Читать книгу Jenseits von Ethik - Harry Jäger - Страница 6

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Angesichts der Tatsache, dass ich an jenem unvergesslichen Montagmorgen mit einer niederschmetternden Hiobsbotschaft ebenso unerwartet konfrontiert wurde wie draußen Schneeflocken auf bereits blühende Krokusse und erste Tulpenknospen stöberten, geriet ich nicht nur in Panik, sondern auch auf unerklärliche Weise ins Schwitzen. Wie statisch aufgeladene Plastikfolie klebte das bereits angegraute und auch schon mehrfach geflickte Leinennachthemd auf feuchtkalter Haut. Ohne angestrengt gewerkelt oder anderweitig betätigt zu haben! Fiebrig erkältet war ich auch nicht. Eigentlich steckte mir überhaupt kein Zipperlein in den Knochen. Jedenfalls keine handfeste Krankheit, wie es in meiner Familie immer hieß, wenn seelische Dinge eine Rolle spielten, und deshalb konnte ich mir keinen Reim auf die Ursache machen. Zumal es sich nicht um übliche Schweißkonsistenz handelte. So ähnlich wie bei Fieber zwar, aber irgendwie lausig kalt auf der Haut. Als ob ich mich in der scheußlich kalten Atmosphäre eines Krematoriums befand und dennoch schwitzte. Warum ich mich spontan an ein entsetzliches Erlebnis erinnerte, lag scheinbar daran, dass mich tatsächlich eine unangenehme Kälte umgab: die gegenwärtige Kaltherzigkeit meiner Mutter, erneute Hundekälte eines zweiten Wintereinbruchs und ein saukalter Parkettfußboden.

Verzweifelt in die ausgekühlte Wohnstube geflüchtet, stand ich bockbeinig barfuß geblieben hinter blitzblankem Fensterglas, und starrte durch einen Tränenschleier vorbei des Blattwerks eines auf der Fensterbank thronenden Gummibaums hinweg über den verschneiten Vorgarten und die noch wenig befahrene Anliegerstraße auf das schräg gegenüberliegende Elternhaus meines besten Schulfreundes. Meine verwirrten Gedanken drehten sich in einem Kreisel von Hirngespinsten, die einen blauäugigen Hoffnungsschimmer in aschgraue Weltuntergangsstimmung mixten. Weder weiterleben noch sterben wollte ich.

Die tränenden Augen bereits unmerklich auf unendlich gestellt, rangierte ich mit einer hirnverbrannten Absichtsidee in der miserabelsten Gemütsverfassung meiner Kindheit. Vor lauter Selbstmitleid wollte ich mir absichtlich eine Lungenentzündung einhandeln, um wieder beachtet zu werden, denn im rotierenden Gedankensalat florierte eine deprimierende Erkenntnis: unglücklichster Junge der Welt!

Die zwangsläufigen Folgen dieser törichten Einbildung ließen nicht lange auf sich warten. Eben noch von Hitzewallungen heimgesucht, wurde mir auf einmal schrecklich kalt. Zuerst schien nur die schwitznasse Stirn zu vereisen, dann in Liftmanier die Körpertemperatur zu erlöschen, woraufhin mein Organismus zu heftigem Harndrang und Schüttelfrost tendierte. In Intervallen jagten grässliche Zitterschauer durch meinen schmächtigen Körperbau, wobei mein lückenhaftes Milchgebiss aufeinander klapperte, als morse es Notsignale. Dazu verspürte ich in immer kürzeren Intervallpausen einen Herzrhythmus, der zunehmend an Regelmäßigkeit verlor.

Mein Wissensstand mit neunmalklugen Hypothesen und gefährlichem Halbwissen gespickt, ersann ich blitzschnell eine furchtbare Eigendiagnose: akute Lebensgefahr! Logischerweise natürlich, denn obwohl ich mich erst vor acht Lenzen ins Dasein gezwängt hatte, wusste ich schon seit Langem: man könne ohne Weiteres an gebrochenem Herzen krepieren, wenn man extrem unglücklich sei. Diese Binsenweisheit hatte Mutter mir geflüstert, als der Ehemann unserer Vermieterin über Nacht an Herzversagen verstarb, weil er es nicht verwinden konnte, dass sein geliebter Sohn von einem stinkbesoffenen Autofahrer totgefahren wurde – und weil ich die vorhersehbaren Folgen der unmissverständlichen Hiobsbotschaft nicht verwinden konnte …

Von panischer Todesangst am Kragen gepackt, schrie ich aus Leibeskräften nach meinem weit entfernten Vater. Wenn es schon um mich bestellt war, wollte ich in seinen Armen in die ewigen Jagdgründe eintreten. Auf keinen Fall in Mutters! Sie trug doch an allem die Schuld, wie sie immer an allem schuld war, da war ich mir auch diesmal bombensicher. Alleingelassen hatte sie mich in meiner Not, nachdem ich mich das erste Mal stimmgewaltig gegen sie aufgelehnt hatte. Wenn ich keine gellenden Hilfeschreie abgelassen hätte, wäre ich wahrscheinlich den ganzen Vormittag nicht mehr beachtet worden. Aber nun kam sie zumindest einigermaßen aufgeschreckt herbeigestürzt, sah mich angstschlotternd und tränenüberströmt am Fenster stehen, aber doch sonst nichts passiert, und wollte mit sogleich verfinsterter Miene wissen, weswegen ich völlig sinnlos nach meinem Vater gröle, obwohl mir doch genau bekannt sei, dass er mich nicht hören könne. Stattdessen solle ich mir lieber warme Socken anziehen, nicht länger barfuß auf dem kalten Fußboden bleiben, damit ich mich nicht erkälte und sie dann nur wieder die liebe Last mit mir habe.

Offenbar alles gesagt, und ohne eine Antwort abzuwarten, ging Mutter energischen Schrittes schnurstracks in die Küche zurück, scherte sich nicht mehr die Bohne um meine Gesundheit, und ließ tatsächlich unkontrolliert, ob ich den an mich gerichteten Appell auch wirklich befolgte! Und warum sie mich nicht zu Wort kommen ließ, das war so klar wie dicke Tinte: weil sie Angstschlottern mit Frieren verwechselte! Das darf doch einer Mutter überhaupt nicht passieren, schrie es in mir. Und kein tröstendes Wort! Nicht mal ein wärmender Blick! Mit einem innerlichen Aufschrei sehnte ich Vater herbei, er möge mit einem Schnellboot herbeieilen, um das drohende Unheil abzuwenden, und mit einem Restfunken an Verstand fragte ich mich, was ich sonst noch fabrizieren könnte, um Mutter umzustimmen. „Aber ich möchte nicht woanders wohnen und umgeschult werden“, hatte ich bereits geklagt, so jämmerlich wie ich es vermochte, selbstredend in dicken Krokodilstränen aufgelöst. Und weil Mutter völlig unbeeindruckt blieb, veranstaltete ich ein rebellisches Protestgeschrei „Ich will nicht woanders wohnen! Dort habe ich überhaupt keinen Freund mehr! Ich gehe nicht auf eine andere Schule! Dann kriege ich nur noch schlechte Zeugnisse! Und im Wald kann ich auch nicht mehr spielen! Dann spiele ich eben nie mehr! Schwimmen will ich auch nicht mehr lernen! Und ich will auch kein Fahrrad mehr haben! Ich zeichne dir auch nie wieder was! Und wenn ich groß bin, dann fahre ich genauso wie Vater zur See und komme nie wieder nach Hause! Weil du dauernd so gemein zu mir bist! Du willst nur verhindern, dass ich weiterhin mit den tollen Eltern von Horst zusammenkomme! Weil die immer so nett zu mir sind! Und weil sie mir oft Schokolade und frisches Obst schenken! Und weil sie meine Fragen richtig beantworten, sogar die komplizierten! Und weil sie Horst schon ganz allein lassen, wenn sie aus dem Haus gehen! Die trauen sich wenigstens! Das sind viel bessere Eltern! Nun weißt du wenigstens Bescheid!“

Meine Anklage half ebenso wenig wie eine störrische Absichtserklärung: in Zukunft nichts mehr essen wollen! Diese Ankündigung kratzte Mutter am wenigsten. „Sehr schön, dann werden wir viel Geld sparen und eines Tages reich sein“, spottete sie daraufhin, und kümmerte sich um nichts weiter als um liegengebliebenen Abwasch – wobei sie anfangs mit dem Geschirr klapperte, als teste sie jüngst erworbenes Nachkriegsporzellan auf Bruchfestigkeit.

Mutters Schimpfkanonade und mein lautstarkes Meutern hatte schauerliche Angstzustände vertrieben. Überbleibsel von Schwermut und Selbstmitleid wurden von aufbrausender Empörung überdeckt und meine zurückkehrende Aufsässigkeit und hinzugesellter Rachedurst formatierten zu feindlicher Gesinnung gegen Gott und die Welt. Jählings hasste ich alles, was ich liebte, auch jeden, der mir jemals ein Leid zugefügt hatte, und grub das Kriegsbeil aus.

Mit boshaften Wunschbildern im Kopf blickte ich auf das heftige Schneetreiben, presste spröde Lippen aufeinander, kniff meine verheulten Augen zu schmalen Schlitzen zusammen, knurrte ein magisches „Abrakadabra“ und hoffte aufs Eintreten einer ersonnenen Verwünschung - ein verheerendes Unwetter sollte über Hamburg toben, mit Polarstürmen und haushohen Schneeverwehungen, damit keine Möbel mehr transportiert werden können, und hinterher noch eine Schneeschmelze, welche für eine lange Zeit das gesamte Stadtgebiet überschwemmt und den entscheidenden Stadtteil in eine knietiefe Seenlandschaft verwandelt.

Und wenn nichts davon geschieht, mich aus dem Fenster stürzen und mir Arme und Beine brechen? Nein, dann käme ich ins Krankenhaus, bloß das nicht, da gibt es Spritzen! Ganz bestimmt auch kein richtiges Essen! Essen? Da war doch einmal was … ich überlegte, und fragte mich diesmal ernsthaft: Und wenn ich wirklich nichts mehr essen würde und nie wieder lache? Ja, das war die zündende Idee, dann werde Mutter mal sehen, was sie angerichtet habe! Doch zum Mittag gab es leckere Eierpfannkuchen mit Blaubeerkompott, sodass ich den Hungerstreik um einen Tag verschob, und nachmittags sogar noch eine Begebenheit zum Totlachen.

Es schneite nicht mehr. Und weil die fürs Schneeräumen verantwortliche Hausbesitzerin für einige Tage verreist war, wollte Mutter Schneeschippen. Mithelfen sollte ich nicht, aber mit an die frische Luft kommen, weil sie so gesund sei und mich auf andere Gedanken bringen werde. Um nicht untätig herumzustehen, sammelte ich flugs alle brauchbaren Utensilien zusammen, welche einen lebensnahen Schneemann ausmachen, und schlüpfte in warme Winterklamotten. Eine poppige Pudelmütze bis über beide Ohren gezogen, die Finger in eigentlich ausrangierte, durchlöcherte Wollhandschuhe gestöpselt, begab ich mich nach draußen und machte mich mittelprächtig fröhlich an ein mannshohes Werk.

Prima ließ sich der pappige Schnee zu Rundtonnen rollen, löste sich wie loseverlegte Teppichauslegeware vom Vorgartenrasen. Anscheinend ebenso leicht von den Steinplatten des breiten Gehweges. Keine Mühe hatte Mutter, die etwa fünfzehn Zentimeter hohe Schneedecke mit dem Schneeschieber zu bewältigen. Wie mit allem machte sie sich aber viel mehr Arbeit als nötig. Obwohl eine Laufwegspur etwas breiter als die Achsbreite eines Kinderwagens sowohl den Ansprüchen der Passanten als auch einer Winterstadtverordnung vollends genüge getan hätte, räumte sie den Schnee vom Jägerzaun bis hin zum Bordstein. Schon oft hatte ich ihre übertriebene Ordnungsliebe insgeheim verspottet, manchmal auch verflucht, mich jedoch noch nie darüber halb totgelacht.

Eine gehbehinderte Passantin hatte Mutter in Schnack aufgehalten, in den höchsten Tönen ihre vorbildliche Arbeit gelobt, und als die Frau schon eine Weile weitergegangen war und Mutter sich mit Restarbeiten beschäftigte, da setzte Nieselregen ein. Eisregen! Im Nullkommanix waren die Steinplatten von einer spiegelglatten Glasur überzogen.

Mutter wagte keinen einzigen Schritt mehr, konnte sich kaum noch auf den Beinen halten, klammerte sich am Ende des Grundstücks am Jägerzaun und rief mir zu: „Hole schnell den Blecheimer mit der Ofenasche aus dem Geräteschuppen!“ Und dann noch, als ich fast am Schuppen angelangt war: „Vergiss nicht, die kleine Handschaufel mitzubringen!“ Das war wieder typisch. Als könnte ich nicht von selbst draufkommen, dass sie Asche nicht mit bloßen Händen verstreuen wolle! Ich ärgerte mich. Nicht so sehr über das momentane Nichtzutrauen, sondern über Fälle in der Vergangenheit und am meisten über künftige, die unschwer abzusehen waren. Zuweilen hielt Mutter mich glattweg für zurückgeblieben, hauptsächlich in überraschend auftretenden Stresssituationen. Da konnte ich mich mit egal was auskennen und schon hundert Mal richtig gemacht haben, sie kaute mir trotzdem die kleinsten Kleinigkeiten vor. Weshalb sie mich immerzu unterschätzte, auch niemals lobte, und seit meiner Einschulung nicht mehr genauso liebevoll in den Arm nahm wie früher, war mir unbegreiflich – wo andere Muttis ihre Kinder unverdrossen in den Himmel hoben, oftmals sogar zu Unrecht, und öffentlich wie unentbehrliche Teddys liebkosten. Ich hingegen konnte mich schon glücklich schätzen, wenn Mutter mir übers Haar strich, und rot im Kalender anstreichen, wenn sie mich nicht auf irgendeine Weise zurechtwies.

