Читать книгу Mit Amor auf der Walze oder „Meine Handwerksburschenzeit“ 1805–1810 - Harald Rockstuhl - Страница 7
Erster Teil
meiner Wanderjahre und Liebesverirrungen Abschied – Großsömmern –
Sondershausen – Heringen – Stolberg – Güntersberge –
Das Lenchen – Quedlinburg –
ОглавлениеDen Montag vor Pfingsten 1805, vormittags neun Uhr, zog eine kleine Karawane zum Mühlhäusertore hinaus – zehn bis zwölf Kameraden, von denen einer um den anderen mein Bündel trug. Mein Bruder Heinrich, meine zwei jüngsten Schwestern und Andreas Köhler aus der Treischmühle waren dabei, sogar mein Vetter Scholl ging mit, trotz seiner fünfzig Jahre.
Meine Mutter hatte mich endlich losgelassen und wir waren vor dem Tore rechts herumgegangen. Meine älteste Schwester war mit Minor und zwei Gesellen auf den Oberboden gestiegen und von da riefen sie mir ihr Adieu auf den Weg herunter. In Merxleben wurde Halt gemacht, Bier getrunken und gesungen. Nach einer halben Stunde rollte ein Militärwagen von Langensalza heran mit Soldaten, die nach Weißensee bestimmt waren. Sie tranken gerne einmal mit, doch als sie weiterfuhren, ließ auch ich mich nicht mehr halten, bestieg den Wagen und setzte mich zwischen die alten Clemenser, die mich kannten. „Adieu, adieu“, ging’s nüber und rüber; die Hüte wurden geschwenkt und fort fuhr ich in die Fremde.
In Gangloffsömmern stieg ich ab und besuchte den Pachter Fischer, von dem wir oft Weizen gekauft hatten. Er nahm mich freundlich auf; nachdem ich mich zum Essen und Trinken ein bißchen hatte nötigen lassen, langte ich zu. Fischer gab mir derweil allerhand gute Lehren: „Es tut nicht gut, daß Sie so allein gehen, Mosje Bechstedt –“ und er erzählte, vor kurzem habe man im Walde, eine halbe Stunde vor Sondershausen, einen einsamen Wanderer bestohlen und halbtot geschlagen.
Ich dankte schön für alles, nahm Abschied und marschierte nach Greußen, wo ich den Weg nach Sondershausen erfragte – Chausseen gab es damals noch nicht. Es fing an zu regnen. Trotz des Schmutzes wollte ich weiter, mußte aber schließlich doch in einem Dörfchen – Holzengel, Kirchengel oder Hausengel – bleiben. Das kleine Nest hatte keinen Gasthof: die sogenannte Schenke wurde von einem Ehepaar in den vierziger Jahren geführt. Die armen Leute kannten das Wort „logieren“ gar nicht: ich war der erste Fremde, der bei ihnen übernachten wollte. Sie lachten mich immerzu an, setzten mir einen Krug dickes gelbes Bier vor und gingen fort an ihre Arbeit.
Ich seufzte und sah zum Fenster hinaus. Es war inzwischen wieder hell geworden – sollte ich weitergehen? Aber sicher hätte mich noch vor Sondershausen die Nacht im Walde überrascht. Die Erzählung des Pächters in Gangloffsömmern war mir doch in die Glieder gefahren; das Bestehlen und Totschlagen gefiel mir gar nicht recht – ich blieb.
Nun fing ich an, die Stube zu mustern – siehe da! hinterm Ofen an der Wand hing eine Zither. Schnell rückte ich einen Schemel hin und holte sie herab. Sie war gestimmt und glich ganz der meinigen zu Hause. Ich begann zu klimpern und zu singen und kam bald in mein Leibstückchen:
„Dameton war schon lange Zeit
Der schönen Phillis nachgegangen,
Doch konnte seine Zärtlichkeit
Nicht einen Kuß von ihr erlangen“ usw.
Frau und Mann lugten zur Tür herein und lachten und als mein Lied aus war, standen wohl zwanzig Menschen, klein und groß, unter meinen Fenstern und ich mußte noch eins singen und spielen. Es ergab sich hernach, daß die Zither dem sechzehnjährigen Sohne gehörte, der jetzo Knecht beim Pfarrer war.
