nach Schönstedt ausgerückt war, um die Bauernjungen zu verprügeln, mit denen wir im Kriege lagen, da hatte unglücklicherweise Herr Nohr meinen Vater gesprächsweise danach gefragt, ob er mich am Donnerstag mitgenommen habe.
Nun, es ging noch so ab. Von meinem Vater bekam ich ein paar Hiebe und die Aussicht auf gewaltige Schläge, wenn ich wieder Lügen ausheckte; Herr Nohr drohte mir mit der Jammerbank, auf der ich bis dahin noch nie gesessen hatte.
Um diese Zeit hielt mein Vater einen Gesellen, namens Christian Döbling aus Salzungen, der von guter Familie war und bei meinem Vater in Ansehen stand. Ich stand wiederum bei ihm gut angeschrieben und wir gingen zuweilen ohne meinen Vater über Land. Wenn es nun mal mit mir nicht richtig war, so half er mir durch. Später habe ich ihn auf meiner Wanderschaft besucht, was ich an seinem Ort erzählen werde.
Mein Vater und Nachbar Buschmann lasen Zeitungen; General Bonaparte, um den sich damals alles drehte, stand in Ägypten. Ein Buchbinderlehrling bei uns machte Bonapartehüte aus Pappe und blauem Zuckerpapier für achtzehn Pfennig. Wer von den Jungen soviel auf die Beine bringen konnte, der kaufte sich einen und setzte ihn auf, wenn’s zu Felde ging.
Am Kriegstor, auf der linken Seite, wenn man hinausgeht, stand früher das alte Torschreiberhaus. Der Torschreiber Bube, ein Mann von 50 Jahren, gab Unterricht in Rechnen und Schönschrift. Zu ihm brachte mich mein Vater im Jahre 1798, weil diese Künste in der Schule über Latein und Religionslehre etwas vernachlässigt wurden. Zwei Jahre lang habe ich an vier Abenden in der Woche die Nachhilfestunden beim Torschreiber zur Zufriedenheit meines Vaters besucht. Die Stube war klein. Wir lernten zu vier Knaben, wovon ich der jüngste war. Zwei davon sind mir noch im Gedächtnis: der Vater vom jetzigen Bürgermeister Kramer und Friede Köhler aus der Treischmühle. Mein Vater wollte nicht, daß ich auf Schönschrift zuviel Zeit verschwende, meine Mutter hingegen sah es gern: sie kaufte mir einen schönen Malkasten und alles, was dazu gehört.
Alle Frühjahr kam das kurfürstlich Sächsische Regiment Prinz Clemens hier auf sechs bis acht Wochen zusammen. Diese Zeit hieß die Exerzierzeit und war immer ein Ereignis für die Stadt. So sagte vielleicht eine Langensalzer Frau: „In welchem Jahre ich Hochzeit gehabt habe, darauf kann ich mich nicht gleich besinnen, aber es war in der Exerzierzeit, das weiß ich noch.“
In der Exerzierzeit im Jahre 1799 saß ich in Quarta hinter der Tafel als Erster, als eines Morgens früh 8 Uhr eine Magd hereinstürmte mit dem Rufe: „Ach, Herrjeses! in der Holzgassen brennt’s!“ Die Tür, die einwärts aufging, war bald verstopft – Tertia saß in derselben Stube – und die Lehrer konnten die Jungen nicht bändigen. Ein großes Fenster, das sich nicht aufmachen ließ, geht Prima gegenüber auf den Gang hinaus. Ich rannte mit dem Ellenbogen eine Scheibe durch, nahm die Scherben heraus und ließ mich hinunter. So war ich der Erste auf der sogenannten Städe gegenüber der Holzgasse. Von da konnte man auf das Dach des brennenden Hauses sehen. Zwischen allen Ziegeln luschten kleine Flammen heraus und aus den Bodenlöchern schlugen sie hoch und dick wie ein Bierfaß.
So etwas hatte ich nie gesehen und so gern ich gleich nach Haus gelaufen wäre, so hielt mich doch dieser fürchterliche Anblick gebannt, bis das Dach zusammenbrach, was keine zehn Minuten dauerte.
Da ein ziemlich starker Südwest blies, war das Mühlhäusertor in Gefahr. Einige Scheuern mit Stroh flammten zuerst auf. Meine Mutter konnte vor Bestürzung nicht viel anordnen; mein Vater hatte den Backofen geheizt und wollte eben backen, da ich kam. Als er hörte, daß das Feuer so groß sei und der Wind auf uns losging, kommandierte er zum Einpacken.