Zerknirscht und trotzdem beeilt, schlitterte ich im Schlittschuhschritt zu Mutter und übergab ihr den nahezu randvollen Blecheimer mit der kleinen Schaufel, die ich extra so tief wie möglich in Asche versenkt hatte. Zurück zur Pforte geglitscht, wollte ich dem Schneemann den letzten Schliff verpassen: Mohrrübe und Eierkohlen einstecken, Faschingszylinder aufsetzen und Strickschal umbinden. Wieso ich mich an der Pforte noch einmal umsah, kann ich nicht sagen, aber was es der Reihe nach zu sehen gab: Kopfschüttelnd fummelte Mutter die Schaufel aus dem Eimer, streute ein wenig Asche vor ihre Füße, prüfte mit einem Fuß, ob es stumpf genug sei, machte ein zufriedenes Gesicht und stieß energisch die Schaufel in den Eimer, zog sie vollgeladen heraus, holte schwungvoll derart aus, als hielte sie einen Tischtennisschläger in der Hand und wolle einen Topspin Schmetterball schlagen, wobei sie gleichzeitig einen Schritt vortrat, unbedacht mit einem Bein auf blankes Eis, kam sofort ins Rutschen, schleuderte den Inhalt der Schaufel wie aus der Pistole geschossen in die falsche Richtung, nämlich in die Luft, sodass ein herrlicher Aschenregen zustande kam, brachte skurrile Steppschritte nicht unter Kontrolle, verlor den Boden unter den Füßen, plumpste aufs Hinterteil, stieß unvergessliche Schreie aus, sackte wie in Zeitlupe in sich zusammen und rührte sich nicht mehr. Ein Bild für die Götter!

Von wonniger Schadenfreude übermannt, eilte ich ihr zu Hilfe. Sorgen, ob sie sich ernsthaft verletzt habe, brauchte ich mich nicht im Geringsten, denn ein lang gezogenes „iii“ gehört nicht zur Kategorie der Wehlaute. Wie versteinert saß Mutter da, mochte sich nicht bewegen. Das konnte ich gut nachempfinden. Ein Rätsel war mir, warum sie den Eimer noch blitzartig himmelwärts geschwenkt hatte. Natürlich hätte der sich nicht zwingend auf den Kopf stellen müssen, schon gar nicht restlos über ihr Haupt entleeren brauchen, aber dann hätte sie den Henkel eher loslassen sollen. Doch es war nun geschehen, und von Nahem betrachtet: Eine erquickliche Augenweide! Ich hätte mich auf der Stelle totlachen können. Wagte ich aber nicht, viel zu riskant. Schon an der Gartenpforte hatte ich vorsichtshalber in die hohle Hand gekichert. Mutter ließ sich nicht gerne auslachen, reagierte allemal allergisch. Nahe bei ihr, war es umso ratsamer, es vollständig zu unterdrücken. Das fiel verdammt schwer. Hingegen unproblematisch: „Och du Arme“ heucheln und ein bestürztes Gesicht aufsetzen.

Eigentlich war eine Mitleidsgrimasse unnötig, denn Mutter hielt die Augen fest zusammengekniffen. Aber es half, um den richtigen Tonfall zu treffen. Den hatte ich ganz bestimmt getroffen, doch um meine mimischen Talente war es spätestens schlecht bestellt, als ihre Augenlider aufklappten – vergleichbar mit einem schläfrigen Uhu, der einen erschreckend plötzlich anstarrt.

Von Kopf bis Fuß geschwärzt, als sei sie durch einen jahrelang nicht gefegten Schornstein gerutscht, stachen die weißen Augäpfel wie angeknipste Glühbirnen aus dem rabenschwarzen Gesicht hervor. Und als inmitten der Schwärze auch noch ein leuchtend rosarotes Loch aufplatzte, sich zusammengepresste Lippen auftaten, da konnte ich mich nicht mehr beherrschen und lachte mich kringelig. Damit hatte ich mir einen nachhaltigen Denkzettel angelacht.

Mutter hatte mit ihrem verteufelt guten Gehör einige schadenfrohe Töne herausgefiltert und verhielt sich, wo ich mich wieder so schön des Lebens erfreute, für meine Begriffe völlig falsch. Meine dargebotene Hand schlug sie beiseite, wollte sich nicht aufhelfen lassen, rappelte sich auf die Beine, wobei sie beinah noch einmal hingepurzelt wäre. Mit halbwegs saubererem Handrücken wischte sie über ihr inzwischen vom Regen verschmiertes Gesicht, fixierte mich wie eine angriffsbereite Kobra und verlangte nahezu jähzornig: „Geh mir bloß schnell aus den Augen und komm mir heute nicht mehr in die Quere!“

Geschockt trollte ich mich zum Schneemann und verpasste dem einen kräftigen Fußtritt, dass er auseinanderbrach, schnappte mir noch schnell die Mohrrübe und stürzte wie von Sinnen ins Haus. Ohne die verdreckten Stiefel abzutreten, hastete ich die frisch gebohnerte Treppe hinauf in unsere kleine Mansardenwohnung und verschanzte mich in voller Montur unter meiner Bettdecke. Nichts mehr hören und sehen wollte ich an diesem vermaledeiten Tag.

Mein Stimmungsbarometer abermals auf dem Tiefpunkt, knabberte ich aus lauter Verzweiflung an der eiskalten Mohrrübe, die postwendend meinen Magen verkorkste und wenige Minuten später abrupt das Bettzeug verfärbte. Ich hörte schon Mutter, wie sie mich wegen einer ausgemachten Sauerei zur Schnecke macht und zu irgendwelcher Drecksarbeit verdonnert. Anstatt Erbrochenes zu entfernen, zog ich die Bettdecke über den Kopf und blies Trübsal. Erneut in Selbstmitleid versunken, machten sich auch wieder düstere Gedanken breit.

Weshalb uns die herzensgute Witwe auf die Schnelle loswerden wollte, wir holterdiepolter mit Sack und Pack aus dem idyllisch am Stadtrand gelegenen Einzelhaus in ein beängstigendes Häusermeer umsiedeln mussten, das konnte ich nicht kapieren. Warum kümmert sich Vater nicht ausgiebiger um uns, fragte ich mich zutiefst betrübt, keineswegs zum ersten Mal, und glaubte felsenfest: Dann wäre diese Zwangslage mit unabsehbaren Folgen doch gar nicht erst passiert! Aber seitdem ihn die Tommys aus der Kriegsgefangenschaft entließen, schipperte er auf Ozeanriesen über die Weltmeere, anstatt Hafendampfer oder Nordseefähren zu steuern, und ließ sich nur alle Jubelmonate blicken. „Solche kleinen Nussschalen sind nichts für waschechte Seebären“, gab er mir zu verstehen, als ich ihm die Ohren voll jammerte – es doch schöner wäre, wenn er jeden Abend oder wenigstens einmal die Woche nach Hause käme. Daraufhin versuchte er, mir lang und breit zu erklären, was ihm die hohe Seefahrt bedeute und welchen Stellenwert sie für ihn einnahm. Aber was hieß das schon, sein Leben, doch nichts anderes, was ich auch noch als zehnjähriger Knirps davon halten konnte, es irgendwann von irgendwem aufgeschnappt hatte: Vater fehle ein ausgeprägter Familiensinn. Mutter hatte es ganz bestimmt nicht gesagt. Sie gefiel sich in der Rolle der Seemannsbraut und betonte es ganz besonders, wenn sensationslüsterne Nachbarinnen darauf ansprachen oder wissensdurstige Damen eines kontinuierlich freitagnachmittags stattfindenden Kaffeekränzchens nicht lockerließen und ihr Unzufriedenheit unterstellten. Einer meiner beiden eigenbrötlerischen Halbgeschwister, Heidi um sieben und Ralf um neun Jahre älter als ich, konnte es auch nicht gewesen sein. Denen war Vaters permanente Abwesenheit gleichgültig. Die hätten ihm auch nicht nachgetrauert, wenn er für immer ewig fortgeblieben wäre, denn für sie existierte er nur als Stiefvater. Eine hässliche Titulierung, die sich von vornherein zweitklassig anhörte, dass unwillkürlich „stiefmütterlich behandelt werden“ assoziiert werden konnte. Wenigstens gegenüber Außenstehenden hätten sie gerne von ihrem Vater reden können, brauchten ihn nicht unbedingt „Vati“ nennen wie ich es tat. Ich sprach jedenfalls niemals von Stiefgeschwistern, für mich waren es immer mein Bruder und meine Schwester. Als ich den hässlichen Begriff abschaffen wollte, um einen wohlwollenden Wortlaut kämpfte, kam deutlich zutage, welche Grundeinstellung die beiden vertraten. Es mag sein, dass ein „aufgezwungener Einsteiger und notgedrungen in Kauf genommene Anhängsel“ keinen Herzzugang findet, aber überhaupt nichts an Vater wertzuschätzen, zumal er sie zu keiner Zeit als „nur seine Stiefkinder“ ansah, das hatte er beileibe nicht verdient. Darum war es auch ein Trauerspiel ohnegleichen, wenn er von einer langen Seereise zurückkam, es Mitbringsel zu verteilten galt und heimlich zugesteckte Extragroschen lockten, dann war Vater für einen Tag der Beste! Ausnahmsweise konnte es vorkommen, dass Ralf ihm dankend die Hand drückte - als sei er ein Fremder – und Heidi ihm einen flüchtigen Dankeskuss auf die Wange gab.

*

Vier Monate war Vater schon wieder auf See. Zuletzt hatte ich ihn am Neujahrstag gesehen, im Petroleumhafen an Bord eines neu in Dienst gestellten Großtankers. Wiederum mussten sich Mutter und ich uns für längere Zeit von ihm verabschiedeten. Diesmal musste er die ellenlange Südamerikaroute absolvieren und das ausgerechnet als Jungfernfahrt, wobei jederzeit gefährliche Dinge passieren konnten. Doch Vater freute sich darauf, freute sich auf Nervenkitzel, wie man sie nicht alle Tage erlebt, und versprach mir hoch und heilig: er werde ganz bestimmt nicht absaufen und auf keinen Fall mit dem Kopf unterm Arm zurückkehren. Höchstens mit weniger Finger oder ein abgeschnittenes Ohr und schlimmstenfalls bei ganz großem Pech, was allerdings nur ganz selten vorkomme, mit einem Holzbein. Das war typisch mein Vater, der weder Tod noch Teufel fürchtete, der für sein Leben gern ulkte und sich nach abgelaufener Lebensuhr im Seemannsgrab ausgiebig mit Nixen amüsieren wolle. Nach außen hin meist rüde und verschmitzt, doch in Wirklichkeit ein dünnhäutiger Feinsinn, der niemals die Schuld bei anderen suchte und keiner Fliege etwas zu Leibe tat. Es sei denn, ihm blieb nichts anderes übrig, ein Streitsuchender ihn zu Selbstschutz nötigte oder Zivilcourage gefragt war. Mächtig stolz war ich auf ihn, wenn er sich aus freien Stücken vor den Schwächeren stellte oder ein Unrecht zu verhindern wusste. Als er in Mutters und meinem Beisein einschritt, als in der U-Bahn Haltestelle Landungsbrücken angetrunkene Halbstarke auf fieseste Weise eine hochschwangere Frau belästigen, er bei einem unvermeidlichen Handgemenge von einem Messerstich in den Oberarm verletzt wurde und aufgrund einer starken Blutung eiligst im Hafenkrankenhaus verarztet werden musste. Unterdessen machte Mutter ihm schwere Vorwürfe, wozu er sich auch immer in fremde Angelegenheiten einmischen müsse und das schöne Jackett, da gründete sich in mir, worüber ich noch nie gesprochen habe: Ich begann meinen Vater mehr zu lieben, als ich jemals Mutter zu lieben vermochte. Zuvor hatte ich ihn vielmehr geachtet als geliebt, mich lediglich immer kindisch gefreut, wenn Mutter verkündete: er werde in den nächsten Tagen heimkommen. Fortan glühte mein Herz, wenn ich davon hörte, und bei jedem weiteren Gedanken ans Wiedersehen durchbluteten meine Ohren viel stärker als sonst, weshalb meine Schwester mich „Rotohr“ hänselte. Mitunter konnte ich nicht einschlafen, wenn ich intensiv an Vater dachte, selbst dann nicht, wenn ich todmüde zu Bett ging, und in meinen Träumen drehte sich dann alles um ihn und unser Beisammensein. Es waren immer die gleichen Träume, gemeinsame Abenteuer auf einer unbekannten Insel, auf der wir uns gegen blutrünstige Monstertiere und Kannibalen verteidigen mussten und Vater mir allemal das Leben rettete, die erst aufhörten, wenn er wieder daheim war. Und wenn er mich fest in seine Arme schloss, meine Stirn küsste und mit einer Träne im Knopfloch „mein lieber Junge“ murmelte, empfand ich ähnliche Glücksgefühle, wie ich sie als Teenager unsterblich verliebt in den Armen einer Freundin und später im Junggesellenstand etwas differenzierter nach schlaflosen Nächten und Tagträumen am Busen einer Angebeteten genoss.

Mit meinem Sinneswandel rückte Vater auch ins richtige Licht. Mit völlig anderen Augen betrachtete ich ihn. Nicht mehr als den „Bruder Leichtfuß“, wie es dann und wann in der Familie zu hören war, sondern als echten Vater, der beste, den ich mir wünschen konnte, fürsorglich und verantwortungsbewusst. Das Resultat meines Umdenkens: zurückgeschraubter Egoismus. Nimmermehr habe ich mich über sein langes Fortbleiben beklagt – ich gönnte ihm die Seefahrt, gönnte ihm s e i n Leben.

Eine Kurzbotschaft per Blitztelegramm aus Kapstadt kam wenige Tage vorm anstehenden Wohnungswechsel ins Haus geflattert: --- machen voraussichtlich in rotterdam fest --- stop --- komme mit schnellzug --- stop --- bin auf alle faelle pfingsten zuhause --- stop --- noch alles dran an mir --- stop --- freue mich auf euch --- ende. Aber das ist doch viel zu spät, um noch rechtzeitig eingreifen zu können, konnte ich mir an zehn Fingern abzählen, und dachte mit Betroffenheit an die unsympathisch anmutende Straße mit fünfstöckigen Altbauten, die sich entlang des speckigen Kopfsteinpflasters der schmalen Fahrbahn und den schäbigen Gehwegen aus rissigen Grausteinplatten wie zusammengeschobene Bauklötze aneinanderreihten. Identisch sahen sie alle aus. Es gab zwar kleine architektonische Unterschiede, doch grob und mit Aversion betrachtet waren Haus für Haus nur anhand unterschiedlicher Fassadenfarben zu unterscheiden. Durchweg uralte Anstriche, überwiegend ein verwittertes Grau in Grau, teilweise abgeblättert und manche von Bombensplittern beschädigt, aber auch einige neue, moderne, in freundlichen Pastelltönen. Doch wie konnte es anders sein, die Hausnummer 21 war natürlich noch nicht renoviert worden. Bei der Wohnungsbesichtigung, zu der ich mitgeschleppt wurde, zeigte sich Mutter jedoch ausgesprochen zuversichtlich. Auf dem Nachhauseweg meinte sie, als sei es ungemein tröstlich, dass auch dieses Haus schon bald renoviert werden würde, zumindest innerhalb der nächsten Jahre. Eingeredet hatte es ihr ihr ein aalglatter Hausmakler, der ekelhaft transpirierte, pausenlos sabbelte und diverse markante Schäden an den Fenstern und Türen mit „nicht relevant“ und „leicht zu behebende Lappalien“ vertuschte.