Ich dachte: Hier wirst du nicht bestohlen und geschlagen und schlief die ganze Nacht wie ein Prinz in einem reinen Bett mit schwerer Decke, die ich wegschob.
Am anderen Morgen fand ich meine Gastwirte hinter dem Hause in einem Grabgarten, wo sie Kartoffeln häufelten. Sie meinten, es wäre ein schöner Besuch gewesen und ich hatte meine Not, bis sie ihre Forderung machten. Die war aber so gering, daß ich dem Entgelt noch ein Sechserbrot und eine halbe Knackwurst aus meinem Felleisen hinzufügte. Der Mann geleitete mich noch eine Viertelstunde Weges und trug mein Bündel.
Gegen zehn Uhr kam ich in Sondershausen an. Ich führte ein altes Gebet- und Reisebüchlein mit mir und da es auch mein Vater dereinst auf seiner Wanderschaft benutzt hatte, so besaß es einen gar großen Wert für mich. Die Reisemorgen- und abendsegen und die Andachten waren eigens für junge Handwerksburschen geschrieben und gefielen mir; man wird unwillkürlich frömmer, wenn man so allein geht. Trotzdem war es nicht Furcht vor Reisegefahren, wenn ich jetzt oft in dem Büchlein las. Ich besaß Courage genug; doch setzte ich ein gewisses ehrfürchtiges Zutrauen in das Buch, weil es alt und von meinem Vater war.
In Sondershausen reizte mich die Neuheit meiner Lage dazu, eine Dummheit zu machen. Es kam mir so sonderbar und interessant vor, daß ich auf einmal ein reisender Bäckerbursche war, wie ich deren so viele hatte in unser Haus kommen sehen, um zuzusprechen und das Geschenk zu holen. Ich ging also zum Obermeister und ließ mir das Zeichen zum Zusprechen geben. Dabei bedachte ich nicht, daß ich hier ja nicht in Arbeit gehen wollte, also auch ums Geschenk nicht zusprechen dürfe.
Als ich in das erste Bäckerhaus eintrat, machte ich ein tüchtig Gesicht, so ernsthaft, als ich’s nur herausbringen konnte und sagte dreist: „Ein reisender Bäckergeselle spricht dem Meister zu wegen des Handwerks und bittet ums Geschenk.“ Ich bekam zwei Semmeln und ging weiter; das Ding machte mir Spaß. Als ich aber zum dritten oder vierten kam, war der Meister selber da und fragte mich: „Hast du auch Lust zum Arbeiten?“
Wie konnte ich da nein sagen? – „Ja!“ – „Wo bist du her?“ – „Aus Langensalza“, antwortete ich kleinlaut. „So, da bist du nicht weit her.“ Diese Rede verdroß mich einigermaßen. Der Meister verlangte nun, daß ich zur Herberge gehen und meine Sachen holen sollte, um die Arbeit bei ihm anzutreten. Ich antwortete zwar: „Gut, Herr Meister“, aber im Inneren sah es bei mir nicht gut aus. So bedrückt war ich, daß ich kaum Atem holen konnte. Ich suchte den Obermeister wieder auf, gab mein Zeichen ab, erhielt meine Kundschaft (das war damals der Reisepaß), zahlte meine kleine Zeche, hockte mein Bündel auf und – marschierte zum nächsten Tor hinaus.
Erst weit draußen wagte ich zu fragen, wo der Weg nach Heringen hinginge. Ich mußte nun fast um die halbe Stadt herum, um auf den rechten Weg zu kommen, machte dann Beine und stiefelte eine Stunde lang recht darauf los. Hernach legte ich mich im Schatten nieder, um über mein Schicksal nachzudenken.
,Da!‘, dachte ich, ,nun hast du schon einen Betrug gemacht und bist kaum von zu Hause weg.‘ Ich holte mein Büchlein heraus, ob da nicht ein Gebet stände für diese Sünde, fand aber keines. ,Nun, er wird ja wohl einen anderen Gesellen kriegen‘, beschwichtigte ich mein Gewissen und blätterte weiter, bis ich zu den Marschrouten kam.
