Читать книгу Mit Amor auf der Walze oder „Meine Handwerksburschenzeit“ 1805–1810 - Harald Rockstuhl - Страница 8
Egeln – Magdeburg –
Neuhaldensleben – Auf dem Dözel –
Die Frau Muhme und die Frau Meistern –
ОглавлениеDie sehnsüchtigen Gedanken an Lenchen, die mich den ganzen Tag begleiteten, konnten mich nicht abhalten, immer drauflos zu marschieren. Abends, als ich in Egeln mit Fuhrleuten auf der Streu lag, schlief ich erst spät ein und träumte von dem lieben Kinde.
Am anderen Morgen machte ich mich frischgemut nach Magdeburg auf. Nachmittags um vier Uhr stand ich vor der Sudenburg. Die Gedanken an die Herberge, an die Brüderschaft, an das Aufwandern mit dem Hand-werksspruch, das damals noch gebräuchlich war und das Gefühl, zum erstenmal in eine große Stadt zu kommen, hatten Lenchen doch schon ein wenig in den Hintergrund gedrängt.
Ich fragte mich zur Herberge durch: „Mit Gunst, wo ist der frommen Brüder Feierstube?“ – Die Tür zum Tempel war mit Brezeln und Löwen bemalt. Dreimal klopfte ich an, doch niemand rief: „Herein!“ Da drückte ich auf und machte, ohne mich umzudrehen, hinter mir die Tür zu; denn jedes Versehen kostet drei Gutegroschen Strafe. Die Stube schien leer, doch hinter dem Ofen konnte trotzdem einer stecken, drum fing ich meinen Spruch an: „Mit Gunst, Ihr Brüder, ich grüße Euch von dem Altgesellen aus Erfurt, wegen der Brüderschaft. Mit Gunst leg’ ich mein Bündel ab.“
Und richtig! hinterm Ofen kam ein alter, wohl fünfzigjähriger Stromer hervor, reichte mir die Hand und sagte: „Willkommen, frommer Bruder aus Erfurt! He, he! Du bist noch infam jung, hast aber deine Sache gut gemacht. Hast du schon mal Brüderschaft geboten?“
„Ja, in Erfurt“ – „Wer ist das Altgeselle?“ – „Hesse aus Langensalza!“ – „Richtig, das trifft. Na, mach dichs bequem und setz dir nieder. Siehst du, Brüderchen, solche Bürschchen wie du bist, die mußten sonst Strafgelder bezahlen, sie mochten’s machen, wie sie wollten; aber das tue ich nicht. Junge Bursche, die was haben, geben ein doch manchmal was.“
„Guter Bruder!“, sagte ich, „du kannst mir auch wohl einmal Bescheid sagen; hier hast du was für dein wohlwollendes Herz“ und gab ihm ein Achtgroschenstück. Er schnappte nach Atem.
„Du bist ein herrlicher Junge! Wenn ich sage ,Junge‘, so ist das gut gemeint, verstehst du mir. Du bist ein echter Geselle und hast Manier gelernt in der Welt. Ich will dich Bescheid sagen in allen Dingen; auf mir kannst du dir verlassen. Keiner von den anderen soll dich ein Haar krümmen!“
In der Tat, ich hatte es gut getroffen mit diesem Alten, der kein schlechter Mann und eine Art von Autorität in der Herberge war. Es kamen wohl noch zwölf bis sechzehn Bursche, alt und jung, auf die Feierstube, doch fand ich keinen darunter, an welchen ich mich hätte enger anschließen mögen.
Beim Abendessen, unten in der Gaststube, fragte ich die Frau Mutter, ob ich nicht ein Bette für mich allein bekommen könne. „Ein Bette?“ – sie sah mich groß an, „ja, das können Sie wohl bekommen, aber da müssen Sie’s aparte bezahlen – vier Gutegroschen! Wenn Ihnen das recht ist, so will ich’s Ihnen zeigen, später habe ich keine Zeit.“
Es war eine kleine Kammer hinten hinaus. Die Frau Mutter versicherte mir, das Bett sei rein; ein Licht müsse ich mir selber besorgen. „Da, haben Sie den Kammerschlüssel!“ – Und die geschäftige Frau Mutter so vieler frommen Brüder lief davon.
Als wir abends aus der Kneipe kamen, sagte ich zu meinem Alten: „Höre, Bruder, darf ich denn nicht mein Bündel mit auf meine Kammer nehmen?“
„Donnerwetter, Brüderchen, der Teufel soll den holen, der dich was sagen will, davor bin ich da.“
„Bruderherz“, sagte ich, „morgen führst du mich ein bißchen in der Stadt herum, daß ich was sehe.“
„Sapperamenter, Junge! Das heeßt, wenn ick sage, Junge – na! Du verstehst mir schonste, gute Nacht, Brüderchen.“ Ich nahm mein Felleisen und wollte hinaus.