Die erste Lade, die zwei Mann trugen, mußte ich zum Tor hinaus begleiten mit strengem Befehl, nicht davonzugehen, bis mein Vater selbst hinauskäme.
Nicht lange hatte ich da gestanden, so kam das Regiment Clemens im Sturmschritt den Böhmenweg herein. Der Obriste schickte eine Abteilung zum Löschen, eine zum Retten und einen kleinen Teil ließ er unterm Gewehr zur Verfügung der Bürger und zum Bewachen ihrer Habseligkeiten, denn wohl aus vierzig bis fünfzig Häusern lagen die Möbel und Betten draußen. In unserm Hause war nur der eingemauerte Kessel zurückgeblieben.
Als ich meinen Posten eine gute Stunde behauptet hatte, meldete sich der Hunger. Die erste Lade war schon lange nicht mehr zu sehen und mit vielen anderen Sachen überbanst [überpackt, übertürmt].
„Dummer Junge“, sagte ein Soldat, „das Bewachen verstehe ich doch wohl besser als du. Geh, hol dir was zu essen und bring mir auch was mit und einen Schnaps dazu.“ Das tat ich denn auch auf der Stelle. Mein Vater kam selbst mit hinaus und gab mehreren Soldaten Branntwein und Semmeln. In den ersten Nachmittagsstunden war das Feuer getilgt und abends das hinausgeschaffte Gut wieder in unserem Hause.
Abgebrannt waren zwei Häuser in der Holzgasse, ferner von den Häusern bis zu Munds herauf, uns schräg gegenüber, die oberen Stockwerke nebst allen Hintergebäuden und Scheuern.
Um diese Zeit trug sich mein Vater mit dem Gedanken, ein neues Haus zu bauen und es kam auch so weit, daß der Neubau auf das folgende Jahr festgesetzt wurde. –
In Tertia wurden unter dem Kantor Kahlert, dem Vater, Singstunden abgehalten, die auch ich nun besuchte. Es gefiel mir ausnehmend da. Nach 16 Wochen – ich hatte mich in dieser Zeit an einen Mitschüler namens Christel Walter sehr attachiert – wurden wir in die Singchore versetzt. Bei der Auslosung kam Walter in den ersten und ich in den zweiten Chor. Im ersten Chor hieß der Anführer Präfektus, im zweiten Adjunktus. Zu diesen Würden stiegen nur die ältesten Primaner auf, die auf Schullehrerstellen hofften oder von hier aus auch gleich zur Universität abgingen.
Mein Adjunktus war Herr Meister, der später als Schullehrer nach Kirchheiligen kam; der jetzige Superintendent Meister in Heiligenstadt ist sein Sohn. Meister gab auch Privatstunden und mein Vater schickte mich dieserhalb zu ihm. Dadurch hatte ich einen guten Obern. Hinter dem Rathaus, vor Reichardts Hause, sang ich zum erstenmal Solo in einer Aria in motetta im Text:
‚Von des Frühlings Wunderdingen,
Wenn der Winter ausgetobt,
Dir ein Liedchen vorzusingen
Hab’ ich jüngst dir angelobt –‘ usw.
Auf diese Leistung hatte ich einen besonderen Stolz. Meine Stimme war ganz gut, aber ich konnte für Diskant nicht hoch satt [Thüringer Mundart: genug] hinauf und habe nur noch einmal, in der Bergkirche, vorn auf dem Chor Solo gesungen in dem Kirchenstück:
‚Machet die Tore weit und die Türen in der Welt hoch,
Daß der König der Ehren einziehe.‘
Nicht lange darauf mußte ich zum Alt übergehen. –
Im Frühjahr 1800 wurde unser Haus abgetragen; mein Vater kaufte noch das kleine Strümpflersche Haus dazu; unser Haus hatte schon zwei Nummern, so wurden alle drei in eins gebaut.
Das Kriegspielen ging noch immer fort, aber ich hatte keine rechte Lust mehr dazu. Damals hing ich gar sehr an meinem Vater und wenn er mir etwas auftrug, so konnte er sich darauf verlassen, daß ich’s pünktlich ausführte.
Bonaparte war Oberkonsul geworden und hatte die Schlacht von Marengo gewonnen, alles schwärmte für ihn; sogar die Schullehrer erzählten uns davon. Ich mußte meinem Vater und dem alten Buschmann zuweilen aus der Zeitung vorlesen; über die Lage der Länder und Städte wußte ich schon ziemlich Bescheid.