Also: Nordhausen, Stolberg, Güntersbergen, Quedlinburg, Egeln, Magdeburg waren zu erobern. Mein Mut stieg wieder hoch auf; ich sprang in die Höhe und marschierte weiter. Abends in Heringen ließ ich mir Brot geben, Wurst hatte ich selber, trank Bier und schlief wie das gute Gewissen. Am anderen Morgen ging ich zu keinem Bäcker, sondern machte mich gleich auf den Weg. ,Was sollst du eigentlich in Nordhausen machen?’ dachte ich und fragte einen Mann, ob ich nicht geradezu auf Stolberg gehen könne. Er meinte, der gerade Weg nach Stolberg sei zwar im Sommer sehr angenehm, aber ein Fremder könnte sich doch leicht da verirren. Nachdem ich wieder eine halbe Stunde gewandert war, traf ich auf einen alten Bauern. Der sagte, mit dem Verirren wäre es gar nicht so schlimm. Wenn ich wollte, so könne ich hier gleich mit ihm rechts abgehen auf einem Fußsteige, der nach seinem Dorfe führe – und wer mitging, das war ich.
Als ich den Bauern mit seinem Dorfe wieder eine Stunde im Rücken hatte, fing mir das Ding doch an wunderlich zu werden. Keine Seele hatte ich angetroffen und vor lauter Bäumen sah ich keinen Wald mehr. Der Weg war alle geworden, wie man zu sagen pflegt, bald links, bald rechts mußte ich durchs Gebüsch kriechen, das Felleisen drückte schwer; ich ließ mich nieder, um auszuruhn.
,Hier hilft kein Beten‘, dachte ich. ,Doch halt!, dein Weg geht nach Norden, folglich mußt du, da es noch Vormittag ist, die Sonne immer etwas rechts hinter dir haben‘ – und so richtete ich denn auch meinen Marsch ein. Als ich mich eine gute Stunde fortgearbeitet hatte, was mir vermöge meines schweren Bündels sehr sauer wurde, kam ich aus dem Walde heraus und stand nach tausend Schritten vor einem steilen Abhang.
Vor mir lag ein Tal, rundherum von Bergen umgeben, mitten darin ein Dorf, woran sich Ziegelbrennereien anschlossen. Unten floß ein Wasser ganz nahe am Berge weg, das etwa halb so groß wie die Unstrut war. Eine Brücke über dies Wasser war nicht zu entdecken, auch wußte ich nicht hinabzukommen; der Hang war zu steil und felsig. Da bemerkte ich, daß weiter links das Wasser nicht so nahe an den Berg trat und dort arbeitete ich mich hin. Als ich genau untersucht hatte, daß man hier zur Not rückwärts hinunterklettern und rutschen konnte, legte ich mein Felleisen nieder, gab ihm einen Schub und, heidi! kollerte es den ganzen Berg hinab und blieb im Grase liegen.
Nun trat ich die Rutschpartie auf allen vieren rückwärts an und kam glücklich mit etwas blutigen Händen zu meinem Bündel. Ich hockte auf und marschierte links fort, mußte aber einigemal gefährlich klettern, weil der Fluß sich dicht an den Berg drängte. Nach einer halben Stunde entdeckte ich eine Fahrbrücke über den Fluß und einen Weg links vom Berge herab, auf welchem ich wahrscheinlich hätte kommen sollen.
Nachdem ich mich in der Schenke des Dorfes erholt und nach der weiteren Marschroute erkundigt hatte, kam ich zu Mittag nach Stolberg, fragte nicht nach der Bäckerherberge, sondern ließ mir im Gasthofe was Gutes zu essen geben und ging den Tag noch bis Güntersbergen in mein drittes Nachtquartier.
Andern Morgens, nach einem langen und guten Schlaf, fragte ich den Wirt nach dem nächsten Weg nach Quedlinburg. Der wäre für Fremde schwer zu finden, erklärte der Wirt und wunderte sich, daß ich als Handwerksbursche in Güntersbergen sei, statt daß ich von Stolberg aus die Hauptstraße über Harzgerode und Ballenstedt eingeschlagen hätte. Nun, nach den nächsten zwei Dörfern könnte ich zur Not noch hinfinden, aber hernach – hernach würde ich mich ganz gewiß verlaufen, wenn ich allein bliebe.