„Halt! wo will der mit dem Bündel hin?“ schrie ein langer Stralsunder. „Ruhe!“ rief mein Alter. „Was, der denkt wohl, hier gibt’s Spitzbuben“, grölte der Lange. „Ruhe, sag ich Euch; er hat mir um Erlobnis gebeten; er will morgen frische Kleeder anziehn.“ – „Aha! Das ist so en Krautjunge von der Henne“, hörte ich noch den Stralsunder sagen, der nicht viel jünger war als mein Alter, aber nicht dessen gutmütigen Charakter hatte.
Den frisch gekauften Wachsstock brannte ich unten in der Gaststube an. „Das ist der Bursche“, sagte die Frau Mutter zu einem Manne, den ich sogleich für den ihrigen hielt. „Sind Sie der Herr Vater?“ fragte ich. „Jawohl, mein Sohn, du bist wohl noch nicht lange in der Fremde, he? Wo bist denn her?“ – „Aus Langensalza.“ – „Aha, ein Thüringer! Na, was du essen und trinken willst, kannst du alles bei mir haben, gute Nacht.“
Zuerst dachte ich an Lenchen im Bette; aber allmählich mischte sich das Bild der schönen Frau Amtmännin Bär dazwischen. Übermorgen wirst du dort sein, dachte ich. Ihre freundlichen Worte damals, ihre Umarmung und der Kuß hatten mir ein Vierteljahr lang in den Gliedern gelegen.
Es war ein schöner Tag, der erste Pfingstfeiertag 1805. Um sieben Uhr früh ging ich schon mit meinem Alten nach der Zitadelle, dort arbeiteten in der Kommißbäckerei viele Bäckergesellen, die er kannte. Zum ersten Mal sah ich die breite Elbe und die vielen Schiffe drauf und konnte mich nicht satt gucken. Nun mußte ich mit dem Alten Schnaps trinken und ein Würstchen essen, was ich freilich bezahlte. Auf der Zitadelle, in dem Gebäude, wo die Backöfen standen, schufteten die Gesellen noch bis zehn Uhr, wie sie sagten. Einige kamen auf meinen Alten zu, der sich heute ein wenig angeputzt hatte. „Na, alter Schweriner, was bringst du uns? Kommt Ihr von der Herberge, ist der da auch Bäckergeselle?“
„Det versteht sich, Bruder“, sagte der Schweriner. „Det is och en Löwenschütz [Ist eine über ganz Deutschland verbreitete Bäckervereinigung, die eine Brezel, von zwei Löwen gehalten, als Wappen führte.] aus Langensalza in Thüringen.“ Nicht lange darauf kam einer auf mich zu, der mir bekannt vorkam.
„He, Christel Bechstedt, bist du davongelopen? Hast der mit dem Minor überworfen, was? Ja, mit dem konnt ich mer och nich verknusen. – Donnerwetter, bist du en Schlaps geworden! Na, kennst mer noch?“
„Ja“, sagte ich, „du heißt Bernhard Dienemann.“
„Alle Hagel, der Junge kennt mer noch!“ Jetzt sperrte er die Arme aus und wollte über mich her, aber der Alte fuhr dazwischen. „Biste närrisch, Strelitzer, du siehst doch, daß sich der geputzt hat, du alter Mehlsack.“ – „Hast recht, alter Schweriner!“ – Ich mußte Dienemann nun erzählen, wie alles bei uns stände. Er war 16 – 18 Wochen bei uns gewesen und war ein ehrlicher Kerl und tüchtiger Arbeiter; aber er wollte mehr Freistunden haben. Wenn er am Sonntag nachts um zwei oder drei vom Tanzboden kam, wollte er montags nicht viel arbeiten, da schickte ihn Minor fort. Am angelegentlichsten erkundigte er sich nach Buschmanns Magd und malte sie seinem Kameraden als ein Prachtmädel ab. „Der habe ich versprochen, sie zu heiraten, denn sonst wollte sie mir nicht lieben, verstehste – aber das kennst du noch nicht, Bruder Christel.“
Ich holte tief Atem und dachte an Lenchen. –
Um zehn Uhr zog sich Dienemann recht fein an und ging mit fort; zu Mittag aßen wir auf der Herberge und ich hatte viel Mühe, daß er nicht selbst bezahlte. Dann sahen wir uns den Dom und noch ein paar Kirchen und die Festungswerke an; abends saßen wir wieder in der Kneipe. Beim Nachhausegehn zeigte er mir verschiedene Gassen und warnte mich: „Höre, Bruder Christel, laß dir nicht von die jungen Kerls verführen und gehe nicht mit dahin, wo ein Mensch sich sein Unglück holen kann. Hier gibt es Schandnickel – “
„Trag du keine Sorge, Bruder Bernhard, ich gehe morgen früh schon wieder fort.“ – „Eh, wo willst denn hin?“
„Zu Verwandten nach Neuhaldensleben.“ – „Ja so! ob de Vetterstrate [Vetternstraße]! Na, da haste och recht; wenn du enmal zweiunddreißig bist, wie ich, da gehste nicht mehr in der Fremde rum, was?“ Er nahm nun gute Nacht und empfahl sich.