Den letzten Winter – 1799 auf 1800 – war ich auch jüngstes Mitglied in einem kleinen Theater geworden und hatte einigemal untergeordnete Rollen zu spielen. Außer mir wirkten noch verschiedene Schüler und vier Mädchen mit, darunter meine älteste Schwester. –
Im Juni 1800 wurde das neue Haus in Holz aufgerichtet und Friedrich Wenk, unser Nachbar vis-à-vis, hielt die Zimmermannsrede. Er stand neben einem großen Tannenbusch hoch oben und ich kuzte [Thüringer Mundart: kauerte] versteckt hinter ihm und machte den Souffleur.
In dieser Stunde kamen drei Nassauer Bäckergesellen vor das Haus, um zuzusprechen und ein Geschenk zu holen. Mein Vater brauchte einen Gesellen, war aber nicht gleich zugegen und meine Mutter sagte: „Die zwei Kerle haben abscheuliche Bärte, fragt doch den jungen, schmalen, ob er nicht Lust zu arbeiten hat.“ Es geschah! Und Christian Minor blieb bei uns. Die zwei anderen waren sein Bruder Wilhelm und einer namens Pelzer aus Bergnassau. Christian Minor zeigte sich geschickt und fleißig und war bald wie zum Hause und zur Familie gehörig.
Anfang September buken wir schon wieder im neuen Hause. Während des Baues hatten wir uns bei Verwandten und Nachbarn beholfen und die Bäckerei so gut im Stand gehalten, wie es ging.
Die Pfefferkuchenbäckerei nahm nun bald ihren Anfang. Jeden Tag wurde bis spät abends gearbeitet. Wenn meine Schul- und Lernstunden vorüber waren, tat ich ein Vortuch um, ging in die Backstube und half meinem Vater, wo ich nur konnte. Er litt an einem heftigen Husten, war aber robust und stark dabei. So ging der Oktober und November hin. Nun aber kam der Dezember; wir konnten nicht satt Pfefferkuchen schaffen. Mein guter Vater wurde krank und mußte endlich ganz von der Arbeit weg und im Bett bleiben. Zur gleichen Zeit lag meine ältere Schwester am Scharlach darnieder. Meine Mutter fiel fast über ihre Beine vor Müdigkeit und Gram und manche Träne mag zwischen die Pfefferkuchen gefallen sein, die sie den Käufern in die Körbe packte.
Ich kam nicht mehr viel aus der Backstube. Dr. Steller und Dr. Stolte waren täglich mehrmals im Hause und der Barbier Schnitzer saß am Bett bei meinem Vater und gab ihm die Medizin. Vielmal des Tages ging auch ich zu ihm, gab ihm die Hand und weinte.
„Bäckt denn der Christian gute Ware?“ fragte er dann wohl leise. „Ja, Vater“, sagte ich. „Nu mach nur hin und arbeite, bis ich wieder gesund bin, da sollst du wieder in die Schule gehn.“
Aber er wurde nicht mehr gesund. Am Abend vor seinem Tode hatte ich nicht aus der Kammer gewollt und war auf dem Fußboden eingeschlafen; die Gesellen hatten mich schlafend hinauf ins Bett getragen. Als sie mich die Nacht zur Arbeit weckten und ich nach meinem Vater fragte, wollten sie nicht mit der Sprache heraus, wodurch ich merkte, daß er tot sei. Als ich eine Viertelstunde bei meinem toten Vater in der Kammer gewesen war, da mußte ich wieder in die Backstube.
Den Sonntag vor Weihnachten wurde mein Vater begraben. Es war Glatteis, so daß gestreut werden mußte. Dies Leid ging vorüber wie alles in der Welt und nach und nach heilten die Gemüter.
Bis Ostern mußte ich noch zur Schule gehen, dann wurde ich der Backstube förmlich einverleibt. Meine Lehrjahre waren hart zu nennen in Beziehung auf die lang anhaltende Arbeit, die oft von zwei bis drei Uhr früh bis sieben bis acht Uhr abends dauert; doch die Einigkeit mit dem Gesellen Christian Minor, der sich unseres Geschäfts auf eine Weise annahm, die ziemlich einzig in der Welt dasteht, erleichterte alles wieder. Wir bekamen den Ruf als erste und feinste Bäckerei in der Stadt und Umgebung und meine Mutter konnte die 800 Taler, welche mein Vater auf Wort und Handschlag von seinem Freund Bertling zum Hausbau bekommen hatte, in wenig Jahren zurückzahlen, was mir große Freude und Lust zur Arbeit machte.