Nach zwei Stunden war ich im zweiten Dorfe angelangt, hatte unterwegs schon mein Gebetbüchlein in Gebrauch genommen und war recht fromm und ein bißchen ängstlich gestimmt. Ich ließ mir Bier geben und legte den Kopf auf den Tisch. Das Wasser stieg mir in die Augen; ich dachte an meine Mutter und fing still zu beten an: ,Ach, du lieber Gott, schick doch nur einige Menschen her, die auch nach Quedlinburg wollen‘ – darüber schlief ich ein. Im Traum sah ich einen alten Einsiedler, der sagte zu mir: ,Wenn du fleißig in deinem Gebetbuch liest und ein guter Mensch bist, so sollst du dich nicht verirren und kein Spitzbube soll dir etwas anhaben.‘ Ich nahm mir auch im Traum vor, das so zu halten, wurde aber durch heftiges Zuschlagen von Türen und lautes Sprechen unsanft aufgerissen. Ich rieb mir die Augen und sah drei Leute; einen Bauersmann, eine Bauersfrau und ein junges Mädchen, das städtisch gekleidet war, doch ein schönes weißes Tragkörbchen auf dem Rücken trug, das sie eben absetzte. Der Bauer war ein gewöhnlicher Mann von mittlerer Statur und mittleren Jahren, in dem Gesicht der Frau stand nichts geschriehen; das Mädchen sah hübsch, aber ein wenig einfältig oder vielleicht auch unerfahren und unschuldig aus. Und weil ich mir eben im Traum vorgenommen hatte, recht brav zu bleiben, sah ich das Mädchen lange an; sie schien in meinem Alter, wo nicht jünger zu sein. Als unsere Blicke zusammentrafen, guckten wir beide schnell wo anders hin.
Da ich hörte, daß Mann und Frau plattdeutsch miteinander sprachen, stellte ich einige Fragen. Der Mann hielt nicht zurück und bald erfuhr ich, daß das Ehepaar aus seinem Dorfe bei Quedlinburg vor drei oder vier Tagen nach Nordhausen gegangen war, um alte Bekannte zu besuchen. Deren Nachbar nun, ein Böttchermeister, hatte eine Schwägerin in Quedlinburg, die schon vor langem gebeten, man möge ihr doch das Lenchen hinschicken; sie solle es gut haben und auch das Nähen und Sticken bei ihr erlernen.
Ich spähte zu Lenchen hin, denn sie mußte das doch wohl sein, aber Lenchen guckte schnell auf den Erdboden.
Der Böttchermeister, so erzählte der Bauer weiter, hatte ihn nun gebeten, die Lene mit nach Quedlinburg zu nehmen oder seine, des Bauern Frau, über ihr Dorf hinaus wenigstens noch ein Stückchen mitgehen zu lassen, bis Lene von weitem die Stadt sehen könne.
,Oh, du lieber Gott‘, dachte ich, ,hast du schon mein Gebet erhört!‘ Es wurde mir ganz frömmlich zumut. Ich schnürte mein Felleisen auf, holte ein ordentliches Stück Cervelatwurst heraus, schnitt es in vier Stücke und bot dem Bauern, der Frau und Lenchen an. Das Lenchen wollte erst nicht recht. Da sagte die Frau: „Ach, Lenchen, nehm ses doch“ – und Lenchen nahm’s.
Nun ließ ich noch zwei Krüge Bier kommen und zwei Schnäpschen und jetzt fing auch der Bauer an, auszufragen. Ich erzählte grundehrlich die letzten sechs bis acht Tage meiner Lebensgeschichte, besonders auch den Abschied von Mutter und Geschwistern vor vier Tagen. Lenchen rückte etwas näher, sie schien eine Angst zu verlieren, ja sie lächelte sogar ein bißchen. Nun gab ich zu erkennen, daß ich auch nach Quedlinburg wolle und mich sehr freuen würde, Gesellschaft zu finden, da ich mich gestern schon im Walde verirrt hätte. Lenchen fand Ähnlichkeit zwischen ihrem und meinem Schicksal und gab dies unbefangen zu verstehen.
Kurz, wir brachen auf und ich bezahlte die ganze Zeche, die sich auf ein paar Groschen belief. Wir waren kaum tausend Schritt gegangen, da steckte der Bauer sein Ränzchen in den Korb seiner Frau und bat sich mein Bündel aus, das er nicht eher wieder vom Buckel heruntergab, bis wir schieden. Ob ich nun gleich das größte Zutrauen zu dem Manne hatte, so war mir doch, als sei es meine Schuldigkeit, mein Bündel im Auge zu behalten und so hielt ich mich hübsch zu ihm. Ich bezahlte noch ein paarmal Bier und Lenchen gab Kuchen zum besten, den sie im Korbe hatte. Es war ein schöner Tag; ich ging so frei ohne mein Felleisen. Gegen vier Uhr fing es an, schwül zu werden und in der Ferne zu blitzen.