Als hätte ich es vorausgeahnt: Meine Geschwister hatten nicht das Geringste gegen einen Wohnortwechsel einzuwenden. Heidi hielt es für richtig, weil man dort anonymer wohne, und Ralf freute sich auf einen wesentlich kürzeren Arbeitsweg. Manchmal fühlte ich mich ganz und gar nicht als Bruder. Gegenseitig hielten sie wie Pech und Schwefel zusammen, gaben sich auch immer Schützenhilfe, und wenn ich Beistand brauchte, stieß ich zumeist auf taube Ohren. Am schmerzlichsten war, dass sie kaum mit mir spielten und mir nur selten Kniffe beibrachten. Für alles Ausgefallene hielten sie mich für viel zu klein oder für zu dämlich. Darüber hinaus verhielten sie sich mitunter auch unkameradschaftlich. Sie lästerten, wenn ich was falsch machte, amüsierten sich königlich, wenn Mutter mir eine Strafarbeit aufbrummte, und wenn ich dringend Hilfe bei den Schularbeiten benötigte, dann hatten sie entweder null Bock oder prompt keine Zeit.

Einige Tage vor Pfingsten war es dann unumstößlich geschehen. Ein namhaftes Umzugsunternehmen hatte unsere ganze Habe abgeholt, unterdessen wir „unersetzliches“ Kleinod und „lebenswichtigen“ Papierkram in öffentlichen Verkehrsmitteln transportierten, und kreuz und quer in der neuen Wohnung verteilt. Normalerweise hätten die kräftigen Möbeltransporteure alle Schränke aufgebaut, auch die anderen schweren Möbelstücke und die sperrigen Bettgestelle auf die dafür vorgesehenen Plätze gerückt, doch den Service konnten wir uns wegen ruinöser Maklercourtage nicht leisten.

Mutter fand sich im wüsten Durcheinander von Pappkartons, Holzkisten, Matratzen, Gardinen, Kleiderbergen und auseinandergenommenen Möbeln nicht mehr zurecht und wusste nicht, wo sie anfangen sollte. Nach einer halben Stunde brach sie in Tränen aus und wäre am liebsten davongelaufen. Ha, das hat sie nun davon, feixte ich mir, und sah mit noch mehr Häme zu, wie Ralf schwitzte und fluchte, als er gemeinsam mit Heidi den Kleiderschrank im Schlafzimmer zusammenbaute. Einen Staatsakt machten sie daraus. Zweimal begannen sie von vorn, und als er dann endlich fix und fertig aufgestellt war, aber nicht exakt an der Stelle, wohin Mutter den haben wollte, nämlich eine Handbreit dichter ans Fenster, damit die Wäschekommode noch Platz habe, da verlor Mutter vollends die Nerven. Zuerst schimpfte sie nur mit Horst, weil er nicht aufgepasst habe, dann mit Heidi, weil sie ebenfalls besser hätte aufpassen können, und als sie sich wegen eines zuvor keinesfalls vorhandenen Kratzers auf der Vorderseite einer Schranktür mit beiden zugleich in die Wolle kriegte und „pingelig anstellen“ und „Fehlplanung“ zu hören bekam, brach sie die ganze Vorstellung ab wollte erst am andern Tag weitermachen.

Es folgte eine ziemlich kontrovers geführte Debatte, wobei es alsbald nicht mehr ums Hauptsächliche ging, vielmehr nur noch um alte Kamellen, dass ich mich vorsorglich einmischte: „Sollen wir etwa auf dem Fußboden schlafen?“, fragte ich lässig, mitten in Mutters Wortschwall hinein, die Hände in den Hosentaschen vergraben, und wollte auch gleich mal wissen, wie’s denn überhaupt mit Essen sei. Alle Blicke auf mich gezogen, war i c h plötzlich der Buhmann. Ich sei daran schuld, weil ich noch keinen Finger gekrümmt habe, und wenn ich nicht bald helfe, darauf könne ich mich verlassen, dann gebe es überhaupt nichts zu essen. Einsichtig wollte ich dann doch lieber mithelfen. Was ich bitte schön tun soll, konnte mir allerdings keiner sagen. Entweder war es zu schwer für mich, dann war ich wieder zu klein, anderes sei viel zu kompliziert oder ich könnte etwas kaputtmachen, und weil ich mich sowieso immer blöd anstelle, sollte ich am allerbesten ganz aus der Schusslinie gehen.

Immerhin hatte ich etwas sehr Entscheidendes bewirkt: Mutter raffte sich auf und wollte beim nächsten Missgeschick ein Auge zudrücken, meine Geschwister rafften sich ebenfalls auf, wollten einen Schlag reinhauen, und ich legte mich dorthin schlafen, wo ich vorerst nicht stören konnte. Noch im Schlaf hätte ich meinen Kopf verwettet, dass Heidi zuallererst auf die Toilette müsse.

Unsere neue Wohnung war weder großzügig bemessen noch zeitgemäß ausgestattet. Im Hochparterre gelegen drei kleine Zimmer und eine Wohnküche mit separater Speisekammer. In der Toilette, keinen Schritt breit und unnütze vier Meter lang, gab es kein Fenster, auch keinen anderweitigen Geruchsabzug. Das Handwaschbecken darin, das Kleinste, was ich jemals gesehen habe. Ein Badezimmer gab es nicht. Ebenso wenig eine Dusche. Eigentlich überhaupt keine anständige Waschgelegenheit, wenn man nicht das quadratische Keramikwaschbecken in der Küche als ausreichend betrachtete, Heißwasserboiler oder Durchlauferhitzer als luxuriös ansah und Kaltwasserversorgung bevorzugte. Schaudernd kalt im Winter, aber sparsamer Wasserverbrauch. Der antiquierte Kreuzgriff des Messinghahns blieb immer nur kurz aufgedreht. Höchstens so lange, wie abgestandenes Wasser aus der Bleileitung floss, bis kühler Nachschub aus dem Erdreich die Fingerspitzen erreichte. So war es auch kein Wunder, dass unter der Woche nur verhältnismäßig unempfindliche Körperteile gesäubert wurden.

*

Wie tägliche Katzenwäsche zur Routine geworden, so wurde auch allwöchentliche Körperpflege am Samstagnachmittag zur Selbstverständlichkeit. Ein randvoller Pfeifkessel sowie ein großer Suppentopf mit kochend heißem Wasser in eine Zinkwanne geschüttet und mit Kaltwasser vermengt, ergaben lauwarmes Badewasser für jeweils zwei Personen. Ein Drama, wenn sich Mutter und meine prüde Schwester ganz und gar abseiften. Allemal wurde ich hinausgeschickt. Mein in den besten Flegeljahren befindlicher Bruder erst recht. Vorsichtshalber wurde der Türschlüssel umgedreht und der Schlüsselbart noch haargenau senkrecht gestellt, damit ich unter keinen Umständen etwas Aufschlussreiches zu sehen bekam. Das konnte ich nur als ausgemachten Humbug deuten, ein ungerechtes Messen mit zweierlei Maß. Denn wenn mein Bruder seinen Astralleib gründlich reinigte, manchmal auch verdächtig lange seinen bereits ausgewachsenen Pimmel seifte, als wäre der besonders verdreckt, dann durfte ich doch auch zugegen sein! Und wenn ich dran war, wie immer zum Schluss von Mutter vorgenommen wurde, sie zuerst meine zarte Kinderhaut mit einem klobigen Stück Kernseife ruinierte und dann schonungslos meinen strubbeligen Haarschopf mit den ausgequetschten Resten eines Ei-Shampoo-Kissens wusch, dann durften alle dabei sein. Noch ungerechter war: Ich musste mit Dreckwasser vorliebnehmen. Eklig, der schmuddelige Seifenrand, den mein Bruder hinterließ, und von Warmwasser konnte auch keine Rede mehr sein. Alles in allem eine Tortur, altkluges Grinsen meiner Schwester inklusive. Einmal sollte sie mich stellvertretend vorknöpfen, Mutter hatte ihre Arbeitshand am heißen Herd verbrannt, aber das wollte ich gar nicht erst einreißen lassen und ließ es nicht zu. Heidi hätte sich ganz bestimmt einen Jux daraus gemacht, mich leidenschaftlich gequält, mit tödlicher Sicherheit absichtlich überall angefasst und halbseidene Sprüche geklopft. Also übernahm ich erstmals alleinig eine signifikante Lebensaufgabe. War das gleich eine Tragödie! Aber was konnte ich dafür, wenn ich auf dem schmierigen Wannenboden ausrutschte, mich nirgends festhalten konnte, mit dem Hintern auf den Wannenrand fiel und mitsamt der Wanne umkippte? Als sei es damit nicht genug, ergossen sich noch ätzende Gemeinheiten über mein unschuldiges Haupt. Mutter nannte mich einen unbeholfenen Tölpel, Heidi hielt mich für zu dumm zum Milchholen, und Ralf wollte sich kaputtlachen und meinte nicht mal spaßeshalber: „Mit ein bisschen Übung kannst du mit der Lachnummer im Zirkus auftreten.“

Jeden zweiten Mittwoch wurde Wäsche gewaschen, was das Zeug hielt. Kochwäsche in einem großen Holzbottich mit heißer Seifenlauge, während des Erhitzens auf einem Waschbrett geriffelt und in kochender Phase unter Zuhilfenahme eines überdimensionalen Holzlöffels sporadisch umgerührt oder gestampft, die Feinwäsche und Wollpullover in einem Emaille-Bottich mit handwarmer und abgeschwächter Lauge behutsam zwischen den Fingerknöchel und Handballen gerieben. Am Ende wurde jedes Wäschestück einzeln in klarem Wasser gespült und unterschiedlich ausgewrungen, die Feinwäsche mäßig und Kochwäsche bis es nicht mehr tropfte, und abschließend über die unter die Zimmerdecke gespannten Leinen zum Trocknen aufgehängt. Unangenehm blümerante Luft und sehr hohe Luftfeuchtigkeit hatte ein Waschtag zur Folge, dass man erst am nächsten Tag wieder richtig durchatmen konnte. Und wenn es vorkam, dass es wie in einer türkischen Sauna dampfte, die beschlagenen Fensterscheiben keinen Blick mehr nach draußen zuließen und in Ölfarbe gestrichene Wände vor Wasserperlen strotzen, dann nahm selbst Vater Reißaus. „Nicht, dass mir hier eines Tages noch Kiemen wachsen“, hatte er mal im Hinausgehen geulkt und versehentlich die Tür zu heftig hinter sich geschlossen. Mutter fasste es selbstverständlich als Rüge auf, war folglich sehr darüber verärgert und reagierte natürlich auch entsprechend: Kündigte für demnächst Arbeitsverweigerung an, wenn sie nicht bald mal einen Waschautomaten bekäme.

In der guten Stube sorgte ein recht hübscher Kachelofen für bullige Wärme in der kalten Jahreszeit. In der Küche ein Monstrum aus schwarzem Eisen, ein rustikaler Kohleherd. Der war doppelt und dreifach insoweit zweckdienlich, dass auch Essen darauf gekocht werden konnte. Ansonsten stand uns ein praktikabler Gasherd mit vier Brennern zur Verfügung. Nötigenfalls ließ sich mittels offener Flammen auch verschlagene Wärme erzeugen. Aus Kostengründen kam das aber nur für wenige Minuten frühmorgens infrage, wenn klirrende Kälte Eisblumen auf die Fensterscheiben gezaubert hatte und der Herd noch nicht angeheizt war, oder sporadisch in der Übergangszeit, wenn uns fröstelte, sobald nasskalte Herbststürme an den Fensterläden rüttelten, als winterliche Vorboten durch alle Ritzen bliesen und sich auf den Fensterbänken längliche Wasserlachen bildeten.

Meine Geschwister teilten sich ein kleines Zimmer und ich mir ein Doppelbett. Auf das Privileg, als solches wurde es immer ausgelegt, neben Mutter zu kampieren, wo sie doch mitunter unerträglich laut schnarchte, hätte ich gut und gerne verzichten können. Und wenn Vater für einige Tage auf Landurlaub daheim war, dann musste ich das Feld räumen und auf dem unbequemen Sofa in der Stube übernachten. Manchmal aber auch Vater. Auffällig missgelaunt war er dann, was überhaupt nicht seiner Wesensart entsprach, und redete tagelang kein Wort mehr mit Mutter. Oder sie nicht mit ihm? Genaugenommen war nicht erkennbar, wer nicht mehr mit wem sprach. Das Anschweigen beruhte anscheinend auf Gegenseitigkeit. Es herauszufinden, haben weder ich noch meine Geschwister sich getraut. Dabei wäre es doch wirklich interessant gewesen, die Ursache zu erfahren, warum Vater an solchen Tagen noch vor dem Frühstück aus dem Haus ging, grundsätzlich erst zu später Stunde heimkehrte, manchmal auch einen über den Durst getrunken, und den Rest der Nacht am Küchentisch verbrachte. Woran es genau lag, dass zwischen meinen Eltern eine totale Entfremdung eingetreten war, fand ich erst im Verlaufe meiner Pubertät heraus und konnte allmählich auch Vaters Beweggründe verstehen. Mutters nie. Sie hatte keine, nur Ausflüchte. Warum für sie überhaupt kein Schlussstrich in Frage kam, dafür wusste sie nur einen Grund zu benennen: Witwenrente! Ein Armutszeugnis erster Klasse. Einfach blindlings davon auszugehen, Vater zu überleben, hatte wohl kaum noch irgendwas mit Liebe zu tun. Noch nicht einmal mehr mit Zuneigung. Im Gegensatz zu meinen Geschwistern, denen die eingewurzelte Zwietracht am Herzen vorbeiging, habe ich lange darunter gelitten – streng genommen zeitlebens, und mir irgendwann geschworen: ein Ehejoch aus sogenannten Vernunftgründen, ein stummes Nebeneinander ganz ohne notwendige Zärtlichkeiten, niemals zu akzeptieren.