Da das Geschäft mit der Zeit immer mehr in Schwung kam, so mußte meine Mutter noch zwei Gesellen einstellen, wodurch ich etwas Muße zu meinen Liebhabereien gewann. Ich lernte Zither spielen und sang dazu, trieb Geographie und las gern Reisebeschreibungen – die Lust am Wandern fing schon damals an, sich bei mir festzusetzen.
Der Bruder von Musje Minor (so wurde nämlich nunmehro unser Obergeselle genannt) arbeitete in Gotha, etwa nach der Erntezeit im Jahr 1802. Wir hatten ihm einen Besuch zugedacht. Um im Geschäft nichts zu versäumen, fingen wir morgens eine Stunde früher zu backen an und waren um acht Uhr marschfertig. Von Fahren war damals keine Rede; das hieß zu großer Luxus, Chausseen gab’s auch noch nicht hier und bei schlechtem Wetter blieben die Fuhrleute manchmal zehn Stunden unterwegs von Langensalza bis Gotha.
Wir gingen über Henningsleben, Wiegeleben, Hochheim und Goldbach und standen gegen Mittag vor der Stadt. Weil es nun gerade Essenszeit war, wollte Minor nicht gleich seinen Bruder aufsuchen. Wir kehrten drum im Gasthof zum grünen Baum ein und ließen uns Mittagbrot und Bier geben. Ich hatte mir schon ein Tabakspfeifchen angeschafft und obwohl Minor das Rauchen ebensowenig vertragen konnte wie ich, pafften wir, bis das bestellte Essen kam. Nun aßen wir uns recht satt und dachten dann beim Bier noch ein Halbstündchen zu pausieren. Dabei fielen uns die Augen zu; einer nach dem anderen legte den Kopf auf den Tisch. Aber nun! was geschah?
Minor wacht auf, ist betäubt, rüttelt mich am Kopf, ich fahre in die Höhe, weiß aber in der ersten Sekunde nicht, was vorgeht, wir starren uns an – es brannte Licht in der Stube – die Leute lachten. „Nu, ihr Burschen“, sagte die Wirtsfrau, „guten Morgen auch!“ – Es war sieben Uhr abends.
„Was sind wir schuldig?“ – „Soundso viel.“
„Hier liegt das Geld“ – jeder griff zum Stock und wir schoben im Trab den Mohrenberg hinunter. Da es zehn Uhr schlug, waren wir nicht weit vom Lindenbühler Tor. Ungefähr 14 Tage darauf machten wir den Weg nach Gotha noch einmal und da glückte es besser. –
Um diese Zeit wurde in Langensalza die Seidenweberei stark betrieben; die Fabriken beschäftigten über 300 Seidenwirkergesellen und viel Geld war im Umlauf.
Im Böhmen [Vergnügungsort bei Langensalza] gab es oft große Schlägereien unter den Handwerksburschen, worunter auch Bürgersöhne waren. Die Folge davon war, daß die ärgsten Kampfhähne, sofern sie Landeskinder waren, Soldat werden mußten; ein ruhiger Bürgersohn wurde nie dazu angefordert. Wenn aber ein Vater aufs Rathaus ging und klagte: „Herr Bürgermeister, mein Sohn ist ein Schlingel, er kommt besoffen nach Hause, hat seine Mutter geprügelt, ja, sogar gestohlen –“
„Gut, gut“, sagte dann der Bürgermeister, „wie heißt der Sohn und wo ist er zu finden?“ „Da und da.“ – Der Mann ging nach Hause und der Bürgermeister schickte diese Nota dem Militärchef. Oft drei bis vier Stunden darauf kamen zwei starke Unteroffiziere mit derben Stöcken ins Haus, packten den Musje und nahmen ihn mit fort. Er mußte auf dreizehn Jahre zur Fahne schwören und wurde sogleich ins Regiment Prinz Clemens einrangiert.
Viele Soldaten wurden auch durch Handgeld angeworben; aber die mehresten wurden designiert, das heißt, sie wurden vom Magistrat der Militärbehörde als überflüssige, der bürgerlichen Gesellschaft schädliche Subjekte bezeichnet und dann zum Trommelfell kommandiert. Manchmal bekam einer Wind davon, versteckte sich vorläufig und floh bei Nacht und Nebel über die Grenze. Kam solch ein Ausreißer nach Jahr und Tag zurück und führte sich gut, so war das vergessen.