Der Bauer sagte: „Es sind kaum noch zwei Stunden bis Quedlinburg; ich und meine Frau werden nun bald links abgehen, denn da Sie auch nach Quedlinburg wollen, braucht meine Frau die Lene nicht länger zu begleiten. Der Weg ist nicht mehr zu verfehlen.“
Nicht lange und es wurde haltgemacht; der Bauer legte mein Felleisen ab und die Frau nahm Abschied von Lenchen, die ihr gute Worte gab, sie möge doch noch ein Fleckchen mitkommen.
„Wozu?“ meinte der Bauer. „Noch ein Halbstündchen schnurgeraden Wegs durch den Wald und ihr kommt zur „Neuen Schenke“. Von da hat man die Stadt immer vor Augen. Der Mosje Langensalzer wird die Lene schon in Schutz nehmen, daß ihr nichts Übles begegnet. Ha, ha, ha, ha!“ lachte der Kunde noch recht.
Lenchen bemerkte kleinlaut: „Der fürchtet sich ja selbst.“ Aber dagegen hatte ich viel einzuwenden und tat sehr dick mit meiner Courage. Ich nötigte dem Bauern noch ein Stückchen Wurst auf; wir nahmen Abschied mit Händedruck – und dort gingen sie hin und überließen zwei junge Anfänger in der Welt ihrem Schicksal. Sie glaubten, daß die Lene, ihre Anbefohlene, in zwei Stündchen bei ihrer Tante sein werde, aber es sollte anders kommen.
Fast war ich willens, hier beim Schreiben meines Berichts eine Lücke zu lassen oder moralische Schwätzereien anzubringen – doch weg damit! Ich will treu und ehrlich erzählen, wie sich alles der Wahrheit gemäß zugetragen hat.
Wir, Lenchen und ich, gingen zusammen weiter und Lenchen meinte: „Sie müssen heute abend mit bei meiner Tante essen. Das ist eine gar gute Frau; mein Vater nennt sie nur die Fromme. Vielleicht nehmen Sie auch Arbeit in Quedlinburg?“
Ich erklärte ihr nun, daß ich zu Verwandten in Neuhaldensleben wolle, morgen nach Egeln und übermorgen nach Magdeburg marschiere, von dort seien es dann noch sechs Wegstunden bis Neuhaldensleben.
„Ach, so weit noch“, rief das gute Lenchen, „und wissen keinen Weg. Da werden Sie sich wohl wieder verirren.“
„Nein, Lenchen, nun werden die Wege besser und es kommen auch mehr Leute, die man fragen kann.“
„Ja, wer sagt Ihnen denn das? Sie sind – “ Herr Gott! jetzt kam ein so furchtbarer Blitz und Donnerschlag, daß Lenchen umfiel; sie raffte sich jedoch schnell wieder auf. Wahrscheinlich hatte es in der Nähe eingeschlagen; meine Augen waren wie geblendet von dem gewaltigen Blitz. Nun hielten wir uns aber dazu und gelangten, nur wenig vom Regen durchnäßt, in die Neue Schenke. Es war am Donnerstag vor Pfingsten und ging auf sieben Uhr. Lange Zeit zum Verweilen blieb uns nicht, das bißchen Regen durfte uns nicht abhalten.