Mein alter Schweriner ging nach der Feierstube, sagte aber erst: „Brüderchen, sis en Wort! Morgen bring ich dir auf den Weg nach Neuhaldensleben, gute Nacht!“
Den andern Morgen suchte ich gleich die Feierstube auf, bot jedem die Hand. „Guten Morgen, Brüder! will einer mit abwandern? In einer Stunde gehe ich fort.“ – „Nein, Brüderchen“, sagte ein kleiner dicker Spandauer, „heute jeht doch noch keener.“ Alle waren artig; ich fragte nach dem Schweriner.
„Das alte Pferd liegt noch hinterm Ofen auf seinem Grundstück“, sagte der Stralsunder, ging hin und stieß ihn mit dem Fuße an. „He, Bruder Schweriner, steh auf! Dein Urenkel ist da, du sollst ihn zur Frau Muhme führen.“ Ich tat, als hörte ich es nicht. „Adieu, Kameraden, lebt wohl, auf Wiedersehen!“ – Damit machte ich, daß ich hinunter in die Gaststube kam, wo ich bei der Frau Mutter zwei Portionen Kaffee bestellte.
Nachdem ich eine halbe Stunde zum Fenster hinausgesehn hatte, kam auch mein Alter mit Rock und Stock, Hut und gewichsten Stiefeln an, trank mit Kaffee und eine Stunde darauf standen wir auf dem Neuhaldenslebener Wege, umarmten uns und nahmen zärtlichen Abschied voneinander.
Nun war ich wieder allein mit meinen Gedanken. Der nächste schweifte zurück zu den Pappelbäumen bei Quedlinburg. Vorgestern um diese Zeit – ach, Lenchen klopfte derb an mein Herz! Aber Luise Bechstedt, die schöne Frau Muhme, zog auch, jedoch auf eine andere Art, die ich mir damals noch nicht erklären konnte. Nachmittags um vier Uhr stand ich im Neuhaldenslebener Gasthof vor dem Spiegel; der Hausknecht hockte mein Bündel auf und schlug den Weg nach dem Schulenburgischen Gute, dem „Dözel“, ein – ich hinterher.
Wir kamen in einen großen Hof hinein und auf meine Frage nach dem Herrn Amtmann wies man mich zu seinem Wohnzimmer. Jetzo wurde ich den Amtmann gewahr; er kam aus einem Seitengebäude, ich ging auf ihn los, grüßte ihn und sagte: „Ich bin aus Langensalza.“ – „Alle Teufel! das ist ja Vetter Bechstedt! Na, kommen Sie nur gleich mit zu meiner Frau, die schwatzt alle Tage von ihrer Verwandtschaft!“
Er faßte mich derb bei der Hand; wir waren noch zehn Schritte vor der Tür, da ging sie auf und wer trat heraus? – Ach! ich schnappte nach Atem. „Vetterchen, Vetterchen Bechstedt!“ kam die Muhme gesprungen, mir geradezu um den Hals.
Der Amtmann ließ mich fahren und lachte, was er konnte. Sie zog mich bis in die Stube aufs Sofa und drückte und küßte mich noch ein paarmal, bis der Amtmann wieder dazu kam. Nun ging’s Erzählen los. Nachdem ich alles aus Langensalza berichtet hatte, sollte ich auch meine achttägige Fußreise beschreiben.
Armes Lenchen! von dir durfte ich nichts sagen, das tat weh; aber desto mehr dachte ich an dich, wenn ich allein war. Und doch hörte dies Nachseufzen allmählich auf; nach einem halben Jahr bedrückte es meine Seele nicht mehr, wenn ich an Lenchen dachte; es blieb mir nur eine leichte und schöne Erinnerung.
Nach einigen Tagen war ich auf dem Dözel eingerichtet, hatte eine Kammer für mich, schrieb einen langen Brief nach Hause, ging mit dem Vetter fleißig auf seine Länderei und bat ihn, mir was zu tun zu geben. Ich mußte dann mit dem Hofmaier und später auch öfter allein nach Tost und nach Liberitz gehn, zwei Vorwerken, die auch zum Gute gehörten, jedes etwa eine Stunde entfernt.