Unser Familienleben spielte sich hauptsächlich in der Wohnküche ab. In der wurden alle Mahlzeiten eingenommen, ruckzuck die Schularbeiten erledigt und stundenlang das Hamburger Abendblatt oder die Büchermappe gelesen; Postkarten und seitenlange Briefe geschrieben, Strümpfe gestopft und abgerissene Knöpfe angenäht, Topflappen und Tischdecken gehäkelt, dicke Wollschals und Pullover gestrickt und auf einer altersschwachen Nähmaschine Bettwäsche, Handtücher, Gardinen und einfache Kleidungsstücke genäht; wurde allabendlich über alles Mögliche gesprochen, manchmal „Mensch ärgere dich nicht“ oder „Schwarzer Peter“ gespielt; gelegentlich auch Skat gedroschen, bis auftrumpfende Fingerknöchel schmerzten, oder der lederne Würfelbecher auf die Tischplatte geknallt, dass den Mitspielern die Augenlider zuckten; und wenn’s mal wieder sein musste, in Spitzenzeiten fast täglich, schwerwiegende Themen ausdiskutiert und letztendlich dahingehend vorprogrammiert, dass grundsätzlich wir Kinder den Kürzeren zogen.

Ganz anders ging es zu, wenn Vater daran teilnahm und den Hausfrieden glättete. Unter seiner Federführung gab es keine autoritäre Härte, auch kein nichtssagendes „Vielleicht“ und vor allem kein vorschnelles „Nein“. Dann galt sinnvolles Hinterfragen, konstruktives Abwägen und danach angemessen entscheiden. Und bei ihm behielt recht, wer auch recht hatte. Manchmal überhaupt keiner. Aber dann wurde zumindest repressionsfrei abgestimmt, auch mal vertagt, oder es kam zu einem Konsens. Im Allgemeinen zeigte sich Vater auch wesentlich toleranter als Mutter, und falls es Ablehnungsgründe gab, dann wurden diese ausreichend argumentiert und dann auch einsichtig akzeptiert. Als Vater zum ersten Mal ein Abstimmungsverfahren befürwortete, sich die Frage stellte, ob ein neuer Staubsauger, wo doch der alte Kobold noch funktionstüchtig sei, höchstens etwas lauter geworden, auch wirklich wichtiger wäre als ein Kofferradio für die Küche, da wollte Mutter die vernichtende Niederlage nicht ohne weiteres einstecken, stritt im Nachhinein um gleichrangiges Stimmrecht und streute noch Salz in die Suppe: „Dann habe ich in Zukunft wohl gar nichts mehr zu sagen und kann den Kindern gleich freie Hand lassen, oder wie?“ Jeder wartete gespannt auf Vaters Antwort, für die er sich einen Augenblick Zeit ließ. Deutlich war ihm anzusehen, dass er Überlegungen anstellte, und dann brachte er eine Sensation zur Sprache: „Selbstverständlich will ich keinesfalls deine Autorität untergraben, dir auch dein durchweg kluges Vorgehen nicht streitig machen, aber künftig solltest du weniger die allgewaltige Mutter herauskehren, dafür umso öfter beherzigen, dass Kinderwünsche genauso wichtig sind wie unsere eigenen.“ Vier offene Münder! Und weil keiner etwas sagte: „Weil wir schon einmal beim Thema sind, und das dürfen unsere Kinder gerne mit anhören, du könntest allen mehr Gelegenheit geben, dass sie ihre kleinen Forderungen durchzusetzen lernen, natürlich nur solche, die weder überzogen noch unverdient oder von vornherein nicht machbar sind, damit sie nicht zu Jasagern und Duckmäusern verkümmern, als Erwachsene besser zurechtkommen, insbesondere im Berufsleben.“

Grabesstille. Mutter starrte konsterniert auf Ralf, dem ein zustimmendes Brummen entschlüpft war; ein schiefer Seitenblick auf Heidi, die erst grinste und dann schleunigst einen Bahnhofsblick aufsetzte; noch ein strafender Blick in meine hellauf begeisterten Augen, obwohl ich von alldem nur die Hälfte verstand; wandte sich wieder Vater zu, machte ein unversöhnliches Gesicht und holte zum Gegenschlag aus: „Wenn wir im Beisein der Kinder schon über Erziehungsmethoden sprechen, dann erzähl doch auch, was du in unserer Hochzeitsnacht von mir verlangt hast!“ Das wusste Vater nicht auf Anhieb und musste sich erst schlaumachen: „Was meinst du? Könntest du es präzisieren? Soweit ich mich erinnere, haben wir die ganze Nacht hindurch über vielerlei geredet, nichts anderes getan als nur geredet und geredet.“ Mutter ignorierte seine ironische Anspielung auf eine offenbar misslungene Hochzeitsnacht, und half ihm auf die Sprünge: „Ich meine damit, was wir lang und breit besprochen haben, von wegen Kindererziehung, um genau zu sein, welche Erziehungsmethoden d u für angebracht hältst!“ Und schon wusste Vater: „Ach so ist das, dahin läuft der Hase jetzt.“ Er schaute kurz auf mich, als wolle er mir im Vorwege ansehen, wie ich es aufnehmen würde, was er zu sagen habe, und gab zur Mutters inniger Freude freimütig zu: „Ja und, dazu stehe ich auch nach wie vor, dass ich vereinfacht gesagt habe …“, wieder blickte er auf mich, „bessergesagt zitiert habe: Wer sein Kind liebt, der züchtige es.“ Das war Wasser auf Mutters Mühlen. „Seht ihr Kinder, da haben wir’s!“, trumpfte sie erhobenen Hauptes auf, und Vater resignierte. „Wir reden wieder mustergültig aneinander vorbei“, brummte er sichtlich enttäuscht.

Erzieherisch hielt Vater keineswegs Unterdrückung und Prügelstrafe für richtig, sondern strenges Zurechtweisen und berechtigte Verbote. Auch das Mindeste abverlangen, wenn es um Mithilfe im Haushalt ging, aber dann hübsch nach Altersstufen gegliedert. Das konnte ich im Laufe des Großwerdens de facto am eigenen Leib verspüren. Niemals hat er mich geschlagen, auch nicht angebrüllt, wie Mutter es tat, nur hin und wieder in aller Schärfe zurechtgewiesen und gelegentlich zu leichter Strafarbeit verdonnert. Dann musste ich aber schon rotzfrech gewesen sein oder lange auf der faulen Haut gelegen haben. Überzogenes Faulenzen und flegelhaftes Danebenbenehmen duldete er nicht. Von Pflichterfüllung und immer schön höflich sein, sprach er dann. Als ich mal aus Jux die komplette Klingelanlage des Nachbarhauses lahmgelegt hatte und Reparaturkosten anfielen, die ein tiefes Loch in unsere Haushaltskasse rissen, verdeutlichte er mir in aller Ruhe den himmelweiten Unterschied zwischen Rabaukentum und Dummejungenstreiche. Nach seiner Ansicht konnte ich ausfressen, was ich wolle, solange es im Rahmen von jugendlichem Leichtsinn blieb, mangels besseren Wissens danebenging oder versehentlich passierte. Mutter tolerierte nichts. Dennoch, auch wenn sie mich häufig herunterputzte und mit Höchststrafen traktierte, von körperlicher Züchtigung hielt sie ebenso wenig wie Vater. Nur unerhebliche Ausrutscher wie ab und zu eine kleine Backpfeife oder auf die Finger klopfen haben mich erwischt, und den Hintern bekam ich nur ein einziges Mal versohlt – völlig zu Recht und auch gleich dermaßen, dass Mutter ihr Handgelenk dabei verstauchte und ich tagelang nicht schmerzfrei sitzen konnte.

Aus einer Astgabel, einem Lederstückchen und ein Gummiring für Einweckgläser hatte ich ein Katapult gefertigt und sofort Reichweite und Treffsicherheit getestet, übermütig einige Murmeln gezielt auf die zwanzig Meter entfernte Fensterscheiben von zwei Wohnungen verschossen. Natürlich hatte ich mich an den Treffern geweidet und an der erstaunlichen Durchschlagskraft erfreut, aber es nicht im Entferntesten für möglich gehalten, was mir acht Tage später, als ich überhaupt nicht mehr daran dachte, zwei Kripobeamte schonungslos unter die Nase rieben, nachdem sie zuvor einige Minuten mit Mutter allein geredet hatten. Ausgequetscht wie eine Zitrone hatten die mich, mir dann auf den Kopf zugesagt, was ich verbrochen habe und auch gleich womit, sodass ich nicht erst leugnete, schweren Herzens die Tatwaffe herausrückte. Daraufhin wurde ich sogleich aus den Armen meiner entsetzten Mutter gerissen, an den Handgelenken festgehalten wie ein Schwerverbrecher abgeführt und ziemlich grob auf die Rückbank eines flaschengrünen Funkkäfers verfrachtet. Bevor es ab zur Davidwache ging, wie es der Fahrer anklingen ließ, überlegte der Beifahrer, in einem Abwasch auch gleich Mutter einzuladen, weil sie wegen schwerer Aufsichtspflichtverletzung sowieso vor den Kadi käme. Der Fahrer hielt es für eine gute Idee, erklärte sich einverstanden, stieg wieder aus und schritt energisch zu Mutter, die scheinbar weinend im Hauseingang stand. Er redete kurz mit ihr, geleitete sie zum Wagen und half ihr in den Fond, schwang sich gekonnt hinters Lenkrad und warnte mit drohendem Unterton: „Über das Delikt sprechen ist nicht erlaubt!“ Wenn mir nicht schon vorher der Arsch auf Grundeis ging, dann in diesem Augenblick. Mutter würdigte mich keines Blickes, redete kein Sterbenswort. Nicht einmal zu fragen wagte ich, was denn nun mit uns passieren würde. In meiner Verzweiflung beschlich mich eine Schreckensvision: Mutter will mich verstoßen und in ein Heim für schwererziehbare Kinder stecken! Mit der Polizei wollte sie nichts zu tun haben, sie war doch immer so stolz darauf, dass es noch nie vorgekommen sei, und nun hatte ausgerechnet ich diese Schande über sie gebracht, möglicherweise ihr sogar Gefängnis angetan! Während der Fahrt unterhielten sich die beiden Beamten über ihren nicht immer angenehmen Beruf und stellten nebenbei fest: Ein Blutbad angerichtet … die armen Eltern … war doch noch ein Baby … das Kinderbett stand unter der Fensterbank … die Halsschlagader von einer Scherbe durchtrennt … da konnte kein Arzt mehr helfen! Zu Tode erschrocken begriff ich, dass die über mich sprachen, denn bis dahin wusste ich nur von einem teuren Sachschaden. In meinen Halsschlagadern begann es abnorm stark und rasend schnell zu pochen. Ich wähnte mich in Nähe von Herzversagen, kauerte mich wie ein Häufchen Elend im Sitz zusammen und geriet nur wenig später ohnehin in lebensmüde Verfassung. Mutter schien den entsetzlichen Unglücksfall bereits verkraftet zu haben. Keine Spur von Blässe, ganz normaler Atem, und ihr Blick aus dem fahrenden Auto, als würden wir uns mitten auf einer Urlaubsfahrt befinden.

Auf der Davidwache benahm sie sich Mutter, als handele es sich um Ersetzbares. Sie hat wirklich ein Herz aus Stein, sagte ich mir unter Tränen, weil sie tatenlos zusah, wie mich ein Hauptwachtmeister erst klein mit Hut und dann zur Schnecke machte. Wie ich so etwas Böses überhaupt tun könne, hatte der gepoltert, es mehr als nur ein Dummejungenstreich gewesen sei und mir nun teuer zu stehen komme, ich dafür büßen müsse und auf der Stelle bei Wasser und Brot eingesperrt werde. Auch dagegen hatte Mutter nichts einzuwenden, und weil ich nicht mehr wusste, was hinten und vorne war, wie mir überhaupt geschah, fand ich mich ruckzuck hinter Schloss und Riegel wieder. Nur eine derbe Holzpritsche und eine zusammengefaltete Wolldecke gab es in der Zelle. Auf dem Steinfußboden ein Blechteller, darauf zwei Scheiben trockenes Graubrot, daneben ein Becher mit Wasser drin. Das Brot ließ ich unbeachtet, aber den Becher trank ich in einem Zug leer. Ein unaufhörlicher Tränenstrom hatte mich ausgetrocknet, denkbar vollkommen trockengelegt. Sogar der Blaseninhalt schien schon aufgezehrt zu sein, zuvor existierender Harndrang war vergangen. Und weil das so war, dachte ich tatsächlich darüber nach, ob die Blase, wenn die Tränensäcke geleert sind, als Ersatzfunktion einspringe. Scheinbar ist das so, stellte ich mir vor, weil ich durchaus wusste: Tränen und Urin schmecken ähnlich salzig.

Erschöpft legte ich mich in Embryohaltung auf die Pritsche. Die Tränen versiegten und nach intensivem Kopfzerbrechen erwachten neue Lebensgeister. Von der ungeheuerlichen Ahnung übermannt, es könnte sich um eine ausgemachte Schmierenkomödie handeln, eine von Mutter befürwortete Inszenierung, um mich richtig weich zu kochen. Ja, natürlich, ein verabredeter Komplott! Deshalb war Mutter nicht blass geworden! Das Blutbad war auch nur erfunden! Von Minute zu Minute wurde ich mir sicherer, dass Mutter und die Polizeibeamten gemeinsam erreichen wollten, dass ich nie wieder Dummheiten anstelle. „Aber ich bin doch ein Junge“, piepste ich, als hätte ich Kreidewasser getrunken, starrte gedankenverloren auf den leeren Becher und erinnerte mich an eine prägnante Aussage von Vater: „Jungs hobeln nun mal mehr Späne als Mädchen“, hatte er eingewandt, als Mutter mir ein zerrissenes Hosenbein ankreidete und einen völlig unsinnigen Vergleich anstellte – ebenso gut hätte sie nämlich darüber meckern können, dass Heidi, weil sie gerne strickte, teure Wolle verschwende. „Will Mutter mich etwa zum Puppenspieler verzärteln?“, fragte ich den Blechteller, als sei ich bereits ein Halbidiot, und vertraulich an die Becher gewandt: „Ich will doch jagen und räubern, auf hohe Bäume klettern, mit Pfeil und Bogen schießen, ein Hirschmesser als Wurfmesser handhaben, mit einem Luftgewehr Dreckstauben unter Beschuss nehmen, will hämmern und sägen, basteln und schnitzen, will mich gut verteidigen können, notfalls Mädchen beschützen und mich als Held aufspielen, will überhaupt alles tun, was ein Junge tun muss!“ All das von der Seele geredet, wäre ich am liebsten eingeschlafen. Doch das Tohuwabohu in meinem Kopf ließ es einfach nicht zu. Bereits hundertprozentig davon überzeugt, dass Mutter diesen Hokuspokus unterstützt habe, beschloss ich, was ich noch nie getan hatte, mich diesmal bei Vater zu beschweren. Dann wird sie ein blaues Wunder erleben, stellte ich mir schon bildlich vor, und erschrak! Die Zellentür wurde aufgestoßen und ein korpulenter Wachtmeister dröhnte: „Ab zum zweiten Verhör!“ Eben noch obenauf, lagen meine Nerven wieder blank.