Aber noch keine dreihundert Schritt waren wir gegangen, als ein schrecklicher Blitz und Donner, dem sogleich starker Regenguß folgte, uns in die Schenke zurücktrieb. Es regnete eine Stunde so fort und die Leute sagten uns, das Flüßchen zwischen hier und der Stadt sei so angeschwollen, daß es heute nicht passiert werden könnte. Es wurde Nacht; ich bestellte Abendbrot. Wir bekamen Suppe und ausgeschlagene Eier; ich langte tüchtig zu, denn ich war hungrig, trank viel Bier und rauchte sogar ein Pfeifchen. Dann und wann versuchte ich, mit Lenchen zu sprechen, aber sie machte ein schauerlich ängstliches, fast einfältiges Gesichtchen. So ging der Abend hin und eh wir’s uns versahen, trat eine Frau mit einem Licht in der Hand zu uns und sagte: „Na, wellts net ok slapen gahn? is all lang zehne durch!“
Ich griff nach meinem Bündel, Lenchen nach ihrem Korbe und wir trotteten wie die Lämmer hinter der Frau her. Nachdem wir ein paar Treppen und einen Gang passiert hatten, machte sie eine Türe auf, zeigte uns die Kammer, stellte das Licht auf den Tisch und sagte: „Na! schlaps wol un bust man det Licht hebsch ut!“ – Ging hin und schmiß die Türe zu.
Herr Gott im Himmel! in der Kammer stand nur ein einziges breites Bette. Mir wurde ganz blümerand [kauderwelsch für bleu-mourant, schwummerig] vor den Augen; ich schielte nach Lenchen, aber die kehrte mir den Rücken zu. Ich legte also mein Bündel ab, hing meinen Hut an die Wand und war im Begriff, meine Stiefel auszuziehen, als Lenchen eine heftige Bewegung machte. Sie hatte die Bettdecke ganz zurückgeschlagen und lag schon mit Sack und Pack, die Schuhe kaum ausgenommen, hinten im Bette, dicht an der Wand; ihr Gesicht konnte ich nicht sehen. Was ich gedacht habe, weiß ich nicht mehr, aber was ich gesagt habe, weiß ich noch – nämlich gar nichts. Ich zog meinen Rock aus, löschte das Licht, legte mich neben Lenchen ins Bette und deckte mich mit meinem Rock zu. Nachdem ich eine Weile meinen Gedanken nachgehangen hatte, war mir’s doch, als müßte ich mich aufrichten und sagen: „Gute Nacht, Lenchen, schlafen Sie wohl,“ und ihr einen Kuß geben.
Als ich Anstalt dazu machte, fing sie ängstlich zu stöhnen an: „Ach, ach, ach, du lieber Gott, ach, du lieber Gott!“ Ich brachte nur einen leisen Kuß auf ihrer Wange an, legte mich wieder auf meinen Platz und zog meinen Rock über mich her. Ich mag wohl noch allerhand Gedanken gehabt haben, aber soviel weiß ich noch ganz gewiß, daß mir war, als wenn meine Schwester neben mir läge. Und so bin ich eingeschlafen, wie man immer einschläft, ohne zu wissen, wie und wann.
Mag sein, daß der lange Marsch in der Luft und das viele Biertrinken und Rauchen oder auch das lange Wachsein schuld gewesen sind, kurz: ich schlief einen langen, festen, traumlosen Schlaf. Doch wachte ich mit vollem Bewußtsein meiner kritisch-interessanten Lage auf und griff nach Lenchen, aber die stand schon am Fenster und ließ sich von der Sonne bescheinen.
Nein, so hatte ich sie noch nicht gesehen! Sie kam mit einem freundlich lieben Gesicht auf mich zu, faßte mich bei der Hand und sagte: „Allons, Mosjö Langensalzer, es ist wunderschönes Wetter, nun wollen wir aber auch gleich fortgehn.“
Ich sprang heraus. „Aber nun, Lenchen, kriege ich auch einen schönen Gutenmorgenkuß!“ Und sie hielt still wie ein Lämmchen und drückte leise wieder, so eine Freude hatte das Kind über Gottes liebe Sonne und das helle Wetter. Sie wehrte mir, als ich hinuntergehn und Kaffee bestellen wollte, schüttelte ihren Geldbeutel auf den Tisch und sagte, sie wolle die Zeche bezahlen.
„Halt!“ kommandierte ich, eilte hinunter, ließ mir ein Schnäpschen geben und fragte, was ich und die Kleine zusammen schuldig wären.
„Heft jy jur got vertragen te hope in Bette?“ fragte die Frau.
„Na, Schwester und Bruder werden sich doch wohl vertragen“, antwortete ich. „Gelt, det heft ick ok denkt.“
Als ich wieder nach oben kam, hatte Lenchen schon ihren Korb auf dem Rücken und meinen Stock in der Hand. Sie half mir, mein Felleisen richtig aufzunehmen und nun ging’s treppab zur Tür hinaus ohne Umsehn fort nach Quedlinburg.