Der Amtmann war ein kluger Ökonom, ein bißchen derb, aber gutmütig; er sprach mit den Leuten stockplatt. Auch die Muhme sprach plattdeutsch mit ihren Mägden, was ich von ihrem schönen Schnabel und bei dem Nachtigallklang ihrer Stimme für mein Leben gern hörte. Der älteste, vierjährige Junge konnte nichts anderes als Plattdeutsch und der kleine von zwei Jahren machte auch schon: „Vetter Becktät.“
Nach und nach wurde ich gewahr, daß die Frau Muhme gar sehr hitzig, ja boshaft werden konnte. Ich bin dazugekommen, daß sie vor der Stalltüre eine Magd bei den Haaren hatte und so furchtbar abpatschte, daß deren Kopf noch einmal so dick und fuchsrot wurde. Da ertönte die grell klingende Pfeife des Amtmanns, die er stets in der Tasche trug, die Magd kriegte noch eine Zugabe – und die Frau Amtmännin ging mit scharfen männlichen Schritten auf ihre Stube.
Ich ging auch, aber zum Tore hinaus, traf auf den Hofmaier und deutete von dem eben Erlebten etwas an. Er meinte, die Magd sei zwar ein sehr leichtsinniges Mädchen, das die Schläge wohl verdient habe, aber die Frau Amtmann sollte sich doch mehr beherrschen. Es käme sonst kein ordentliches Mädchen mehr ins Haus, sondern lauter freche Deerns, die sich durchbissen und nicht einmal ehrlich wären. Er wollte mir noch mehr solche Dinge erzählen, doch mir war, als schicke es sich nicht für mich, das anzuhören.
Ich ging ins Backhaus, wo ich noch Brot im Ofen hatte. Gleich in den ersten Tagen schon hatte ich den Brotteig gemacht, den Ofen geheizt, eingeschoben und ausgebacken und da das Brot recht schön geraten war, glänzte die Frau Muhme im ganzen Gesicht vor Freude. Bei solcher Gelegenheit kriegte ich einen Kuß und ein paar Patsche auf die Backen von ihr, denn sie behandelte mich wie ihr Kind, obgleich sie mir nicht vorkam wie meine Mutter.
Einstmal hatte ich auf dem Vorwerk Tost zu tun, da sagte ein Knecht: „Dort kimmt de Fru Amtmann!“ – „Ei, wo denn?“ fragte ich. „Dort uf em Pferd.“ Wahrhaftig! Sie kam geritten wie ein Husar. Bein nüber und rüber; denn sie hatte Hosen an und nur ein leichtes Röckchen drüber her. Sie hielt nun Revision in allen Ecken; dann schrieb sie einen Brief, den mir die Wirtschaftsmagd herausbrachte. „Sei söllen glicks te Huse gahn un dit den Herrn bringe, het Fru Amtmännin segt.“ Ich sah mich um, die Muhme winkte mir aus der Bodenluke freundlich zum Fortgehen.
In einer halben Stunde stand ich vor dem Amtmann. Er las und lachte. „So ist sie, alles will sie strikte nach ihrem Kopfe haben. Es täte not, ich käme nun gleich hin und prügelte die Leute – und das geht doch nicht an.“ Er fügte noch hinzu: „Das schöne Erbstück des Jähzorns hat sie von ihrem Vater“ (dem Bruder meines Großvaters Bechstedt), „der ein gar grimmiger Hitzkopf gewesen ist. Im Siebenjährigen Kriege hat er Glück gehabt mit seiner Hitze und ist rasch zum Leutnant avanciert, aber als Obereinnehmer in Halberstadt hat sie ihm manchen Taler gekostet, daher er denn auch nichts hinterlassen; der Sohn hat Grobschmied werden müssen und die Tochter ins Waisenhaus spazieren.“
Das hatte seine Richtigkeit. Im Waisenhaus hat sie so gut Rechnen und Schreiben gelernt, daß sie mit dem fünfzehnten Jahr schon in einen Ladendienst eintreten konnte. Von da ist sie auf ein großes Gut als Wirtschafterin gerufen worden, wo der wohlhabende Herr Verwalter Bär sie kennenlernte und sich in die schöne Luise verliebte. –
Am Dözel fließt die Ohre vorbei, ein Fluß wie unsere Unstrut, geht auf Neuhaldensleben, treibt mehrere Mühlen und zieht sich nach der Elbe. Zwei Stunden weit hatte mein Vetter die Fischerei; diese Strecken fuhren wir mit einem Kahne, den sechs bis acht Tagelöhner zogen, dem Wasser entgegen. Drei- bis viermal wurden Garne quergestellt und bei der Rückfahrt ein Streichgarn nachgezogen vom Kahne bis ans andere Ufer reichend, wo ein Tagelöhner im Wasser gehen mußte. Bei jedem Quergarn wurde Halt gemacht und die Fische herausgeholt. Es gab sehr viel Fische von allerhand Sorten. Bei dem Zufahren mußte immer an den Ufern ins Wasser gestoßen werden mit Stangen, woran hohle Klötzer waren, damit die Fische hervorkamen und mit dem Streichgarn vorwärts nach dem Quergarn zugetrieben wurden. Am Kahn war ein großer Fischkasten festgemacht, der wurde auf die Letzte ganz voll.
