Читать книгу Jenseits von Ethik - Harry Jäger - Страница 9
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Mutter machte unvergessliche Augen, als ich ihr vorhielt, sie habe mir wissentlich die Herkunft einer ominösen Deformierung verschwiegen. Und nachdem ich ihr bei der Gelegenheit von einem kuriosen Wachstum erzählte, ohne dabei Katja in die Pfanne zu hauen, war ihr einziger Kommentar: Solches Anschwellen käme manchmal vor und das andere sei normal, aber ich müsse demnächst einmal mit ihr zum Arzt damit. Meine Frage, warum zum Arzt, wenn es normal sei, beantworte Mutter in ihrer Lieblingsmanier: „Das wirst du dann schon sehen.“ Und das sah ich dann auch, respektive hörte es, drei Wochen später: „Es handelt sich lediglich um eine geringe Vorhautverengung, die sich höchstwahrscheinlich im Verlaufe der Pubertät noch zurecht wächst, ein operativer Eingriff ist nicht vonnöten.“ Mit Gesichtsröte und Herzklopfen saß ich mit nacktem Hintern auf einem kalten Plastikstuhl, malte mir die Diagnose schwarz, hielt mich für behindert und begann zu plärren. Wenigstens der Arzt bewies Mitgefühl. Er drückte mir ein Zitronenbonbon in die Hand und hatte auch einige nette Worte für mich übrig, und empfahl Mutter dann dringend, mich über gewisse Einzelheiten und Zusammenhänge aufzuklären. Das tat sie bereits am nächsten Badetag. Doch nur insoweit, dass sie mir hopphopp demonstrierte, was und wie ich mich in Zukunft waschen müsse.
Bald darauf erledigte sich Mutters Drückebergerei ums Aufklären. Gleich zweigleisig wurde mir dergleichen eingetrichtert, was Katja mir verklickert hatte und worüber ich eisernes Stillschweigen bewahrte. Zunächst inoffiziell auf dem Schulhof inklusive des dazugehörigen Jargons und wenig später offiziell in geisttötender Sachlichkeit aus berufenem Munde. Bierernst wurde das neu hinzugekommene Unterrichtsfach abgehandelt, fortschrittsfeindlich wie eine Radioreportage heruntergeleiert, wobei die Kleinigkeiten wie Klitoris, Hymen, Defloration und Orgasmus wohlweislich ausgespart blieben. Zum Lachen gab es wirklich nur einmal was, als die introvertierte Biologielehrerin „Mutterkuchen“ auftischte. Das Beste am ganzen Lehrplan: keine Hausaufgaben! Nichtssagender Firlefanz und anatomische Fachausdrücke lockten weder Jungs noch Mädchen hinterm Ofen hervor. Deshalb wurde die allgemeinhin geläufige Umgangssprache weiterhin praktiziert und war für jeden verständlich. Demgemäß konnte man sich einen von der Palme holen, an Mösen fummeln und dabei Stinkefinger holen, und wenn es zugelassen werde, entjungfern, vögeln und absahnen. Wie lange die Hauptsache andauert und welches Empfindungsfeuerwerk währenddessen wahrgenommen wird, wusste allerdings niemand zu erklären. Keiner aus meinem Freundeskreis hatte dahingehende Erfahrungswerte. Und wesentlich Ältere, die es eigentlich wissen sollten, gaben saudumme Antworten oder hüllten sich in dünkelhaftes Grinsen. Wurde es aus ganz bestimmten Gründen verheimlicht? Konnte ich mir wahrlich nicht vorstellen. Zumindest nicht von Kalle und Dieter, die nach meinem Dafürhalten immer ehrlich zu mir waren. Weswegen vermochte Mutter nicht aus dem Nähkästchen plaudern? Totgeschwiegen wurde das Thema, bestenfalls um den heißen Brei herumgeredet. Wenn sie sich in die Ecke gedrängt fühlte, bohrenden Fragen nicht mehr auszuweichen wusste, dann zog sie sich mit einer faustdicken Lüge aus der Affäre. Je reifer ich wurde, umso weher taten mir ihre Ausreden und Lügereien. Ich war doch immer aufrichtig zu ihr. Na ja, auch ich log ab und zu. Aber es waren immer nur Notlügen, entweder um mich vor Bestrafung zu schützen oder anderen nicht mit Wahrheiten wehzutun. Ich verschwieg auch mal was, und das kam schließlich keiner bewussten Lüge gleich. Oder doch? Irgendwann zweifelte ich, ein bisschen lügen war es wohl dennoch – und deshalb trug ich folglich auch immer nur ein bisschen schlechtes Gewissen vor mich hin. Erst Jahre später gründlicher durchdacht, gelangte ich zu meiner Überzeugung: Verschweigen ist Lügen in Grün.