Beim Betreten des Vernehmungsraumes reduzierte sich hundertprozentige Überzeugung zur Hälfte. Die Mundhöhle abermals ausgetrocknet und gewaltigen Schiss in der Hose, blieb ich wie angewurzelt stehen und konnte es kaum glauben, was ich auf Anhieb registrierte: Vormals unerbittliche Gesichtszüge des Hauptwachtmeisters präsentierten sich als liebenswürdig, Mutter signalisierte Schadenfreude und die Bahnhofsuhr an der Wand bestätigte: In der Zelle hatte ich höchstens eine Stunde zugebracht, wie mehrere war es mir doch vorgekommen. Mit Freundlichkeit hatte ich überhaupt nicht gerechnet, mit demonstrierter Häme eigentlich schon – und das unter den Augen eines Fremden. Der war auch einen Moment befremdet, als er auf Mutter blickte. Seine aufmerksamen Augen wanderten wieder zu mir, er lächelte, nickte zum Stuhl vor seinem Schreibtisch, machte eine einladende Geste, ich möge mich setzen, nicht weiter anwurzeln. Er beobachtete ganz genau, wie ich mich hinsetzte, unterwürfig auf den Rand der Sitzfläche, und schielte an mir vorbei, weil Mutter mehrfach hüstelte. Er nickte ihr kurz zu, als habe sie was gesagt, räusperte sich, blickte mich durchdringend an, sodass meine Augenlider niederschlugen wie von selbst, und begann mit einer Gardinenpredigt vom Feinsten: „Ich hoffe doch, mein lieber Harry, dass es dir eine Lehre war und du so etwas nie wieder fabrizierst. Mit deinem Mutwillen, den ich deiner Mutter zuliebe ausnahmsweise als jugendlichen Leichtsinn betrachte, hättest du beinahe ein vier Monate altes Baby schwer verletzt oder schlimmstenfalls getötet.“ Mir fiel eine Gesteinslawine vom Herz. Doch kaum aufgeatmet und hörbar ausgeblasen, dass es durch die Lippen pfiff, predigte er weiter: „Du kannst dem lieben Gott danken, dass die Kindeseltern wenige Minuten zuvor das kleine Mädchen aus dem Bettchen genommen haben, wahrhaftig rein zufällig, wie ich betonen möchte. In der Regel bekommt die Kleine erst um Punkt drei Uhr ihr Fläschchen, doch weil Besuch gekommen war, wurde sie vorzeitig aus dem Schlaf genommen. Nicht zuletzt auch zu deinem Glück natürlich, mein lieber Freund und Kupferstecher, und darum meine ich, dass es dir nicht schadet, wenn du nächsten Sonntag in eurer Kirche beim Gottesdienst ein Loblied auf den Herrn singst und hoch und heilig vor Jesus Christus versprichst, nie wieder ein Katapult in die Hand zu nehmen.“

Wenn’s weiter nichts ist, dachte ich, den Quatsch vollziehe ich mit links. Aber da hatte ich mich zu früh gefreut, denn es gab noch einen bitteren Wermutstropfen zu verdauen. „Zudem musst du es hier und jetzt deiner Mutter und mir versprechen“, verlangte er, und bot einen populären Kuhhandel an: entweder Belohnung oder Repressalie. „Wenn du einverstanden bist, kann deine Mutter dich mit nach Hause nehmen, wenn nicht, stecke ich dich wieder in die Zelle. Versprichst du es?“ Ich nickte eifrig, ähnlich wie ein Buntspecht hämmert, und aus zugeschnürter Kehle sprudelte polyphones „Jaaaohjaaa ich verspreche es!“ Er nickte zufrieden und erhob sich, reichte mir seine Hand, die sich stählern anfühlte, quetschte aber keine Finger, wie mein Onkel es immer tat, und lobte freundlich: „Das ist gut, mein Junge, ausgezeichnet, ich sehe es dir an der Nasenspitze an, dass du es ehrlich meinst.“ Und dann in Beamtendeutsch an Mutter gewandt, dass ich zur Hälfte nur Bahnhof verstand: „Bliebe nur noch die Schadenregulierung, gnädige Frau. Die Hauptforderung des Anspruchstellers habe ich Ihnen bereits zur Kenntnis gebracht. Sie sollten es umgehend ausgleichen und noch schriftlich übereinkommen, dass auch zivilrechtlich keine weiteren Schritte erwogen werden. Warum das wichtig ist, können Sie sich denken.“ Schon bei seinen ersten Worten war hämisches Lächeln von Mutter zu eisigem Groll gefroren, dass ich mir leichthin den weiteren Werdegang ausschmücken konnte. Im Moment tangierte es mich aber nicht weiter, jedenfalls nicht unmittelbar.

Auf den Treppenstufen zur Freiheit machte ich drei dicke Kreuze. Draußen schien die Großstadtluft aus frischer Nordseebrise zu bestehen, im Raucherabteil der Hochbahn aus purem Stickstoff, und daheim aus achtunggebietender Gewitterschwüle, die eintretenden Blitz und Donner voraussagte. Und dann gab es die verdiente Dresche – jeder einzelne Schlag von einem Wort begleitet, jeder Satz von einer kleinen Verschnaufpause getrennt, und den letzten Satz in einer Lautstärke gegrölt, dass die ganze Nachbarschaft abscheuliche Kindesmisshandlung vermuten konnte: „Das du mir immer wieder Kummer bereiten musst!“ „Du willst mich wohl frühzeitig unter die Erde bringen!“ „Deinem Vater werde ich was erzählen!“ „Und wenn du morgen nicht mehr sitzen kannst!“ „Auch wenn mir gleich die Hand dabei abfällt!“

Abgefallen war sie nicht, aber ziemlich arg verstaucht. Schmerzen in ihrem Handgelenk überdauerten mein Weh, ich konnte bereits am übernächsten Tag wieder ordentlich sitzen. Und bezüglich einer möglichen Spätreaktion von Vater, so wurde nicht ich, sondern ausschließlich Mutter in die Mangel genommen. Sie hatte natürlich gehofft, dass Vater mit ihr konform gehe, als sie ihm in allen Einzelheiten die Fakten schilderte und dabei auch noch übertrieb, aber da hatte sie sich schwer geschnitten. Fuchsteufelswild reagierte er, als er davon hörte, dass Mutter eine maßgeschneiderte Einschüchterung veranstaltet habe, und bezeichnete ihr Verhalten als unentschuldbar. Und nachdem ich ihm in der Hoffnung auf Straffreiheit geschildert hatte, ich würde seitdem nicht mehr richtig lachen und schlafen können, kam es noch schlimmer für Mutter. Vater schritt wie ein Tiger im Käfig in der Wohnung hin und her. Nach einigen Minuten zog er sich mächtig erbost mit Mutter in die gute Stube zurück. Durch zwei geschlossene Türen konnte ich deutlich vernehmen: „Dein Psychoterror kann einen bleibenden Schaden verursacht haben“, warf er Mutter vor. „Derartiges kannst du meinetwegen mit Heidi und Ralf veranstalten, wenn du meinst, es sei für dich die richtige Erziehungsmethode, aber nicht, verdammt noch mal und zugenäht, nicht mit meinem Sohn!“ Nur gut, dass meine Geschwister nicht anwesend waren. So laut war Vater noch nie geworden. Auch derart geflucht hatte er noch nicht, maximal leise vor sich hin beim Tapezieren oder wenn er die Fenster putzen sollte. Seltsam war, warum Mutter nicht aufbegehrte. Sie hatte zwar noch irgendwas erwidert, was ich akustisch nicht verstehen konnte, aber großartiges Entgegenhalten konnte es nicht gewesen sein.

Einen schwer geknickten Eindruck machte Mutter, als sie kleinlaut wieder in der Küche erschien. Ihren Gesichtszügen konnte ich entnehmen, dass sie sich grämte, vielleicht sogar schämte. Mehr oder minder war sie anscheinend recht einsichtig, denn ansonsten hätte sie wohl kaum bedauert und sich halbwegs bei mir entschuldigt. Ich wusste, wie schwer es ihr fiel, sich zu entschuldigen, das tat sie so gut wie nie. Aber was sollte ich sagen? Es täte mir leid, dass es ihr leidtat? Nein, lieber fiel ich ihr kurzerhand um den Hals, um damit vergessen und vorbei anzuzeigen, und machte ihr noch einen großherzigen Vorschlag: „Ich baue keinen Mist mehr und du bist nie wieder grob zu mir.“ Davon völlig überrascht, brachte Mutter kein Wort heraus. Aber Vater. Unbemerkt war er hereingetreten, hatte zuvor im Türrahmen gestanden und mein naives Angebot mit angehört. Er freute sich über das Einvernehmen und hatte schon sein unvergleichliches Schmunzeln wiedergefunden. Er setzte sich zu uns an den Tisch, runzelte die Stirn, kratzte sich am Nacken und zweifelte: „Wenn das man alles so eintrifft.“ Vater war gewiss kein Pessimist und Schwarzmalerei hasste er, doch er wusste sehr genau: Langfristig gesehen habe höchstens eins davon Bestand.

So gut Vater schlichten konnte und so schön er mit Worten umzugehen verstand, umso schlechter war es um die Kochkunst bestellt. Wenn er daheim war, kochte er glücklicherweise nur selten. Und wenn, dann Seemannsgerichte wie Labskaus oder irgendwelchen chinesischen Krimskrams. Wohlschmeckend war fast nichts. Auch würzte er viel zu scharf, so wie er es gewohnt war. „Auf See wird scharf gesalzen und gepfeffert, an Land geprügelt und gebechert“, konterte er vergnügt, wenn Mutter seine Geschmacksverirrungen missbilligte, und konnte sich darüber amüsieren, wenn sie auf seinen Einheitsspruch, den er nur wegen mir umschrieb, allergisch reagierte. Sein Seemannsgarn konnte Mutter ebenso wenig verknusen. Ob seine Geschichten wirklich wahr waren oder nicht, auf jeden Fall konnte er spannend erzählen und gleichzeitig wie ein Bühnenschauspieler gestikulieren. Mir standen die Haare zu Berge, wenn er von unheimlichen Geisterschiffen und den Mätzchen des geheimnisvollen Klabautermanns berichtete, und wenn er in allen Einzelheiten Piratenattacken schilderte, wobei immer eine Menge Blut floss, dann lief es mir eiskalt den Rücken herunter, weil ich befürchtete, wie ich es schon mehrfach gelesen hatte, dass Piraten nicht nur zuwiderhandelnde Kapitäne enthaupten. Aber er konnte auch wunderschöne Märchen erzählen, wie es sie in keinem Buch zu finden gab. Nur von Kriegserlebnissen mochte er nicht erzählen, besonders seine letzte Erfahrung war ihm in allzu schlechter Erinnerung.

Er war auf einem U-Boot stationiert, ist kurz vor Kriegsende in nordischen Gewässern versenkt worden und folglich in Gefangenschaft geraten. Glücklicherweise! Außer Vater konnte die Besatzung des englischen Zerstörers nur noch zwei Kameraden aus dem teils brennenden Wasser fischen. Alle anderen Mannschaftsmitglieder kamen dabei ums Leben, darunter sein bester Busenfreund. Vater hatte es nie verwunden und machte sich den Vorwurf seines Lebens, weil er wenige Minuten vor der Katastrophe unabsichtlich den Tod des Freundes herbeigewünscht hatte. Um Turmwache für kommende Nacht befohlener Überwasserfahrt hatten sie sich gestritten, konnten sich nicht einig werden, wer freiwillig die erste Wache übernehme, ob Vater, der völlig übermüdet dringend eine Mütze voll Schlaf brauchte, oder der von Darmkatarrh geplagte Freund, der in der Nähe einer Toilette bleiben wollte. „Der Blitz soll dich beim Scheißen treffen“, hatte Vater verärgert geflucht, als er einsah, das Bedürfnis seines Freundes sei vorrangig, und die bei Gott nicht ernst gemeinte Latrinenparole war eingetroffen. Schuld war weder Übermüdung noch Unachtsamkeit der Kameraden, die ebenfalls Ausschau nach feindlichen Schiffen hielten, sondern nur Schlechtwetter – dichte Nebelschwaden über rauer See, eine einzige Waschküche. Der Zerstörer neuester Bauart, mit verbesserter Ortungstechnik ausgerüstet sowie mit Torpedos bewaffnet, konnte erst ausgemacht werden, als es bereits viel zu spät war, zwei Aale im Anmarsch waren. Vater konnte noch genau sehen, wo sie einschlugen: Einer in Höhe des Maschinenraums und der andere explodierte inmitten der Offizierstoilette, auf der sein Freund saß. Das wusste Vater deshalb, weil dieser kurz zuvor auf dem Turm aufgetaucht war, um Vater kameradschaftlich vorzeitig abzulösen, es aber plötzlich nicht mehr konnte und wie ein geölter Blitz ins Bootsinnere zurückkehrte.