Das war eine löbliche Einrichtung. Wie schön wäre es, wenn kein Fürst der Erde die Macht besäße, Menschen mit Gewalt zu seinem Dienst zu pressen, ausgenommen etwa Sträflinge und anerkannte Taugenichtse; durch Handgeld fänden sich dann auch wohl noch Freiwillige. Auf diese Art wären die Armeen nicht so stark, das Morden und Totschießen nicht so groß und die Verluste zum größten Teil für die Menschheit kaum beklagenswert. Jedoch das sind desideria pia! –
Das Jahr 1803 war herangekommen; es war viel Leben in Langensalza; alle Geschäfte gingen gut. Zehn bis zwölf fremde Bäckergesellen hatten eine Brüderschaft gebildet und die Herberge in den Rautenkranz verlegt, wo auch die Färber und Hutmacher verkehrten.
In diesem Jahre kam ein hochwichtiger Tag für einen Lehrling. Im Juli wurden zwei Färber, Friedrich und Christian Jänisch, ein Hutmacher und meine Wenigkeit zum Ritter geschlagen, das heißt zum Gesellen gemacht. Wir gaben ein Abendessen und Musik bis Mitternacht, tanzten auch tüchtig mit, ob wir gleich kaum 16 Jahre alt waren.
Für mein Alter war ich sehr stark, aber meine Stärke in Schlägereien an den Mann zu bringen, wie in den Schuljahren, das fiel mir nicht mehr ein. Nicht nur, daß man etwas feiner geworden war! Ekel und Furcht vor den Folgen solcher Raufereien waren die Hauptursache, daß man sich zurückzog, sobald man merkte, daß die Bank herausgezogen und Stuhlbeine abgetreten werden sollten.
Um diese Zeit war’s, daß ich einmal ohne Erlaubnis nach Erfurt wanderte. Ich besorgte und packte mir eine Tasche, nahm den Stock in die Hand, kam morgens die Treppe hinunter und sagte: „Adieu, adieu! ich geh in die Fremde.“ Alle lachten, nur meine Mutter nicht. Sie sah mich sehr ernsthaft an und ich wäre beinahe beim Siechhof wieder umgekehrt, so verfolgte mich ihr Gesicht. Dies war die Ursache, daß ich zu einigen Bekannten, die mir begegneten, sagte: „Ich gehe nach Erfurt zum Besuch und bin in einigen Tagen wieder da.“
Nun marschierte ich frisch drauflos. In Erfurt arbeitete Friedrich Hesse, der bei meinem Vater sechs Jahre in Lehre und Arbeit gestanden hatte und 1798 in die Fremde gegangen war. Seit der Zeit war er öfter zu Besuch bei uns gewesen und ich wußte ihn wohl zu finden. Er freute sich über die Maßen, als er mich sah und stellte mich seinem Meister, bei dem er gut angeschrieben war, als seines Lehrmeisters Sohn vor. Ich griff gleich mit zu bei der Arbeit und schlief bei Friedrich Hesse im Bette.
Anderen Tags erzählte ich Hessen, daß ich mich zu Hause ein wenig gezankt hätte und so fast heimlich oder doch ohne Erlaubnis fortgelaufen wäre. Er sprach mit seinem Meister darüber; der brachte mir einen Bogen Papier, Feder und Tinte.
„Damit kannst du alles ins gleiche bringen“, sagte er, „bitte dir nur noch vierzehn Tage Urlaub aus; es soll mich freuen, wenn du sie erhältst und solange bei mir bleibst.“
Ich tat’s in einem langen, demütigen Briefe, den ich ihm vorlesen mußte. Drei Tage darauf kam die völlige Begnadigung von meiner Mutter mit Zugeständnis der erbetenen Frist.
Hesse war als Altgeselle bei der Brüderschaft und Fahnenspieler ein angesehener Bursche in Erfurt. Er zeigte mir die Stadt und wir sahen uns zusammen auch den Dom und die große Glocke an. Ein artiges Mädchen, anscheinend des Kastellans Tochter, führte uns. Ein Trinkgeld nahm sie aber weder von Hesse noch von mir.
Des Abends nun waren wir in Gesellschaft, da sagte eine Färberstochter: „Ei, Herr Hesse, wo haben Sie heute den jungen Herrn hingeführt? Sie kamen ja vom Dom herab.“ – „Ja, ja“, meinte eine andere und wollte sich halb totlachen. „Herr Hesse hat ihm die große Glocke gezeigt.“ „Wie hat Ihnen denn die große Glocke gefallen, junger Herr?“ fragte eine Dritte mit verstelltem Ernst, doch bevor ich antworten konnte, platzte sie beinahe vor Lachen.