Am Abend war Fischschmaus. An die dreißig Leute, Tagelöhner, Knechte und Mägde, der Hofmaier an der Spitze, bekamen vollauf Fische und Weißbier. Am Herrentische aber gab’s ein gut Glas Wein und die Fische waren delikat zubereitet, worin die Frau Muhme Meisterin war.
An demselben Abend noch sah ich vom Fenster herab, daß die Frau Muhme ein gesattelt Pferd herausführte und zu ihrem Manne sagte: „Da, Vaterken, riete, riete! Dau kannst et glefen, et is wieder nix, als dau hetst en betten tofehl fräten.“ Und so war es auch; denn er war ein sehr starker Esser; am anderen Tage schien er wieder ganz munter und gesund.
So schwanden wohl vierzehn Tage hin wie ein schöner Traum. War ich allein, so dachte ich an Langensalza, Mutter und Geschwister und an meine große Reise durch das Harzgebirge und Lenchen strahlte darin wie ein glänzender Diamant. Eines Nachmittags mußte ich der Frau Muhme was vorlesen, indes sie Hosen flickte. Da kam es mir an, ihr zu erklären, ich sei nun lange genug da und wolle weiterreisen. Aber sie verbot mir geradezu das Maul, als ob meine Rede albernes Geschwätz wäre. Übern Hof kam jetzt ein Mann auf uns zu gegangen. „Vetterken, da kömmt auch ein Bäckergeselle. Der führt das Werk einer Witfrau in Neuhaldensleben und war schon oft hier, um mit Weizen zu handeln.“
Sie stellte mich ihm vor. „Du bist aus Langensalza?“ fragte er. „Ei, da habe ich vor vier Jahren auch gearbeitet, bei einer Frau Reichhardt am Erfurter Tor. Bei deiner Mutter war damals ein ganz junger Bursche. Sie hat wohl wieder geheiratet?“
„Nein, guter Freund, aber derselbe junge Bursche ist noch bei uns,“ und nun mußte ich erzählen und fragte ihn auch, ob es hier für mich keine Arbeit gäbe. Er wußte einen Gesellen, der nur darauf wartete, daß sein Meister Ersatz für ihn fände und als der Mann meiner Frau Muhme auf ihr Befragen erklärte, die Arbeit sei nicht zu schwer für mich, durfte ich mit zu dem Meister gehen und die Sache wurde richtig gemacht.
Den folgenden Tag trat ich ein. Der Meister war ein magerer schwärzlicher Mann von etwa vierzig Jahren, sehr rüstig und arbeitete alles mit. Die Arbeit wurde mir leicht bis auf das schnelle Kringelspinnen (l-Pfennig-Brezel machen und schließen), doch nach acht bis zehn Tagen kam ich dem Meister darin ziemlich gleich. – Es lag eine Eskadron Kürassiere in der Stadt und wir hatten das Kommißbrot zu backen. Ich war so ungeheuer stark und kräftig, daß ich mich vor nichts fürchtete und bin manchmal bewundert worden, wenn ich den großen Teig so bald fertig hatte oder die schweren Bretter so leicht auf- und herunternehmen konnte. Nach vierzehn Tagen wurde Lohn gemacht; ich bekam sechzehn Gutegroschen pro Woche.
Außer der Frau und einem Kinde von zwei Jahren war der vierund-achtzigjährige Vater des Meisters im Hause, der noch Kommißbrot wirkte wie ein Junger, ferner waren ein Knecht und zwei Dienstmädchen da. Es wurde auch Ökonomie getrieben; zwei Pferde und Kühe standen im Stall. Die fünf oder sechs Bäckergesellen in der Stadt lernte ich bald kennen. Der jüngste von ihnen, Heinrich, der eine gute Schulbildung besaß, arbeitete bei einem Pfefferkuchenbäcker Wiegemann. Wir besuchten einander und so wurde auch ich mit seinem Meister bekannt, der ein ungemein geschickter Honigküchler war; ich werde später darauf zurückkommen.