Mutter hatte es nie geglaubt. Aber ich! Weshalb sollte Vater einen solch harten Schicksalsschlag verniedlichen mit einer Version, die beinah zum Lachen war? Außerdem sammelte sich Tränenwasser in seinen Augenwinkeln, als er mir ausführlicher davon erzählte, warum er überlebt habe: Weil er vom Explosionsdruck ins Wasser geschleudert wurde und eine Schwimmweste am Leib trug. Was ich lange nicht für bare Münze nahm, und mir einfach nicht in den Kopf wollte, weil ich es bei Seeleuten für vorausgesetzt hielt, dass Vater nicht Schwimmen konnte. Auch Mutter hatte es nie gelernt. Sie hatte wahnsinnige Angst vor tiefem Wasser, weil es doch keine Balken habe, wie sie bemängelte, und so blieb es natürlich nicht aus, dass ich mich gleichfalls scheute – immerhin bis zu meinem zwanzigsten Lebensjahr. Heidi und Ralf hatten keinerlei Probleme damit. Denen war es seit frühester Kindheit beigebracht worden, vom leiblichen Vater, der infolge einer Fehldiagnose und deshalb falsch verabreichter Medikamente an Kreislaufversagen verstarb. Als Doppelwitwe – Mutters erstangetrauter war auf seinem Motorrad an einem unbeschrankten Bahnübergang von einer Dampflok ins Jenseits befördert worden – wollte sie auf keinen Fall noch einmal Heiraten, um nichts heraufzubeschwören, wie sie sich ausdrückte. Doch bei einem Laternenfest in einer lauen Augustnacht raubte Vater ihren Verstand. Anfang Mai des darauffolgenden Jahres wurde meine leibliche Schwester Susanne geboren und leider wenige Wochen vor meiner Geburt zu Grabe getragen. Diphtherie grassierte derzeit, damals noch oft tödlich verlaufend. Fatalerweise war auch Heidi infiziert, beinah schon wie Susanne erstickt, konnte aber von einem beherzten Arzt, der zufällig des Weges kam und sein Handwerkszeug dabeihatte, in allerletzter Minute mittels eines Luftröhrenschnitts gerettet werden.

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Als Straßenbeleuchtung dienten althergebrachte Gaslaternen, deren massive Eisenpfähle zirka in dreißig Meter Abständen aus dem breiten Gehweg der anderen Straßenseite wuchsen. In der Abenddämmerung wurden die achteckigen Glaskuppeln immer von demselben Mann mittels einer langen Zündstange zum Erleuchten gebracht und im Morgengrauen wieder gelöscht. Auf einem giftgrünen Fahrrad graste „Hein Gas“, wie er sich nannte, alle Straßenzüge des gesamten Viertels ab, und damit er auch defekte Brenner in Stand setzen konnte, hatte er noch eine schmale Ausziehleiter aus bestem Aluminium dabei. Wieso die Laternenpfähle in sogenannter militärischer Tarnfarbe angestrichen waren, dafür brachten weder hektisch einparkende Autofahrer noch angesäuselte Radfahrer Verständnis auf. Fortwährend knickten Stoßstangen und Fahrradfelgen verbogen zu Ovalen. Gleicherweise passierten solche Malheurs an den unnachgiebigen Stämmen der Kastanienbäume, die sich jeweils zwischen zwei Laternen aus dem Erdreich wuchteten. Bis hoch hinauf zu den Hausdächern erstreckten sich ihre mächtigen Kronen, die etlichen Wohnungen die Sonne stahlen, klebriges Blütenharz auf empfindliche Autolacke träufelten und im Oktober unliebsame Überraschungen für arglose Kraftfahrzeugbesitzer bereithielten: „Stachelbomben“. Die rostroten Früchte ohne Schutzmantel waren noch wesentlich effizienter, schlugen je nach Fallgeschwindigkeit ärgerliche Dellen in Autodächer, Motorhauben und Kofferraumklappen.

Bis zum Beginn der Wirtschaftswunderjahre gab es nur wenige Autobesitzer in dieser Straße, acht oder neun vielleicht. Lediglich an Wochenenden und Feiertagen herrschte Hochbetrieb. Vornehmlich am Sonntagnachmittag, wenn Anwohner Kaffeebesuch bekamen. In einigen Fällen ging es an solchen Tagen chaotisch zu, weil das Parken ausnahmslos auf besagtem Gehweg der anderen Straßenseite genehmigt war. Manchmal spielten sich Rangierorgien ab. Einen Unvernünftigen, der sich mit Bravour in eine zu enge Lücke quetschen wollte, gab es meistens, und wenn er es tatsächlich geschafft hatte, ob mit oder ohne Kratzer, dann konnte mindestens ein anderer Autofahrer nicht mehr ausparken. Manchmal entbrannten kindische Streitigkeiten um die begehrten Laternenplätze. Wehe, wenn ein Ansässiger nach Hause kam und „seinen“ beleuchteten Stammplatz als „widerrechtlich besetzt“ vorfand. Einmal war ein Aufgebrachter dermaßen erbost über die Kaltschnäuzigkeit des Kontrahenten, dass er wutentbrannt eine Beule in dessen Wagentür trat, ihn in Wildwestmanier aus dem Auto zerrte und nach Strich und Faden verprügelte. Im Normalfall konnten Vorfälle von Sachbeschädigung bis hin zu Körperverletzung von einem herbeigerufenen Schupo geschlichtet werden, und das war auch gut so.

Aus den Fenstern zur Straße konnte man ein Stück der Parallelstraße sehen. Die Häuserreihe auf der anderen Straßenseite war geteilt von einem Kinderspielplatz. Ein rund fünfzig Schritte breites und von zwei Seiten zugängliches Grünkarree aus Büschen, Sträuchern und kleinwüchsigen Bäumen. In vielerlei Hinsicht eine wichtige Lokalität zwischen Straßenzügen. Kindern standen eine Sandkiste und ein Klettergerüst zur Verfügung, den Erwachsenen einige Holzbänke. Auf denen saßen vorwiegend die jungen Mütter der Kleinkinder, passten auf und schwatzten dabei über Ehemänner und Haushalt, aber auch ältere Leute, die mit angespitzten Ohren dem Geschwafel der Frauen lauschten. Ein zerknirscht wirkender Opa hatte dauernd was zu schimpfen, und wenn ihm ein Kind zu laut wurde oder zu dicht an ihn herankam, drohte er mit seinem angeberischen mit bunten Städtewappen beschlagenen Krückstock. Einmal legte sich eine resolute Frau mit dem an, bezeichnete ihn nach einem aggressiven Wortgefecht als „verkalkter Tattergreis“. Krebsrot angelaufen war er daraufhin, fragte sich, wer er denn sei, und posaunte holprig, dass es ein solch respektloses Verhalten ihm gegenüber, wo er schon zweimal sein Blut fürs Vaterland geopfert habe, beim „Adsche“ nicht gegeben hätte. Ältere Damen nickten beipflichtend, und ich dachte an Mutter und an meinen Onkel, die den Massenmörder genauso titelten. Doch die Frau ließ sich nicht beirren und schimpfte: „Unverbesserlicher Nazi!“ Das billigten die jüngeren Frauen und eine davon pöbelte: „Solche eingefleischten Nazisäcke gehören am besten am Galgen aufgehängt!“ Vor lauter Schreck machte ich eine unkontrollierte Bewegung, wodurch meine mühselig gebaggerte Sandburg einstürzte. „Schmutziges Kommunistenpack!“, hörte ich noch von dem Opa, und damit hatte es sich dann. Für immer. Niemals habe ich den alten Mann wiedergesehen, aber mich später oft an diesen schlimmen Dialog erinnert, sobald irgendwer das seinerzeit sehr heikle Thema berührte.

Am Rande des Spielplatzes gab es noch was Interessantes für alle Jungs und einige Mädchen, weckte Neugier und Forschungstrieb. Vierzehn Steinstufen führten hinunter ins Erdreich zu einer stabilen Eisentür, der Eingang zu einem Luftschutzbunker. In Hamburg existierten solche Schutzräume noch zuhauf, aber einen unterirdischen hatte ich noch nie gesehen, geschweige auskundschaftet. Die meisten waren bereits zugeschüttet worden, und oberirdische sind nur noch selten als solche erkennbar, ausgenommen das Ungetüm auf dem Heiligengeistfeld. Blöd war nur, dass die mit einem Bretterkreuz verrammelte Tür noch zusätzlich gesichert war und allen Öffnungsversuchen standhielt. Obwohl sich größere Jungs bemühten, die verrostete Eisenkette und das stabile Vorhängeschloss ließen sich nicht knacken. Wahrscheinlich waren die massiven Glieder der Kette und der Schlossbügel aus Kruppstahl gefertigt. Dünnere Ketten konnte man unter Umständen mit einer Eisenfeile oder Kneifzange beikommen, doch ein derart schwerwiegendes Hindernis ließ sich ausschließlich mit einer Eisensäge besiegen. Niemand besaß eine, entweder nur eine Leisten- oder Laubsäge und höchstens einen Fuchsschwanz. Darum wandelte sich universelle Sensationslust schon bald in chronisches Desinteresse.

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Entgegen meinen Erwartungen hatte ich mich schon bald mit dem Wohnortwechsel abgefunden, problemlos in das neue Umfeld eingelebt und auch einige dufte Freunde gewonnen. Gleichermaßen in der Schule. Nach wenigen Tagen hatte ich das Gefühl, mit meiner Klasse schon immer verbunden gewesen zu sein. Genau zwei Dutzend Mitschüler, darunter zehn Mädchen, machten es mir wirklich leicht. Unser Klassenlehrer verkörperte die klassische Vorstellung eines guten und gerechten Pädagogen, der auch langweilige Unterrichtsfächer interessant gestaltete und für jegliche Hilfestellung zu haben war. Nur anlügen durfte ihn keiner, darauf reagierte er säuerlich. Sogar eine feste Freundin konnte ich mir anlachen, die erste Richtige. Zwei Häuser weiter wohnte Ingrid, knapp drei Jahre älter als ich und eine gewitzte Hamburger Deern. Einerseits raffiniert, unerlaubte Dinge konnte sie prima vor den Eltern vertuschen, andererseits ein gehöriger Angsthase. Wenn es um Mutproben oder manchmal um mehr als Knutschen ging, dann streikte sie. Mutter konnte Ingrid überhaupt nicht leiden, hatte dauernd was an ihr auszusetzen. „Die ist doch viel zu groß für dich“, wurde mir ebenfalls vorgehalten. Als Mutter einmal ganz miese Laune hatte, behauptete sie einfach: Dieses Mädchen übe einen ganz schlechten Einfluss auf mich aus und sei wegen ihrer flammendroten Haare eine Hexe. Das war im wahrsten Sinne des Wortes an den Haaren herbeigezogen, ein ausgemachter Blödsinn. Erstens war ich zwei Zentimeter größer und zweitens sind im Mittelalter alle Hexen auf Scheiterhaufen verbrannt worden. Das wusste ich deshalb, weil ich Mutter keinen Glauben schenkte und mich bei der nächsten Gelegenheit bei Vater vergewisserte. An und für sich hatte er mit allem recht. Auch mit seinen Prophezeiungen, die sich zumeist bewahrheiteten. Oftmals glaubte ich wirklich, er könne tatsächlich Hellsehen. Was Hexenverbrennungen anbetraf und warum die wahren Gründe für die barbarischen Vernichtungen von rothaarigen Frauen verschleiert dargestellt werden, darüber hatte er mir ganz bewusst keinen reinen Wein eingeschenkt.

Eines frühen Morgens in den Ferien, der Knüller des Jahrhunderts! Mein Klassenkamerad Dieter hatte es auf dem Rückweg vom Bäcker entdeckt, weil ihm ein Zufallsteufel einen Streich spielte: Eine aufgeplatzte Brötchentüte, aus der ein Kaiserbrötchen herausfiel und schnurstracks die Bunkertreppe hinabgekollert. Dieter wollte das Brötchen natürlich nicht abschreiben, unten aufsammeln, und entdeckte die gesprengte Stahlkette. Zuerst klingelte er Sturm bei mir. „Aber zuerst wird dein Frühstück aufgegessen!”, meckerte Mutter, weil ich sogleich alles stehen und liegen lassen wollte. Indessen ich die inzwischen schon kalt gewordene Milchnudelsuppe in Höchstgeschwindigkeit auslöffelte, dachte ich darüber nach, wer das Husarenstück wohl vollbracht haben könnte. Das konnten nur die frechen Rowdys aus der verrufenen Straße gewesen sein. Abends besetzten die einfach „unseren Spielplatz“ und veranstalteten meistens eine Riesensauerei. In die naturbelassenen Holzbohlen der Sitzbänke schnitzten sie allerlei Geheimzeichen, auch Vornamen und Herzen; knutschten mit Mädchen, die bereits knackige Brüste vorwiesen und Lippenstift benutzten; rauchten wie die Schlote und hinterließen unzählige Zigarettenkippen; tranken Flaschenbier, mitunter Schnaps; warfen leeren Pullen einfach ins Gebüsch, obwohl es sich um Pfandflaschen handelte und dafür Geld zurückgab. Glück für den jeweiligen Finder. Eigentlich gab es nur einen, ein rüstiger Rentner und Frühaufsteher, der sich als Hobbysammler erkoren hatte. Einmal konnte ich auch eine Pfandflasche ergattern, weil sie grün war und gut getarnt in einer Strauchkrone hängenblieb und deshalb vom Sammler übersehen wurde. Ich freute mich diebisch über den Fund und ließ mir statt Pfandgelderstattung einen Mohrenkopf aushändigen.

Dieter stand schon ungeduldig auf der Matte, als ich aus der Wohnung eilte. Wir trommelten noch zwei Freunde und Ingrid sowie ein weiteres Mädchen zusammen. Denn bei allem Enthusiasmus, wir beide allein den ganzen Bunker durchforschen, das wagten wir nun doch nicht. Ratten und sonst was konnte es darin geben, sogar Skelette waren denkbar. Um kein Aufsehen zu erregen, damit nicht noch andere Kinder an der Expedition teilhaben wollen und keine Erwachsenen auf uns aufmerksam werden, versammelten wir uns nicht vor dem Treppenabgang, sondern steckten unsere Köpfe auf dem Spielplatz zusammen und besprachen die Vorgehensweise.

Wie ausgemacht, schlenderte einer nach dem anderen unauffällig zum Treppenabgang, blieb kurz stehen und sah sich um, als ob man nach etwas Ausschau halte, und verschwand dann pfeilschnell von der Bildfläche. Innerhalb von zehn Minuten waren wir wieder beisammen, feixten und beglückwünschten uns gegenseitig, weil die gemeinsam beschlossene Sicherheitsmaßnahme funktionierte, und machten uns neugierig auf den Weg in ein neues Abenteuer.