Das Gespräch drehte sich unterwegs größtenteils um die Tante, die Lenchens Frau Pate und seit sechs Jahren Witwe war. „Nun, Sie werden sie ja bald sehn, Musje Langensalzer“, meinte Lenchen. „Musje Langensalzer?“ wiederholte ich, „ei, da muß ich Sie wohl mit „Jungfer Nordhäuserin“ anreden? Wenn ich weiter „Lenchen“ sagen soll, dann müssen auch Sie mich beim Namen nennen. Ich heiße Christel.“
Sie wollte sich fast ausschütten vor Lachen; das sei ja ein Mädchenname. Da gab ich ihr meine Kundschaft; sie machte sie begierig auf, blieb stehen und las laut vor, daß ich meine Freude daran hatte: „Christian Wilhelm Bechstedt, – ach!“ Sie guckte mir frei in die Augen und das waren nicht die einfältigen Augen von gestern Abend, nein, ein paar schöne, kluge Augen. „Christian Wilhelm Bechstedt – das klingt gut, aber wo steht denn Christel?“
Ich setzte ihr auseinander, daß es Mode bei uns wäre, einen, der Christian hieße, Christel zu rufen. Aber ihr deuchte der Name Wilhelm viel schöner und sie gab mir den Rat, mich später zu Hause so nennen zu lassen. „Gut, Lenchen“, stimmte ich bei, „Sie sollen mich umtaufen, doch dann muß auch eine Taufhandlung geschehen.“ Sie merkte, worauf ich hinaus wollte, faltete den Paß zusammen und sagte: „Nun sind wir bald in Quedlinburg.“ Das half ihr aber nichts; ich bestand auf der Taufe und sie wurde unter den Pappelbäumen der Landstraße mit einem langen Kuß vollzogen.
Sonderbar! wir wurden beide stumm davon und gingen eine ganze Weile schweigend nebeneinander hin. Lenchen hatte noch etwas auf dem Herzen, was nicht recht heraus wollte. „Ach, hören Sie“, setzte sie mehrmals an, schwieg aber immer wieder still. „Na, was ist es denn, Lenchen?“ – „Ach, Musje Langen...“ – „Halt, wie heiße ich?“ – „Ach, Musje Wilhelm ...“ – „Nichts da mit Musje, sondern Wilhelm geradeweg, so haben Sie mich getauft.“ – „Ach, das ist’s ja eben, was ich sagen wollte. Wenn wir zu meiner Tante kommen, dürfen wir doch nicht so bekannt miteinander sein. Ach, du lieber Gott, fangen Sie da nur nicht an von ... von ...“ – „Nu, wovon denn, Lenchen?“ – „Ach, von der Neuen Schenke...“
„Liebes Lenchen, so dumm werde ich doch nicht sein. Aber wenn Sie so große Angst haben, dann lassen Sie uns lieber hier Abschied nehmen.“ Das aber wollte das gute Kind unter keinen Umständen. Wir verabredeten also, daß wir uns erst heute früh in der Neuen Schenke getroffen hätten und wenige Minuten sonach saß ich bei der Frau Tante in der Stube, trank Kaffee und ditschte [tunkte, stippte] Zwieback dazu.
Lenchen erzählte von dem Unwetter und ihrer Flucht in die Neue Schenke, wo die Frau Wirtin sie mit in die Kammer und in ihr Bette genommen hätte. Am Morgen wäre sie hinter diesem Musje Handwerksburschen hergekommen und hätte sich neben ihm gehalten, weil sie sich allein fürchte. – Die Frau Tante wollte mir noch mehr Kaffee einschenken, doch mir war die Kehle wie zugeschnürt. Ich schöpfte mir ein Herz, nahm mein Bündel auf, sprach ein paar Worte von meinem weiten Weg und nahm Abschied. Die Tante steckte mir noch Kuchen in die Tasche; Lenchen konnte nicht sprechen. Sie gab mir nur die Hand – ihre Augen standen voll Wasser; sie muckste [schluchzen] und ging schnell in die Nebenstube.
Mir ging’s nicht besser; ich habe gemuckst bis zum andern Stadttor hinaus und war mir, als müßte ich wieder hinein und sehen, ob ich nicht diesen Abend das Lenchen noch einmal erwischen könnte.