Auch von meiner Schwester ließen sich keine erweiterten Kenntnisse erwerben. Als ich wissen wollte, wie es mit der Menstruation vonstattengehe, ließ sie mich voll im Regen stehen und signalisierte auf alte Leier: „Das brauchst du noch nicht zu wissen, bist noch viel zu klein dafür.“ Anschließend fing ich mir noch eine schallende Ohrfeige ein – dabei hatte ich nur ganz ordentlich und höflich gefragt, ob sie denn schon gevögelt habe. Diesen Ausdruck hörte immer wieder von Halbstarken, wenn sie damit angaben, wie oft sie angeblich schon ein Mädchen flachgelegt haben.
Warum ich mich mit meinen vielen Fragen nicht an Vater heranwagte, oder zumindest meinen Bruder auszuquetschen versuchte, ist mir unerklärlich. Vermutlich wollte ich mich nicht mit Unwissenheit blamieren, gewissermaßen schon ein wenig Erwachsensein vortäuschen. Lang aufgeschossen war ich in den letzten Monaten, für manche Begutachter ein dünner Hecht geworden. Hier und da wurde ich gehänselt, dass es mitten ins Herz stach. „Spargeltarzan“ und „Strichmännchen“ konnte ich noch einigermaßen gut verkraften. Aber „du bekommst wohl nicht genug zu essen“ oder „durch deine Rippen kann man das Vaterunser blasen“ waren seelische Grausamkeiten, wie ich es mir gegenüber Fettleibigen keinesfalls erlaubt hätte. Schließlich nannte ich auch niemand „Vielfraß“ oder „Dickmaus“ oder sonst was Ungehöriges. Irgendein Kluger meinte einmal: ich sei „ganz übel proportioniert“. Aber das war ich nicht. Eben rank und schlank, doch täuschend kräftig und bestimmt kein nasser Sack. Ich liebte Leichtathletik, vornehmlich Sprint und Kugelstoßen, sowie alles, wobei Ausdauer oder Ballgefühl gefragt war. Oft trieb ich mich auf dem Sportplatz herum und prüfte mich am liebsten bei Spielen Mann gegen Mann.
Allzu gerne hätte ich Katja mein Entwicklungsstadium vorgeführt und mit ihr das „Wichtigste im Leben“ ausprobiert. Doch als wir haarscharf davor waren, begann sie ebenso zu spinnen wie einst Heidi. Dieselben Allüren hatte sie bereits entwickelt und ließ sich anlässlich Frau geworden, wie sie tollkühn dramatisierte, zu keiner gewagten Vertrautheit mehr überreden. War vielleicht auch besser so, weil unter Verwandten nicht rechtens? Das wussten wir doch nicht. Der Biologieunterricht hatte ebenfalls keine Auskunft darüber gegeben, wer mit wem darf. Mir war lediglich bekannt, was auf Volksmund fußte: normalerweise keine Blutsverwandten. Was hieß das schon, normalerweise, nichts anderes als nicht verboten. Sei’s drum, sagte ich mir, und befragte niemanden mehr. Es blieb vorerst bei vagen Vermutungen und der intuitiven Annahme: es sei die schönste Sache der Welt. Trotzdem hielt ich weiterhin Augen und Ohren offen und gab mich vorläufig mit dem zufrieden, worauf ich von allein gestoßen war.