Im allgemeinen gefiel es mir wohl in meiner Stelle, nur einmal bekam ich das Heimweh. Ich mußte nämlich auf einem Dorfe mahlen. Die Mühle hatte nur einen Gang, ich also nicht viel Arbeit und die Leute dort sprachen so erschrecklich Platt, daß ich sie nicht verstehen konnte. In dieser Einsamkeit wurde mein Herz furchtbar beklemmt. Ich bekam eine Angst und beinahe Zittern, daß ich nicht wußte, wohin und wo bleiben. Wenn ich mich auf einen Sack legte und die Augen schloß, so sahe ich meine Mutter und Schwestern, wie sie mir winkten. „Komm Christel, komm!“ Ich sprang wieder auf, setzte mich hierhin und dorthin, fand aber nirgends Ruhe, kurz, der Zustand dauerte zwei Stunden lang, bis mein Essen kam, das mir die Frau Meisterin selbst brachte, weil, wie sie sagte, sie hier beim Dorfe Land hätten, was sie besehen wolle.
Sie sprach mir freundlich zu und tröstete mich, das Dorfmahlen würde nicht lange mehr dauern, da das Mühlwehr bei der Stadt bald fertig sei. Dabei gab sie sich viel Mühe, gut Deutsch zu sprechen, obgleich das Platte immer dazwischen kam. Während sie zu den Müllersleuten in die Stube ging, machte ich mich stark über mein Essen her, worauf mir wirklich besser wurde. Dann beschüttete ich meine Mühle frisch und setzte mich draußen auf die Bank.
Die Frau Meisterin wollte gleich wieder fort, saß aber doch bald neben mir auf der Bank und fragte mich unter anderem, wie ich mit dem Herrn Amtmann Bär verwandt wäre. Ich erzählte und da sie alles ungeheuer hübsch und interessant fand, ging das wohl eine halbe Stunde so fort. Dann sprang sie auf. „Ne, det is to tolle, Muske Willem, da könnt mer wohl zwei Stunne setten bei Sie und kriets nett satt, adieu!“
Sie drückte meine Hand. „Immer darf mer a nit gar freundlich sei“, sagte sie, sah mich bedeutsam an und ging fort. Trotz meiner Unerfahrenheit merkte ich, daß sie meinte, es schicke sich zu Hause bei der Arbeit und vor dem Meister nicht, daß sie so freundlich mit mir täte und fand das ganz natürlich und in der Ordnung.
Kurz darauf traf es sich, daß ich morgens beim Semmeleinschieben in der kleinen Pause mich auf die Treppe setzte und sofort einschlief. Auf einmal hörte ich den Meister poltern: „Kreuzdonnerhagelwetter, ist denn der ‚Bengel‘ närrisch? Willem! Himmeldonnerwetter, schämste dir nicht, bei der Arbeit einzuschlafen?“ Ich fuhr auf, griff zu, wo es nötig war und er mußte nun so schnell einschieben, daß er sich nicht umsehen konnte. Aber der Bengel wollte mir nicht aus dem Kopf und ich muß wohl ein böses Gesicht geschnitzt haben. Als es beim Ausbacken eine Pause gab und der Meister sagte: „Was war das denn mit dir, du schliefst ja wie tot“, konnte ich nicht antworten und trug meine Semmeln fort.
Nicht lange darauf fing er wieder an: „Du mußt doch wissen, daß das bei unserer Arbeit nicht geht und darfst mir nicht übelnehmen, daß ich dich angedonnert habe.“ – „Nein, Meister, das ist in der Ordnung, aber schimpfen lasse ich mich nicht.“ – „Was, ich hätte dich geschimpft? Im Gegenteil! ich habe dich auf dem Schützenhause vor den andern Meistern gelobt, da kannst du den Heinrich fragen.“
Nun machte ich wieder eine freundliche Miene und alles war gut. Nach dem Mittagessen legte sich der Meister gewöhnlich ein paar Stunden zur Ruhe; ich brachte erst die Backstube in Ordnung und ging dann hinauf in meine Kammer, um auch eine Stunde zu schlafen. Als ich mich besann, ob ich nicht unten noch etwas zu tun vergessen habe, ging die Kammertüre auf und die Meisterin kam herein. Sie nahm meinen Kopf zwischen ihre Hände. „Ach, Willem, was habe ich diesen Morgen für eine Angst gehabt! Der Meister war so garstig und ich dachte, Sie wollten nun fortgehen.“ – „Na“, antwortete ich, „er hat’s ja wieder gutgemacht.“
„Ach, wenn er es nit gutgemacht hat, dann mache ich es gut, lieber Willem“ und nun fühlte ich ihren Mund auf meinem und Frau Rosette küßte so herzhaft drauflos, daß mir himmelangst wurde, dann lief sie schnell davon.
Alle Teufel, was war das? dachte ich, das ist eine gefährliche Geschichte. Das Küssen hat mir zwar ganz gut geschmeckt, denn sie war eine gar hübsche junge Frau, aber der Meister war ein sehr braver Mann und ich bei ihm gut angeschrieben.