Die schwere Eisentür klemmte und quietschte in den Angeln, wollte sich nicht öffnen lassen. Mit vereinten Kräften bekamen wir sie dann soweit geruckt, dass man durch einen schmalen Spalt schlüpfen konnte. Unbehagliche Kühle, hohe Luftfeuchtigkeit und muffiger Geruch schlugen uns entgegen. Die teils von Mauerschimmel besetzten Wände glänzten nass, der Zementfußboden eine einzige Wasserlache. Ein langer Gang lag vor uns, führte wie ein Tunnel ins Nichts. Das Ende war nicht abzusehen, durch den Türspalt flutendes Tageslicht reichte höchstens zwanzig Meter weit. Kalle, der größte von uns, sollte den Leithammel spielen und hatte in weiser Voraussicht eine Schachtel Streichhölzer und eine halb abgebrannte Wachskerze mitgebracht. Eine Taschenlampe wäre zweckmäßiger gewesen, doch eine brauchbare hatte keiner zur Verfügung. Auch in meiner waren die Batterien schon lange restlos leer, vom Lesen unter der Bettdecke aufgebraucht. Der Kerzenstummel wird schon reichen, glaubte jeder, und so machten wir uns mit gemischten Gefühlen auf einen Weg ins Ungewisse.

Schon nach schlappen dreißig Schritten musste Kalle die Kerze anzünden. Im flackernden Kerzenschein wirkte alles noch wesentlich unheimlicher und zunehmend bedrohlich. Umso weiter wir uns vom Eingang entfernten, desto mehr schwarze Hakenkreuze waren auf die Wände gepinselt. Auch Durchhalteparolen und uns unbekannte Symbole. Irgendwie wirkte alles wie etwas Ursprüngliches, wie es Höhlenforscher vorfinden. Zittrige Finger klammerten sich an meinen Strickpullunder. Ingrid wäre am liebsten umgedreht, wie sie es mir zuflüsterte, wollte sich jedoch keine Blöße geben – hätte sie tun sollen, dann wäre mir viel erspart geblieben.

Am Ende des Ganges ging es wahlweise nach links oder rechts. Wir mussten uns entscheiden, stimmten ab, entschieden uns mit vier zu zwei für links. Forsch ging es weiter, näherten uns einem üblen Geruch und stießen auf eine Steintreppe, die steil nach unten führte. Auf den Stufen lagen Dreck und loser Mörtel, zerstreute Zeitungsreste und andere Papierfetzen, und auf die oberste Stufe hatte jemand einen massigen Haufen gekackt, dem Anschein und Gestank nach menschlich und noch relativ frisch. „Schweinerei!“, schimpfte Dieter, hielt sich die Nase zu, scharrte mit einem Fuß ein Stück Zeitungspapier übers Übel. Bei allem Unrat und überall modrige Feuchtigkeit, wenigstens die Treppe war trocken. Unsere Füße nicht mehr. Die Mädchen trugen offene Sandalen, Kalle trug Leinenschuhe, Dieter hatte Löcher in den Sohlen, und bei mir war Wasser durch die dünnen Brandsohlen meiner besten Alltagsschuhe gesickert. Nur Klaus war verschont geblieben, freute sich einen Ast ab, weil er es angeblich vorausgeahnt habe und deshalb Gummistiefel anhatte. Als wären wir alle dämlich. Ich hatte keine, auch Dieter nicht, die Mädels schon gar nicht, und der Kalle scherte sich nicht um Pipifax.

Argwöhnisch und zurückhaltend schritten wir hinab und mussten dabei höllisch aufpassen. Die meisten Stufen waren beschädigt und an den Trittkanten bröckelig. Unten angekommen, ging es nach einem weiteren Gang nur noch scharf nach rechts. Kaum ums Eck gebogen und obwohl es nicht viel zu sehen gab, da rief Kalle aus: „Seht mal!“ Scheinbar waren wir in einer gigantischen Halle angelangt. Deren Ausmaß war nicht erkennbar, der Kerzenschein beleuchtete nur einen Umkreis von einigen Metern einigermaßen und reichte auch nicht bis zur Decke hinauf. „Hallooo, ist hier jemand?!!!“, grölte Dieter durch seine zum Sprachtrichter geformten Hände. Schauerlich hallte es zurück. Keine Antwort! Dem Hall nach zu urteilen handelte es sich auch um eine sehr hohe Halle. Schemenhaft konnten wir Regale, Schränke, Tische, Stühle, Bänke und Bettgestelle erkennen, die unordentlich dastanden oder umgekippt dalagen. Dieter brüllte noch einmal aus voller Kehle, diesmal ohne Trichter, und dann alle zusammen wie im Chor: „Haaalooo!!! Jeder schrie sich gewissermaßen die Seele aus dem Hals. Es brachte spürbare Erleichterung, aber nur kurz. Es war kälter geworden. Wir drängten uns dicht zusammen und jeder starrte mehr oder weniger ängstlich ins lauernde Dunkel. Ingrid und Sybille zitterten bereits wie Espenlaub. Auch ich bibberte am ganzen Leib, sogar meine Zähne klapperten aufeinander. Klaus schien die Kälte überhaupt nichts auszumachen. Auch nicht die eventuelle Gefahr, wie mit jedem eingegangenen Risiko verbunden, dass jeden Moment etwas Schreckliches passieren könnte. Seelenruhig stand er breitbeinig vor mir, die Hände tief in den Taschen seiner abgewetzten Lederhose vergraben, als wartete er auf irgendwas.

Kalle gab sich einen Ruck und schlich weiter voran. Notgedrungen latschten wir hinterher, wollten nicht im Dunkeln stehen, patschten allesamt in eine ausgedehnte tiefe Wasserlache, deren Oberfläche bis über die Fußknöchel reichte. Der Herkunft von Schwitzwasser an den Wänden war vielleicht normal, aber die Ursache von tiefen Lachen gab Rätsel auf. Egal wie diese entstanden sind, die hätten schon längst verdunsten müssen. Grundwasser konnte es auf keinen Fall sein, das lässt Beton nicht zu. Und warum war ausschließlich die Treppe knochentrocken? Während ich darüber nachdachte, spürte ich eiskalte Finger im Kreuz. Ingrid litt unter einem Angstschub, krallte sich an meinen Pullunder.

Plötzlich erlosch die Kerze! Kalle hatte die Flamme ausgehaucht, unbedacht beim Husten, weil er wie gewöhnlich keine Finger vor den Mund hielt. Stockdunkel! Nicht die Hand konnte man vor Augen sehen. „Zünde endlich den verdammten Kerzenstummel wieder an!“, brüllte Klaus. Nun ratschte Kalle endlich ein Streichholz an. Zischend flammte es auf und verlosch gleich wieder. „Aua!!! Verfluchte Scheiße!“, hörten wir, und unmittelbar darauf ein leises Platschen. Ich ahnte schon, was passiert war – Daumen verbrannt und die Streichholzschachtel im Wasser gelandet! Und wie konnte es anders sein, Kalle brauchte viel zu lange, um die Schachtel ausfindig zu machen! Folglich waren die Ratschen nicht mehr funktionsfähig, vollkommen durchgeweicht. „Du Blödmann, nun hast du uns aber ganz schön was eingebrockt!“, fluchte Dieter, woraufhin sich Kalle selber verwünschte: „Ja, zur Hölle mit mir!“ Ingrid und Sybille stießen bängliche Schreie aus. Nun bekam es der ansonsten unerschrockene Klaus mit der Angst zu tun, knatterte eine Salve Furze in die Büx, und unkte mit bebender Stimme: „Jetzt können wir uns einsargen!“ Daraufhin passierte auch was in meiner Hose, lief angenehm warm über meinen linken Oberschenkel. Fürwahr eine vertrackte Situation. Von hinten krallten sich spitze Fingernägel in meine Bauchdecke. „Ich fürchte mich so“, wimmerte Ingrid, zupfte mit der anderen Hand ungeduldig an meinem Ärmel, wollte damit unterstreichen, dass ich gefälligst etwas unternehmen solle. Was denn, mich in eine brennende Fackel verwandeln? „Wir müssen uns alle bei der Hand nehmen, bis an eine Wand herantasten und wenigstens versuchen, den Ausgang zu finden“, regte Kalle an, hörbar bemüht, eine feste Stimme beizubehalten. Mächtiges Herzklopfen setzte bei mir ein. „In schwärzester Dunkelheit, das kann ja heiter werden“, spekulierte ich, woraufhin Sybille unangebracht lästerte: „Ja klar, Harry, das wird sogar zum Totlachen.“

Wir reihten uns aneinander und bildeten eine Schlange, Kalle als Kopf und Dieter der Schwanz. Doch Kalle zögerte, wusste nicht so recht, in welche Richtung wir marschieren sollten. Dieter machte sich stark: „Lass mich vorweg gehen, ich glaube, ich weiß noch so ungefähr die Richtung, aus der wir gekommen sind.“ Weil keiner widersprach, tastete er sich langsam von hinten nach vorne. Dabei tatschte er gegen Schultern und andere Körperteile, erwischte ausgerechnet die sittsame Sybille an einer Weichstelle, die noch kein Junge berühren durfte. „Nimm deine Drecksgriffel von mir, du Ferkel!“, meckerte sie gleich aufgebracht, ohne eine Spur daran zu denken, dass wir uns im schlimmsten Fall in höchster Lebensgefahr befanden. „Entschuldige, das wollte ich nicht, es war wirklich nur versehentlich“, schmollte Dieter, fummelte sich an Ingrid vorbei, packte meine Hand und tuschelte mir ans Ohr: „Die stellt sich an wie ein Baby.“ Das konnte ich nur bestätigen. Kalle fuhrwerkte vorbei, reihte sich irgendwo hinten ein, höchstwahrscheinlich direkt hinter Sybille, um die er gerne herumschwänzelte, obwohl sie oft zickte und er schon längst eine feste Freundin hatte. Endlich tappten wir langsam vorwärts, Dieter mit nach vorne ausgestrecktem Arm, und die eingeschlagene Richtung schien okay zu sein.

Schon bald wurden wir von einer Wandfläche aufgehalten. Wir stimmten ab. Klaus war sofort für linksherum, dann auch Sybille und Kalle. Die Prozedur musste wiederholt werden, auch weil keiner ein überzeugendes Argument vorbringen konnte, warum die eigene Auswahl die richtige sei. Beim zweiten Abstimmen kippte Kalle um, also ging es rechts herum. Wir tasteten uns an der linken Wandseite entlang, hatten offenbar richtig gewählt, denn wenig später griff Dieter ins Leere. Das konnte der Gang sein, der zur Treppe führte. Wir schwenkten um die Ecke, tapsten weiter, schürften Fingerknöchel an den schroffen Betonwänden. Plötzlich fragte Ingrid zaghaft, als sei es ein völlig absurder Gedanke: „Und wenn es keine zweite Wand gegenüber gibt?“ Erschrocken blieben wir alle stehen. Das musste sofort überprüft werden! Um festzustellen, ob es eine weitere gibt, schlurften wir seitwärts. Jeder wollte möglichst als Erster seine Hand gegen eine Wand stoßen. Klaus hatte den längsten Arm oder er war eine Idee schneller geschlurft. „Ja, hier ist eine Wand, es ist der Gang!“, schrie er hörbar erleichtert. Allgemeine Erleichterung. Wieso wir allerdings wieder zurück zur anderen Seite hinüber wechselten, blieb ein großes Geheimnis.

Weiter ging es an der Wand entlang, immer in der Hoffnung, wir würden uns nicht total auf dem Holzweg befinden. Mit Pech könnte sich um einen ganz anderen Gang handeln, hin zu Waschräumen oder Toiletten, einem Magazinraum, möglicherweise auch zu einer weiteren Halle. Mindestens zehn Meter waren wir schon vorangekommen, da vernahmen wir ein merkwürdiges Rascheln. Abrupt blieb Dieter stehen und löste eine Kettenreaktion damit aus. Wie eine Ziehharmonika schoben wir uns alle zusammen, verursacht vom Schwergewicht Klaus. Der krachte massiv gegen Kalle und schubste ihn gegen Sybille, die katapultierte gegen Ingrid, die mit ihrer Stirn gegen meinen Hinterkopf knallte. Nur Dieter blieb verschont, obwohl er das Ganze auslöste. Beulen und blaue Flecken würde es geben. Doch alle verkniffen sich ihr Wehwehchen, denn da war noch ein anderes Geräusch! Wir lauschten und hielten den Atem an. Mucksmäuschenstille. Nichts war noch zu hören. Es sollte weitergehen, da raschelte es unmittelbar vor uns erneut und ein kreischendes „Iiiiiih!“ging durch Mark und Bein. Mir stockte der Atem. Den Aufschrei hatte Ingrid ausgestoßen und sich von mir losgerissen. „Was ist da los?“, fragte Dieter hektisch, bevor ich es konnte. „Eine fette, riesenhafte Ratte hat mir einen Fuß zerkratzt!“, jaulte Ingrid, umklammerte mich und schluchzte. „Ingrid hat plötzlich Röntgenaugen!”, lästerte Kalle. „Ja, woher willst du überhaupt wissen, ob es eine Ratte war und wie groß und fett die ist?“, fragte Dieter listig und ironisch zugleich. „Ich weiß es eben, huhuuu …“ Klaus wurde noch zynischer: „Ab sofort sollte nur noch die Hellseherin vorausgehen!“ Sybille nahm Ingrid in Schutz: „Rücksichtslose Bande! Seid doch nicht so gemein zu ihr.“ Ingrid heulte herzerweichend auf, und ich wusste nicht, wie ich mich verhalten sollte. Sie trösten? Oder mich gegen die Kumpels wenden, obwohl sie völlig recht hatten? „Kann es endlich weitergehen?“, fragte Klaus, überbetont sachlich, und fügte noch unflätig hinzu: „Ich muss mal dringend pissen und wenn es noch lange dauert auch scheißen!“ Seine Ausdrucksweise brachte Sybille auf die Palme. „Im Beisein von Mädchen könntest du dich ein wenig gesitteter ausdrücken!“ Den Rüffel wollte er nicht ohne Weiteres hinnehmen. „Oh, entschuldige, erlauchte Prinzessin, ich hätte berichten sollen, dass ich es für höchst erbaulich finden würde, wenn ich mein Bläschen und mein Därmchen noch in diesem Jahrhundert auf einem Thron entleeren könnte.“ Sybille wollte noch etwas erwidern, doch Dieter setzte dem Gezänk ein Ende: „Wenn ihr nicht sofort mit Streitereien aufhört, dann gehe ich allein weiter!“ Auch ich riss mich nun zusammen und wollte überhastet nach Ingrids Oberarm schnappen, erwischte allerdings ihren rechten Busen. „Huch!“, ertönte, weil sie sich leicht erschrocken hatte. „Was hast du denn jetzt schon wieder!?“, fragte Klaus mit einem giftigen Unterton. „Nix! Harry massiert mir grade so wunderbar meine Titten!“ Das rief Sybille erneut auf den Plan. „Also Ingrid!“ Dieter bellte nun dazwischen: „Aufhören! Sofort aufhören! Sind jetzt alle wieder beieinander?“ Es folgte unterschiedliches Bejahen von verhalten bis dynamisch.