Mutter schnarchte extrem laut, weshalb ich nicht einschlafen konnte. Im Kopfkino spielte sich ein Erlebnis mit Ingrid und die wichtigste Episode mit Katja ab. Zudem ersann ich eine bizarre Affäre mit der Wirtin, die unbeschreibliche Reize auf mich ausübte. Meine Fantasie war unerschöpflich. Während ich mich fiktiv mit Weitergehendem beschäftigte, entfaltete sich ohne mein Dazutun kontrolliertes Wachstum. Ich versuchte, den Vorgang zu stoppen, doch die Stabilität hielt hartnäckig stand. Unaufhaltsam stürmte jenes erquickliche Empfinden in meinen Gefühlshaushalt, wie ich es in der schönsten Nacht mit Katja erlebte. Aber es ermächtigten sich auch Bedenken um mein weiteres Wohlbefinden. Mein Herz hämmerte wie bekloppt, der Atem stieg an, als befände ich mich beim Dauerlauf, und irgendwas begann sich zusammenzuziehen und zu einer Verkrampfung aufzubauen. An Schreckliches denken, funkte durch eingeschränkte Zurechnungsfähigkeit, doch es half nicht. Wie ferngesteuert misshandelte ich mich weiter, und als sich eine seltsam anmutende Wallung extrem verstärkte, ließ ich abrupt von mir ab. Aber es war zu spät. Blut ergoss sich auf meinen Bauch. Verfluchter Mist! Ob es womöglich stark blute, wollte ich wissen, um notfalls Mutter zu wecken. Besorgt tastete ich über meine Bauchdecke und stellte verwundert fest: Das konnte kein Blut sein! Ähnlich glitschig wie Schnodder fühlte es sich an. War es etwa … ja, natürlich, es ist das notwendige Sperma, von dem Katja gesprochen hatte! Hurra, jubelte es erfreut in mir, nun wusste ich, wie sich das schönste Gefühl anfühlt.
Rasender Herzschlag und schneller Atem hatten sich zwar beruhigt, aber die Versteifung hielt sich wacker aufrecht. Ich durchdachte, welche Bewandtnis das Phänomen habe, ob es eventuell mit bestimmten Gedankengängen zusammenhing, denn in einem Sciencefiction Roman hatte ich was von Telepathie gelesen. Nein, es musste eine andere Triebfeder geben. Woran hatte ich gedacht? Zuerst an Ingrid, dann an Katja und zwischendurch an die Wirtin … oder umgekehrt? Und woran denke ich momentan, fragte ich mich idiotischerweise und antwortete mir auch noch: Mutter hatte das Schnarchen eingestellt. Tatsächlich! Ich peilte die Lage, sah schemenhaft, dass sie sich wälzte. Ich ärgerte mich, weil ich kein eigenes Zimmer hatte, denn sonst könnte ich ausgiebig probieren, ob sich diese wahnsinnigen Gefühlswallungen auch noch wesentlich länger aushalten lassen. Vielleicht eine Stunde? Oder so lange, wie ich wolle? Oder gibt es noch eine andere Dimension? Zu viele Fragen und keine Erklärung ließen mich erschöpft einschlafen – ohne zu wissen, dass nur ein Quäntchen Vorhut abhandengekommen war, und ich schon in der kommenden Nacht erleben werde, wohin schrankenloses Übertreiben führen könne.
*
Mutter stieg kurz nach mir ins Bett. Ächzend schlängelte sie sich unter ihre Bettdecke und klopfte noch das Kopfkissen platt, seufzte und murmelte: „Gute Nacht, schlaf gut. Gewohnheitsmäßig kehrte sie mir den Rücken zu und zurrte die Bettdecke an ihre vier Buchstaben. Geduldig wartete ich, indessen ich Gedanken an eine ziemlich vermurkste Klassenarbeit und an den monotonen Tagesverlauf verschwendete, bis ihr Atem ruhig und gleichmäßig ging, sie fest eingeschlafen war.