„Ich hätte mir die große Glocke größer vorgestellt“, sagte ich schließlich. „Nun“, meinte die Färberstochter, „wenn sie mal ins Regenwetter kommt, wächst sie vielleicht noch ein bißchen“ – und sie kitterte in sich hinein. Ich begriff nichts von diesen Reden, die ich albern fand. Auf dem Heimwege gab mir Hesse die Erklärung. „Die infamen Mädchen haben der Mamsell da oben den Spitznamen ‚große Glocke‘ gegeben“, sagte er, „und weil sie so hübsch ist, haben sie ihren Ärger darüber, wenn man hinaufgeht.“
Nun verstand ich das Ding. Sonntag gegen Abend fanden wir uns auf der Milchinsel ein; es war Tanz da und ziemlich voll. Hesse stieß mich an: „Guck mal da ’nüber, links der Tür, kennst du die in dem schönen blauen Kleide noch?“ – Meiner Seel, es war die große Glocke.
Stracks ging ich auf sie los. „Kann ich die Ehre haben, Mademoiselle, mit Ihnen zu tanzen?“ (Fräulein war noch nicht Mode.) „Die Ehre ist auf meiner Seite“, sagte die große Glocke und lächelte. Wir kamen in ein angenehmes Gespräch; sie hatte mich sogleich wiedererkannt. Ich tanzte mich recht satt und Hesse, der seine Freude an mir gesehen, lobte meinen Tanz.
Mehrmals ging ich auch ganz allein in Erfurt spazieren. Der Wall war damals offen, man konnte um die ganze Stadt herumgehen. Ich verlief mich im Gewirr der Gassen, hatte aber die caprice, niemanden zu fragen und fand mich auch nach Haus.
So waren die vierzehn Tage bald hingeschwunden. Ich saß schon wieder in Gräfentonna und rauchte ein bißchen; denn ich wollte nicht bei Tage nach Hause kommen. Als ich Licht sah, trat ich in unsere Stube. Da saßen bald alle um mich herum und ich mußte noch eine Stunde erzählen.
Andern Morgens fabrizierte ich Erfurter Gebäck und brachte es meiner Mutter. Es verkaufte sich gut und wurde lange beibehalten, bis wieder andere Figuren es verdrängten.
Damals war ein Geselle aus Hirschfeld bei uns, ein Sohn wohlhabender Eltern. Er hieß Johann, wurde aber nur Hannchen genannt. Trotzdem er sechs Jahre älter war als ich, kapitulierte er schnell, wenn ich ihn packte und an die Wand drückte. Ich habe ihn später auf meiner Wanderschaft besucht. –
Meine Mutter kaufte dem alten Nachbarn Schütz sein Haus für 250 Taler ab; er reservierte sich aber die Parterrestube und den Laden auf Lebenszeit. In diesem Hause wohnte damals ein Chorschüler, Zwinkau, der gut Flöte blies. Ich bekam Lust dazu, kaufte mir solch ein Ding und nach drei Monaten blies ich wie ein Alter.
Oft war ich auch draußen in der Ufhover Pfarre. Mein Onkel galt viel in unserem Hause; und meine Mutter befragte ihn bei allerhand Vorfällen um Rat.
Wir schrieben nun 1804. Es war um die Zeit der Kirschenreife, als ein Bauer bei dem Weimar-Eisenachschen Dorfe Hitzelsroda lebendig verbrannt werden sollte, weil er fünfmal Feuer angelegt hatte. Der Tag der Verbrennung war festgesetzt und bekanntgemacht worden; von allen Seiten zogen viel tausend Menschen dahin. Auf einem großen Wagen, den der Fuhrmann Seiling in der Holzgasse bespannt hatte, saß des Morgens um zwei Uhr eine fidele Gesellschaft. Erinnerlich sind mir noch: Zwinkau, Bransener, Traubott, drei lustige achtzehnjährige Chorschüler, Minor, ich und meine Schwester, einige Freundinnen von ihr, auch ein Walter und Triembach. Wir fuhren über Graula.
Der Seiling hatte eine zwanzigjährige Tochter, Marth-Marie, die war groß und stark, aber ein bißchen dumm und sehr grob. Die Schüler hatten ihren Witz mit ihr; sie stand im Feststaat mit auf dem Wagen. Bransener ordnete eine Komödia an und verteilte die Rollen zum Donauweibchen. Sich selbst machte er zum Ritter Albrecht von Waldsee und sagte sehr höflich: „Liebe Jungfer Seilingen, Sie müssen aufpassen, Sie stellen Hulda, das Donauweibchen, vor.“ Das Donauweibchen schnitt aber ein falsch Gesicht dazu. Bransener belehrte weiter: „Wenn ich Sie gleich angeredet habe, so erwidern Sie: ‚nein, edler Ritter, heute nicht, kommen Sie morgen wieder!‘ “
So nahm also die Oper ihren Anfang, indes wir durch den Wald fuhren. Bransener faßte Posto vor seiner Hulda. „O Hulda, schöne Hulda, komm in meine Arme!“ – und er breitete die Arme weit aus. Aber Hulda sank nicht hinein, sondern schlug zu und gab ihm eine furchtbare Maulschelle.