Nein, das geht nicht, das mußt du streng abweisen, war meine Meinung – leider war der gute Vorsatz über meinem jugendlichen Leichtsinn bald vergessen! Es entwickelte sich nun ein Verhältnis, bei dem mir öfter wehe als wohl war und ich sann darauf, loszukommen.
Schließlich entschloß ich mich zu einer Lüge, schöpfte mir ein Herz und sagte dem Meister, daß ich einen Brief von meiner Mutter bekommen hätte. Unser Geselle wolle in vier Wochen fort und ich müßte nach Hause, möchte aber vorher noch Berlin und Dresden sehn. „Aber deine Frau Muhme war doch noch kürzlich hier bei meiner Frau und wußte nichts davon, daß du fort willst?“ staunte der Meister. „Im Gegenteil, sie meinte, du solltest noch recht lange bei uns bleiben.“ – „Ich bin seit vierzehn Tagen nicht draußen gewesen und will eben heute hin und es dort sagen“, erwiderte ich.
„Na, morgen komme ich auch auf den Dözel zum Weizenhandel. Da will ich mit deinem Vetter sprechen, vielleicht ändert sich’s noch.“
Nun war ich gespannt, was die Frau Meisterin beim Mittagstisch für ein Gesichtchen machen würde auf die Neuigkeit. Aber der Meister mußte ihr noch nichts gesagt haben; bei jeder Möglichkeit, hauptsächlich, wenn die Jette linksum stand, kriegte ich meinen schönen Blick.
Als ich auf den Dözel kam, stand die Frau Muhme gerade in die Betrachtung eines neuen Butterfasses versunken. Ich schlich mich auf den Zehen heran und legte ihr von hinten her die Hände übers Gesicht. „Ha!“ – fuhr sie zusammen. „Raten, wer es ist!“ – „Vetterken, das war ein dummer Streich“, schalt sie derb. „Ik bin auf den Tod erschrocken und muß mich en besken hinsetten.“
Aber ich war heute gut aufgelegt und in meiner Seele mit mir selbst zufrieden, das gab Lust und Mut. Ich kniete vor ihrem Stuhle nieder, hob meine Hände auf und bat um gnädige Strafe und da ihre Hände auf ihrem Schoße lagen, so legte ich meinen Schnabel darauf und küßte zu.
„Ja, Vetterken, was ist denn das? Ha, ha, ha! Sie sind ja ein ganz anderer Mensch geworden. Und wie er sich geputzt hat! Na, kommen Sie rinn, das muß mein Mann hören“ und sie zog mich bei der Hand durch den Gang bis vor in die Stube.
„Vaterken, ein armer Sünder“ – und dann berichtete sie ihm. Der aber schüttelte den Kopf. „Wat macks de denn enmal vor Dummheiten, Mutterken, der Vetter ist ja kein Kind mehr.“ – „Und du bist heute ein alter Brummbär“, sie lief an seinen Stuhl, nahm ihm die Pfeife aus dem Munde und gab ihm einen Kuß.
Als wir wieder ernsthaft geworden waren, rückte ich heraus mit der Sprache; sie horchte hoch auf. Ich bat, sie möchte meine Ausrede mit dem Brief bestätigen, wenn morgen der Meister käme, weil ich doch weiter wolle. „Ach, warum nicht gar noch lügen!“ fuhr sie heraus. Da der Amtmann fortgegangen war, erzählte sie mir von ihrem Besuch bei der Frau Meisterin; ich sei damals gerade in der Mühle gewesen.
„Sie ist ein junges, schönes und artiges Frauenzimmer und schien sehr glücklich, daß ihr Mann einen so braven Gehilfen habe, auf den er sich verlassen kann. Solch eine liebe Frau Meisterin kriegen Sie im Leben nicht wieder, Vetterken und nun wollen Sie plötzlich fort? Da steckt was Besonderes dahinter. Allons, heraus mit der Sprache!“
Ich schob alles auf meine Wanderlust. Auch könnte das mit dem Briefe alle Tage wahr werden und sei eigentlich darum keine Lüge. Ich müsse des Abrufs immer gewärtig sein und wolle noch so viel sehn, wie sie wohl wisse.
Sie sah mich mit großen Augen an. „Ei, ei, junger Herr Bechstedt aus Langensalza, wie sind Sie auf einmal gelehrt geworden! Also wenn man etwas behauptet, was nicht wahr ist, so ist das keine Lüge, weil es ja noch geschehen kann? Sehn Sie mal an, das habe ich noch nicht gewußt! Vetterken, haben Sie diese Sprachgewandtheit, die ich heute zuerst an Ihnen bemerkte, von Ihrer Frau Meistern gelernt? Sagen Sie mal, wie oft kommen Sie des Tages zusammen mit der Frau? Hilft sie mit in der Backstube?“
Ich mußte mich wohl während dieser Rede verfärbt haben, denn sie sprang auf und faßte mich bei beiden Schultern. „Vetterken, Sie wollen ausreißen vor der schönen Frau Rosette, was?“ – Ich war außer mir, fühlte das Wasser über meine Backen laufen und wandte mich ab.