Mir sicher, sie würde nichts bemerken, verbannte ich jeden Gedanken an den Tagesablauf und vergegenwärtigte mir Ingrid. Plastisch stellte ich mir mehr vor als wie sie es erlaubte und erhoffte irrsinnige Impressionen. Keine! Hilfsweise wechselte ich mit meiner Vorstellungskraft zu Katja und vollzog mit ihr all jenes, was sie aus dem Buch zitiert hatte. Keine Reaktion! Unverdrossen zog ich die Wirtin hinzu, mit der ich doch am liebsten … überall würde ich sie küssen … ob sie andersartig duftet als Katja … und massenhaft Schamhaare …
Weiteres brauchte ich mir nicht mehr vorzustellen. Fix hatte ich den Bogen raus, welches Handling ich am angenehmsten empfand. Um dumpfe Klopfgeräusche zu vermeiden, schlug ich die Bettdecke zurück, und mit schneller werdender Handhabung bahnte sich in einer Gehirnhälfte ein Defekt an. Zuerst verging mir Hören und Sehen, was mich Mutters Nähe total vergessen ließ, und einen Augenblick später blockierte jegliches Vorausdenken. Es interessierte mich nicht mehr, ob sie nun schläft oder nicht oder überhaupt existierte, und von einer Sekunde auf die andere, inmitten eines letzten lichten Moments, geschah etwas Unvorstellbares, sodass ich wahrhaftig zu verblöden glaubte. Gigantische Wallungen und höllisches Zucken tobten im Unterleib, unterdessen mir mannigfach Flüssigkeit um die Ohren spritzte, gleichzeitig mein gurgelnder Aufschrei die ausgetrocknete Kehle verließ und somit das Schlimmes anrichtete – Mutters Gehörgang erreichte. Ach, du Schande!
Sie wusste sofort, was da geschehen war. Ich noch nicht so ganz genau. Schnaufend knipste sie die Nachttischlampe ein, bekam die Bescherung zu Gesicht, blickte bitterböse und fauchte: „Was hast du da eben gemacht!?“
„Ich … ich …“, konnte ich nur noch japsen, und schämte mich wie noch nie.
„So eine Schweinerei, so etwas will ich hier nicht haben!“ Sie sprang aus dem Bett, lief hektisch hin und her, blieb stehen, atmete unüberhörbar schnaufend durch die Nase ein und herrschte mich mit einer Drohgebärde an: „Das kommt mir nie wieder vor! Hörst du? Niemals! Hast du das kapiert?“
„Ja, Mutti, ich mach’s nie wieder“, versprach ich kleinlaut, eingepackt in einen jämmerlichen Seufzer.
„Treibst du das etwa schon länger?”, fragte sie barsch, stemmte Fäuste in ihre Taille.
„Nein, noch nie, wirklich nicht … es war das erste Mal.“
„Soso, dann geht’s ja noch“, sagte sie, wie erleichtert und schon friedlicher gestimmt. Nachdenklich schüttelte sie den Kopf, wirkte übergangslos deprimiert, blickte mich irgendwie ganz komisch an, und fragte mich oder sich: „Was soll ich nur mit dir machen?“
Ich zuckte mit den Schultern, empfahl lieber nichts. Sie betrachtete die weißlichen Placken auf meinem Nachthemd und anderswo, sogar auf der Tapete, schlug entsetzt die Hände vors Gesicht, und forderte überraschend milde gestimmt: „Jetzt nimmst du dir einen neuen Waschlappen und säuberst dich. Das eingesaute Nachthemd kannst du gleich in den Korb für schmutzige Wäsche werfen.“
„Ja, Mutti, das mach ich“, gab ich kläglich von mir, atmete auf und schlich mit schlechtem Gewissen in die Küche zum Waschbecken. Gut, dass meine Geschwister zufällig beide aushäusig waren und von allem nichts mitbekamen.
Gefühlt hätte ich flennen können, doch es kamen keine Tränen. Warum reagierte Mutter übermäßig unbeherrscht, fragte ich mich, und wieso war sie so schnell wieder friedlich und dann unerwartet bedrückt. Hatte ich was Verbotenes getan? Und wenn, wer verbietet denn sowas Geiles? Es handelte sich doch wohl eindeutig um die Geilheit, von der ältere Jungs andauernd redeten und worüber Mädchen tuschelten. „Von wegen, ich werde es nie wieder tun!“, blubberte ich in das Wasser in meinen Händen, spülte noch mein Gesicht und den Haaransatz, und sinnierte: Das gilt doch nicht, wenn erzwungenermaßen etwas versprochen wird! Gleich morgen werde ich es wiederholen, dann aber weit weg von Mutter. Im Keller? Oder in der Kinotoilette? Nein, besser im Park nach Einbruch der Dunkelheit hinter dem Buschwerk am Liebestempel.