„Dummkopf!“ sagte sie ganz trocken.
So hatte Bransener seinen Denkzettel vom Donauweibchen weg; seine Backe war feuerrot und angeschwollen. Zuerst wollte er heftig werden, sah aber bald ein, daß hier nichts zu machen war. Viele Jahre ist er mit diesem seltsamen Liebesabenteuer geneckt worden. Er kam später als Lehrer nach Kammerforst, wo er vor wenig Jahren gestorben ist.
Auf einem sehr großen Platze, vom Walde begrenzt, war der Scheiterhaufen kunstvoll aus Wellen [3–4 m lange Reisigbündel, mit denen die Backöfen geheizt wurden], Stroh und Scheitholz aufgerichtet. Unten liefen Gänge durch und eine breite Treppe führte hinauf. Die Zahl der Zuschauer, die hier zusammengeströmt waren, ist auf 40.000 – 50.000 geschätzt worden.
Unser Wagen hielt etwa 300 Schritte vor der Treppe; wir standen darauf. In vielen Dörfern wurden die Glocken geläutet; der Delinquent mußte wohl eine gute Stunde durch die bunte Menschenallee gehen, bis er zum Richtplatze kam.
Mehrere Pfarrherren begleiteten ihn bis an die Treppe, dann führten die Schinderknechte ihn hinauf. Oben drehte er sich herum; er war ein magerer, kreideblasser Mann von ungefähr 45 Jahren. Die Knechte schoben ihn zurück in eine Öffnung. Man sah, wie sie bald darauf Scheitholz nahmen und von oben in die Öffnung hineinstießen, die sie dann mit Strohschütten zudeckten. Alsdann stiegen sie hinunter, um anzuzünden. Es ward ein großes Feuer und der Rauch ging auf uns los. Da fuhren wir sachte fort, so gut, als es bei dem Gedränge möglich war. In einer Stunde kamen wir nach Eisenach, wo wir uns an Kirschkuchen labten und Schnaps dazu tranken.
Als wir auf dem Rückweg wieder am Richtplatz vorbeifuhren, war alles niedergebrannt, bis auf einen dicken, wohl zwanzig Fuß hohen Stamm, woran oben noch ein Haken saß, an welchem sie den Mann wahrscheinlich erhängt hatten. Man sagte, es sei in letzter Stunde noch die Begnadigung von Weimar gekommen, daß er nicht lebendig solle verbrannt werden.
Der Böhmen war damals der einzige Vergnügungsort bei Langensalza, aber immer so überfüllt, daß meist an Bier oder Gefäße gar nicht zu denken war. Viele nahmen sich deshalb das Nötige selbst mit hinaus, wenn sie auf den Böhmen wollten. – Der Rautenkranz war der eigentliche Volksgarten der Stadt. Da sah man ganze Familien auf dem Rasen sitzen und sich dort vergnügen, wenn die Lauben schon voll waren. Drei Kegelbahnen waren im Gang und immer besetzt und vorn in einer großen Stube stand ein Billard, worauf ich gelernt habe. Es wurde fast nur en quatre à la poule gespielt, ging lustig zu dabei und viel Spaß wurde getrieben. Einmal hatte ich im Billardspiel einen Hasen gewonnen, wählte von zweien, die an der Wand hingen, den schwersten, fand aber zu Hause, da er abgezogen wurde, einen tüchtigen Stein darin.
Das Kunststückemachen war damals sehr beliebt. Ich verstand, ein Geldstück verschwinden zu lassen und auf Verlangen der Zuschauer mußte es sich an einem Ort, den sie bezeichneten, wiederfinden. Diese Kunst hat mich später in den Wanderjahren in den Verdacht gebracht, ein Verbündeter von dem mit dem Pferdefuß zu sein.
Ein anderes Stückchen, das uns manchmal ein Dutzend Bouteillen Bier, auch einmal Wein einbrachte, war dies: wir suchten uns unseren Mann aus und wetteten mit ihm, daß wir ihn in einen Kreis von wenigen Fuß Durchmesser bannen wollten, so daß er nicht von der Stelle könnte, solange er den linken Daumen an die Nase halte. Darauf zogen wir mit Kreide einen Kreis um den Pfeiler, der in der Mitte der Saales stand, führten unser Opfer hinein und legten seinen linken Arm um den Pfeiler und den linken Daumen an seine Nase. Er war richtig gebannt, solange der Daumen an der Nase lag und hatte die Wette verloren. Mittrinken durfte er aber, soviel er wollte und konnte.