Nach einer Weile gelang Ingrid ein militärischer Zwischenschritt, um mir nicht weiterhin in die Hacken zu treten, rückte ihren Oberkörper ganz nah an mich heran und tuschelte: „Sollten wir hier heil rauskommen, dann können wir beide … ich werde dir … wirst du schon sehen.“ Sie sprach nicht aus, was mir zuteilwerden würde, stellte den Normalabstand wieder her. Im Nu waren meine Ängste futsch. Aufgemöbelt zog ich sie zu mir heran. „Was denn?“, fragte ich leise, hatte schöne Bilder im Kopf. Ingrid zögerte, rückte dann endlich damit raus: „Dann spendiere ich zwei Kugeln Eis mit Sahne.“ Wie aufregend! Die Bilder verschwanden. „Du wolltest zuerst was anderes sagen”, murmelte ich enttäuscht. „Nö, wie kommst du darauf?” Ich sagte lieber nichts mehr. Dafür aber Sybille: „Müsst ihr jetzt unbedingt turteln? Wir sind noch lange nicht aus dem Schneider!” Auch Dieter hatte etwas auszusetzen, fühlte sich von seiner Führungsaufgabe abgelenkt. „Ich streik gleich!“

Kurz nach seinem Einwand ein Fallgeräusch und Wehlaute: „Aua! Scheißdreck!“ Und unmittelbar danach ein schmerzliches Fluchen: „Au! So ein verdammter Mist aber auch!“ Dieter hatte die Treppe erreicht, war gegen die unterste Stufe gestoßen und hinaufgefallen, hatte meine Hand nicht losgelassen und mich mitgerissen. Mein rechtes Schienbein war im Eimer. Schon wieder, neulich erst, immer auf die gleiche Stelle! Sofort tat es höllisch weh. Ich tastete die schmerzende Gegend ab, bekam feuchte, klebrige Finger. Blut! Viel Blut! Egal, bloß schnell raus hier, sagte ich mir, und rappelte mich auf. Dieter war bereits wieder auf den Beinen, hörbar unverletzt. Ob sich irgendeiner wehgetan hatte, wollte kein Aas wissen. Nicht einmal Ingrid, die ich rechtzeitig losließ. Mir war, als habe ich ähnlich gleichgültiges Verhalten schon einmal erfahren, konnte mich aber nicht an Einzelheiten erinnern.

Sicherheitshalber krabbelte jeder für sich allein die steile Treppe hinauf. Dazu hatte Kalle aufgefordert nach einem Hinweis: „Wenn einer stolpert, den Halt verliert und nicht loslässt, wie eben vorgekommen, könnte es passieren, dass derjenige einen anderen mit in die Tiefe reißt.“ Auf halber Treppe musste ich verschnaufen. Mein Bein schmerzte und Blut schien in Strömen zu fließen. Fieberhaft riss ich mir den Pulli und das Baumwollunterhemd über den Kopf, schlug das Unterhemd der Länge nach zusammen zu einem breiten Streifen, den ich so stramm wie möglich um die pochende Wunde wickelte. Das Ende stopfte ich unter die Wicklung, dass es einigermaßen halten müsste. Ich verschnaufte noch einige Sekunden, mittlerweile hatte Ingrid nach mir gerufen, biss die Zähne zusammen und kraxelte weiter.

Als Letzter oben angekommen, sollte ich zunächst dusselige Fragen beantworten. Erst nach „ich habe mich verlaufen und einen Umweg genommen“ rückte ich mit der Wahrheit heraus, und nachdem ich genügend Mitleidsbekundungen eingeheimst hatte, rief ich zum gemeinsamen Weitergehen auf. Wir rotteten uns zusammen und nahmen uns diesmal, wie es gerade kam in loser Reihenfolge bei der Hand – ausgenommen Dieter, der weiterhin die Spitze übernahm. Nun war ich Vorletzter. In meiner linken Hand spürte ich kleine, zarte Finger, die gehörten Sybille, in der rechten eine schweißnasse Flosse aus matschigen Wurstfingern und einem butterweichen Handballen. Ekelhaft. Deshalb gab ich Klaus auch ansonsten ungern die Hand, begrüßte ihn meistens nur mit erhobener Handfläche und einem „Hallo“. Aber lange werde ich dieses Ekelpaket nicht ertragen müssen, redete ich mir ein, wenn weiter nichts passieren würde, müssten wir es bald geschafft haben. Aber wir kamen nur noch ganz langsam voran, der Gänsemarsch klappte nicht mehr so gut wie zuvor. Aufeinander abgestimmte Gangart war verloren gegangen, nun trat jeder jedem in die Haxen. Fluchen und schmerzliche Ausrufe hatte es zur Folge.

Auf einmal krakelte Kalle wie ein armer Irrer: „Wir sind dumm wie Stroh!“ Entnervt zuckte ich zusammen, blieb wie angewurzelt stehen. Alle stoppten ihren Schritt und darum kam es nicht zu keiner Karambolage. „Wie meinst du denn das?“, fragte Dieter verunsichert. „Wir gehen völlig falsch!“, behauptete Kalle. Was redet er da, fragte ich mich verwundert, weil er doch kein Dummkopf war, sah mich schon als verblutet, verhungert und verdurstet. „Wieso, woher willst du das wissen?“ Vier weitere Seelen wollten es ebenfalls erklärt haben. „Das weiß ich deshalb, weil wir auf der linken Seite gehen!“ Er hat seinen Verstand verloren, schoss mir durch den Kopf. „Ja und?“, fragte ich hektisch, und hätte mir am liebsten auf die Zunge gebissen, weil es mir im gleichen Augenblick dämmerte, wovon er sprach. „Ja und, ja und“, echote Kalle, und bestätigte, was ich schon annahm, indem er höhnte: „Wie wollen wir denn bemerken, wann wir den Gang zum Ausgang erreicht haben? Den würden wir doch glatt verpassen und landen dann wer weiß wo! Oder hast du vielleicht die genaue Meterzahl abgezählt?“ Nun leuchtete jedem ein, was er eigentlich meinte – nach der Treppe hatten wir uns gewohnheitsmäßig an der linken Wand orientiert. „Du hast vollkommen recht“, bestätigte Dieter, gab kleinmütig den Fehler zu und lobte: „Wenn wir dich nicht hätten.“ Klaus war ganz anderer Meinung: „Ja, ja, wenn wir dich nicht hätten, dann hätten wir wenigstens Licht!“ Das war wieder typisch Klaus. Irgendwann bezieht er noch mal richtig Kloppe von Kalle, mutmaßte ich, denn der war schon lange nicht mehr gut auf ihn zu sprechen.

Wir schwenkten zur rechten Seite hinüber. Der rechten Wand entlang war ungewohnt. Besonders für Dieter. Immer wieder kam er ins Stocken, stolperte jählings über seine eigenen Beine, fiel auf die Schnauze. Die hatte er dann auch voll. Er rief nach Ablösung, nach Kalle. Der wollte nicht mehr. Betretenes Schweigen. Sybille und Ingrid ermunterten ihn gemeinsam, lobten seine Führungsqualität in den Himmel, und schon übernahm er nun doch wieder die Führung. Es ging wieder flotter vorwärts. Allgemeines Schweigen blieb. Schätzungsweise noch einige Minuten, vermutete ich insgeheim, dann sind wir wieder an der Sonne. Ich freute mich. Aber nur kurz. „Du bist doch total bescheuert!“, rief Klaus verächtlich ins Schweigen. Wiederum verharrten wir. Was hatte der Dicke nun wieder auszusetzen und wen meinte er überhaupt? Seiner feuchten Patsche ohnehin überdrüssig, trennte ich mich davon. Intuitiv fühlte sich Kalle angesprochen. „Meinst du etwa mich?“, fragte er, mit drohendem Unterton. „Ne, meine Urgroßmutter!“ Nun war Kalle wirklich erbost und wurde lauter: „Du raubst uns noch den letzten Nerv!“ Damit sprach er aus, was alle empfanden, und fügte ziemlich derbe hinzu: „Du kannst uns mal gehörig am Arsch lecken, du alter Fettsack!“ Damit waren die Fronten für alle Zeiten geklärt! Wieder fühlte sich Sybille berufen: „Na, na, na, Kalle, zügele bitte deine Worte!“ Klaus provozierte weiter: „Schon gut, Sybille, der kann mich gar nicht meinen, der ist doch wirklich total beknackt, den Gang hätten wir auf alle Fälle gesehen!“ Mir wurde mulmig. Was meinte er damit? „Wieso das denn?“, fragte ich argwöhnisch. Klaus änderte seinen unflätigen Ton, wandte sich an alle: „Überlegt doch mal, aus dem Dunkel heraus kann man Helles sehen, wie jeder weiß, auch wenn es weit weg ist, und deshalb wäre uns der Lichtschein, der durch die halboffene Eingangstür fällt, doch mit Sicherheit aufgefallen.“ Keiner erwiderte was, klang auch für mich überzeugend, doch dann mir fiel etwas ein: „Und wenn inzwischen jemand die Tür zugemacht hat?“ Sofort bekam ich Beistand. „Ja, was ist dann, du Klugscheißer?”, fragte Sybille, ausnahmsweise heikel formuliert, und Kalle sorgte für das Ende einer vermeintlichen Freundschaft. „Er ist eben von jeher ein absoluter Kotzbrocken, widerlicher Miesepeter und selbstgefälliger Popanz!“ Klaus wehrte sich nicht mehr, er ahnte, was die Stunde geschlagen hatte: Sofortiger Ausschluss aus der Rasselbande! Das bedeute aber noch lange nicht, dass wir ihn in dieser Situation im Stich lassen wollten. Das besorgte er selbst. Er distanzierte sich, hielt einige Schritte Abstand von mir, trottete wortlos hinter uns her. Ohnehin war absolutes Stillschweigen angesagt und es ging auch nur noch im Schleichtempo weiter.

Nach einer Weile meinten wir, von weitentfernt ein Getrampel zu hören. Wir blieben stehen und horchten angestrengt. Was wir hörten, waren Stiefelschritte, es kam uns jemand zu Hilfe! Und dann war eine Männerstimme zu hören, die mir irgendwie bekannt vorkam: „Hallooo! Ist da irgendwer drin!?“ Wir kreischten alle durcheinander: „Hiiier!“ „Hiiilfe!“ „Wir können nichts seeehen!“ „Hiiier her!“ Wir sind hiiier!“ Wir sahen den Schein einer leistungsstarken Stablampe aufleuchten, doch der Lichtkegel konnte uns nicht erreichen. Der kam von rechts aus dem Quergang zum Ausgang und endete keine fünfzig Meter von uns entfernt als leuchtendes Viereck auf der linken Wandseite. So gut wie bereits gerettet, konnten wir getrost voneinander lassen. Kalle gesellte sich neben Dieter, die Mädels dicht dahinter, ich drängelte mich dazwischen, Klaus blieb auf Distanz. Aber warum gingen wir nicht weiter? Wie angenagelt standen wir da, als warteten wir auf etwas Weltbewegendes.

Das leuchtende Viereck wurde zunehmend heller und rundete sich zu einem Kreis. Der wurde kleiner und kleiner, begann zu tanzen, bog wie ein Kugelblitz um die Wandecke und stach grell in unsere an Dunkelheit gewöhnten Augenpaare, die alle erschrocken geweitet auf eine schemenhafte Gestalt starrten. Die kam schnell näher und entpuppte sich kurz vor uns als der einige Schritte vor uns als der strenge Hausmeister aus dem Nebenhaus.

„Was, zum Teufel, macht ihr hier drin!“, brüllte er, blieb einige Schritte vor uns stehen, leuchtete in unsere von Angst gezeichneten Gesichter.

„Wir wollten doch nur kurz …“, begann Kalle, doch das Raubein schnitt ihm das Wort ab.

„Was ihr wollt, ist eine Tracht Prügel beziehen!“ Er drohte mit einer Faust und plusterte Brustkorb auf.

„Aber wir …“, versuchte ich aufzumucken.

„Nichts da und kein aber! Raus aus dem Bunker, und zwar ein bisschen flott! Dalli, dalli! Oder soll ich euch Beine machen!“

Als er merkte, dass wir kuschten, keiner mehr einen Piep wagte, drehte er sich auf dem Absatz um und stiefelte mit einem unverständlichen Gemurmel voraus.

Ratzfatz waren wir draußen und stoben sofort auseinander. Jeder flitzte schnell nach Hause. Ich natürlich nur behäbig, gehandicapt verwundet und von eingetretenen verfluchten Schmerzen geplagt. Für gewagte Unternehmungen konnte Mutter noch nie Verständnis aufbringen. „Wo kommst du denn jetzt her!? Das ganze Essen ist schon kalt! Wie siehst du überhaupt aus!? Wie ein Dreckspatz!“ Erwartungsgemäß mit mir geschimpft, stellte sie erst anschließend fest: „Du bist ja verletzt!“ Das wunderte mich sehr, denn eigentlich musste sie doch sofort erkannt haben, was genau mit mir los war: Das zweckentfremdete Unterhemd von Blut durchtränkt, die Socke und der halbe Schuh rot gefärbt – furchtbar sah das aus, und insgesamt verdreckt wie nie zuvor. Nach Ausfragen und Beichten gab es ein vorsichtiges Säubern der Wunde mit einem Waschlappen, noch etwas Wundsalbe drauf und einen dicken Verband, und zum krönenden Abschluss noch eine schallende Backpfeife. Welch eine Reihenfolge! Ein ganzes Glas ekelhaft Rote Beete sollte ich dann noch aufessen, angeblich gut für die Blutbildung, und den Saft von zwei Zitronen trinken – das empfand ich schlimmer als Schmerzen und anschließenden Hausarrest.

Den Bunker haben wir nie wieder betreten. Das konnten wir auch nicht. Wenige Tage später war der komplette Zugang vom städtischen Bauamt mit Kieselsand zugeschüttet worden. Am nächsten Tag kam noch ein ganzer Lastwagen voll Muttererde darauf und darin wurden blühende Sträucher gepflanzt.

Jenseits von Ethik

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