„Nix da, herumgedreht und mir in die Augen geguckt. Ha, ha! Es freut mich königlich, daß ich’s getroffen habe. Nein, Vetterken, ich hab mir’s gleich gedacht, als ich die Frau zuerst sah; die ist zu jung und schön, als daß Sie den ganzen Tag um sie herum bleiben dürfen. In solchem Fall ist weit davon das Beste.“ – „Ach, liebe Frau Muhme, was schwatzen Sie denn nur? Ich kenne ja so was noch gar nicht.“
„So, so, warten Sie einmal, Vetterken“ und damit kramte sie einen Brief heraus, den meine Mutter mir für sie mitgegeben, den aber meine Schwester geschrieben hatte; die hatte darin auch von meinen Langensalzer Geschichten erzählt und daß ich eines Mädchens wegen von Hause fortgegangen sei.
Die Frau Muhme wollte sich halbtot lachen über mein verstörtes Gesicht und schließlich freute auch ich mich über die muntere Frau.
Als wir bald darauf beim Kaffee zusammensaßen, legte sie den Arm um meine Schulter, sah mich ganz ernsthaft an und sagte: „Liebes Vetterken, sind Sie etwa schon zu sehr bekannt geworden mit Ihrer Frau Meisterin?“ – „Nun hab ich’s aber satt, Frau Muhme“, fuhr ich empört heraus, „wenn Sie nicht gleich aufhören, lauf ich heute noch da fort.“
Sie sprang auf. „Bravissimo, bravissimo! Das ist ein richtiger Bechstedt. Vetterken, Sie werden einmal ein mordslieber Kerl!“ Damit packte sie mich beim Kopf und küßte mich tüchtig ab.
Sie ging hinaus und ein Bäckerssohn, Schöneberg, trat herein, um Weizen zu kaufen. Wir kamen ins Gespräch und er nannte mir einen Gesellen, Fritz Thale, der bei meinem Meister an meiner Statt eintreten könne – nach drei Tagen war der neue Geselle im Hause und den nächsten Sonntag packte ich der Magd vom Dözel meine Sachen in den Korb.
Tags vorher war die Frau Meisterin mehrmals in die Backstube gekommen, hatte mich aber gar nicht angesehn; später, als ich oben in meiner Kammer war, hörte ich ihre Stimme: „Mosje Willem, sind Sie oben?“ Sie kam herauf und wir nahmen mit etlichen Tränen Abschied, dann drückte sie mir etwas in die Hand und lief davon.
Ich machte das Päckchen auf, es war ein goldenes Kreuzchen darin und dabei lag ein Zettel, darauf stand geschrieben: „Es ist von meiner Mutter. Wenn wir in zehn Jahren noch leben, dann bring es mir wieder. Jetzt verbrenne dies Papier, lieber Wilhelm.“
Ich barg das Kreuz in meiner Brieftasche, ging hinunter an den Ofen und guckte immer vorn nach der Stubentür. Endlich kam Frau Rosette. Ich nahm schnell das Papier, hielt es über das Leuchtfeuer und sagte: „Jetzt verbrenne ich mein süßes Heiligtum.“ Sie flüsterte: „Nur die Erinnerung nicht.“
Den Sonntagmittag mußte ich noch einmal mitessen. Ich verabschiedete mich vom Meister und dankte ihm für alles, was er mir Gutes erzeigt und was ich bei ihm gelernt hatte. Auch der Frau Meisterin sagte ich Lebewohl und Dank und drückte ihr dabei die Hand wohl etwas heftiger, als Mode ist. Mit schwerem Herzen ging ich fort. – – –
Die Frau Muhme wollte mich noch acht Tage auf dem Dözel festhalten, aber ich machte Ernst und schnürte mein Bündel. Der Hofmaier mußte Holz fahren und kam bis in die Nähe von Magdeburg. Mein Felleisen lag schon auf dem Wagen; bald saß auch ich drauf. Noch ein Adieu für den Vetter und die Frau Muhme; ich versprach, bald zu schreiben, schwenkte noch einmal den Hut und die Pferde zogen an.
Meinen Freund Heinrich hatte ich lange nicht gesprochen; sein Meister wohnte noch am Magdeburger Tor. Ich ließ da halten, mußte einen Schnaps mittrinken und Meister und Meisterin Wiegemann gaben mir die Hand und forderten mich auf, sie zu besuchen, wenn ich wieder nach Neuhaldensleben käme. Keins von uns hatte wohl eine Ahnung davon, daß ich anderthalb Jahre später in diesem Hause in Arbeit treten würde.