So ging die Zeit hin und das Jahr 1805 war da. Da ich gern tanzte, so konnte es nicht fehlen, daß ich die Bekanntschaft junger Mädchen machte und weil ein junger unbefangener, noch nicht spekulierender Mensch sich am liebsten zu denen hält, die ihm gefallen, erging es mir auch so. Aber meiner Mutter gefiel es nicht, als sie hörte, wo ich mich verfangen; sie meinte, das sei keine vorteilhafte Partie für mich zum Heiraten. Ich lachte aus vollem Halse dazu. Sie glaubte mir auch wohl, daß ich an dergleichen nicht denke, war aber der Meinung, dann müsse man sich auch nicht immer um eine und dieselbe halten oder gar ins Haus zu den Eltern gehen, wie sie von mir gehört habe – und so gab es manchmal kleinen Krieg wegen dieser Angelegenheit.
Ich hatte aus einem der vielen Bücher, die ich schon gelesen, den Grundsatz aufgegriffen, man müsse selbst aus den Übeln und Unannehmlichkeiten des Lebens noch Nutzen ziehen, indem man suche, ihnen die vorteilhafteste Seite abzugewinnen. Es lag nicht fern – und ich kam bald auf den Gedanken – daß meine Mutter, da sie mich von den Mädchen abziehen wollte, mir um so leichter die Erlaubnis zum Wandern geben würde.
Die Osterfeiertage, deren damals (so wie bei Pfingsten und Weihnachten) noch drei gefeiert wurden, brachten wieder Bälle und Gelegenheitstänze. Unser Obergeselle Minor (der auch mit in den Bürgergesellschaften war) und meine älteste Schwester sahen wohl, wie ich es trieb und so gab es wieder Vorwürfe von der Mutter. Nun trug ich wieder darauf an, mich in die Fremde ziehen zu lassen und endlich schickte mich meine Mutter zu ihrem Bruder, dem Pastor Scholl in Ufhoven. „Gehe hin und sieh zu, wenn’s der zufrieden ist, dann sollst du fortgehen.“
„Nein, das geht nicht, Christel“, sagte mein Onkel, „wenn Minor fortginge, wäre deine Mutter geschlagen.“ – „Aber Minor geht nicht fort“, drängte ich. „Nun, ich will hineinkommen und mit deiner Mutter und Musje Minor sprechen. Wenn er mir mit Handschlag angelobt, daß er deine Mutter nicht verlassen will, es sei denn, daß wir dich erst zurück hätten, so magst du hinlaufen.“
Nun wußte ich genug. Ich jubelte und sang bis nach Hause, sprach auch noch bei Vetter Scholl vor, dem wohlhabenden Böttchermeister und Holzhändler bei der Marktkirche, in dem Hause, welches jetzo die Frau Markraf besitzt. Er war mir gut und in seiner Jugend auch, wie er sich ausdrückte, ins Reich gewandert. Zur Konferenz fand er sich auch mit ein; Minor gelobte mit Handschlag, was mein Onkel begehrt hatte und nun ging’s ans Ausrüsten.
Der erste Reiseplan war schon lange bei mir fertig. Die Frau Amtmännin Bär war der glänzende Magnet, der mich anzog. „Vetterchen“, hatte sie oft gesagt, indem sie mich fest bei der Hand hielt, „Vetterchen, Sie sind mein einziger Namens- und Blutsverwandter, auf den ich meine Hoffnung setze. Wir wollen an unserer Bechstedtfreundschaft treu festhalten und Ihre erste Ausflucht aus Langensalza muß zu mir gehen.“ Dabei sah sie mich mit ihren schwarzen glänzenden Augen so freundlich an, daß ich das Zittern bekam. Damals war sie 25 Jahre alt, schlank, mittlerer Größe, sehr lebhaft und trug schöne Kleider. Sie glich meines Vaters Schwester, der Frau Köhler in der Treischmühle, die in ihrer Jugend die schöne Kathrin geheißen hat.
Der Tag meiner Abreise war bestimmt. Ich hatte ein verschließbares Reisebündel von schönem Kalbleder, das fertig gepackt 29 Pfund wog. Das schien mir, da ich auszog, nicht schwer, später empfand ich es jedoch manchmal anders.