Mit einer unguten Vorahnung krabbelte ich ins ausgekühlte Bett zurück, erwartete eine längere Standpauke oder eine Hetzrede auf Ingrid und das fällige Strafmaß. Jedoch zu meinem großen Erstaunen sprach Mutter mit gedämpfter Stimme: „Komm noch einen für einen Augenblick in Muttis Arme, mein lieber Junge.“
Was war denn nun los? Weinerlich hatte sie es hervorgestoßen, mich frenetisch zu sich herangezogen, besitzergreifend mit Armen und Beinen umringt und meinen verwirrten Kopf zwischen mütterliche Brüste gepresst.
Sie weinte wirklich, doch lautlos und nicht schlimm. Trotzdem bekam ich grässliche Schuldgefühle, fühlte mich für ihren Zustand verantwortlich. Sachte verschaffte ich mir für meinen Kopf mehr Freiraum, damit ich durch die Nase atmen konnte, und fragte dann zaghaft, warum sie denn weine.
„Ich bin traurig, mein Junge, im Augenblick sogar sehr traurig.“
„Weil ich was ausprobiert habe?“
„Nein, nicht direkt … es ist nur, weil ich doch schon lange nicht mehr … ach, das kann ich dir nicht sagen, mein Junge, verstehst du noch nicht.“
„Das Nachthemd habe ich in den Wäschekorb gelegt und mich ordentlich gesäubert“, berichtete ich, um sie abzulenken, auf andere Gedanken zu bringen.
„Das ist gut“, lobte sie, trocknete die Tränen mit einem Zipfel der Bettdecke. „Frierst du auch nicht?“
„Nein, du bist doch so schön warm“, sagte ich leise, und wunderte mich, denn erst in diesem Moment wurde mir bewusst, dass sie kein Nachthemd mehr trug, wir beide ganz nackig waren.
Ihr Sinneswandel tat mir wirklich gut. Ich schmiegte mich dichter an ihren weichen Leib, kuschelte eine Wange an meine ehemalige Lieblingsbrust, die über ihrem Herzen wuchtete. Zufriedenheit breitete sich in mir aus. Glücklich schloss ich die Augen, gähnte nach Herzenslust und glaubte an ein Wunder.
„Möchtest du in meinen Armen einschlafen, mein Junge, so wie früher? Du bist doch bestimmt sehr müde.“
„Oh ja, Mutti, wenn ich darf.“
„Du darfst auch Schnullern, wenn du magst.“
„Wirklich?“ Ungläubig unterdrückte das Gähnen. „Aber da ist doch überhaupt keine Milch mehr drin.“
„Das macht nichts, du kannst trotzdem nuckeln“, raunte Mutter, als solle es niemand hören, und noch gedämpfter, als würde sie mir ein Geheimnis verraten: „Du musst nur schön vorsichtig sein, mein Junge, darfst nicht hineinbeißen.“ Prompt kam sie mir mit der falschen Brust entgegen.
„Darf ich lieber die andere haben?“
„Aber natürlich, mein Junge, welche du willst.“
Warum sagte Mutter eigentlich so oft „mein Junge“, versuchte ich zu ergründen, während ich an ihrer überdimensionalen Brustwarze nuckelte, und wieso ist sie plötzlich so liebevoll wie schon Jahre nicht mehr? Mir kam ein ungeheuerlicher Verdacht, doch vor lauter Müdigkeit war es mir vollkommen gleichgültig, ob sich meine Vermutung als richtig erweisen würde oder ich einem Irrtum erlegen war. Nur sanftes Streicheln spürte ich noch auf meiner ganzen Rückseite, bevor mich eine wonnige Welle der Zufriedenheit ins Traumland wog.
Plötzlich schreckte ich auf. Mutter zuckte ebenfalls zusammen. Ich befand mich immer noch in ihren Armen, nein … ja, in den Armen schon, aber Mutter lag auf dem Rücken und ich mit schauderhaften Angstgefühlen bäuchlings auf ihr und zitterte am ganzen Körper.
„Ist schon gut, mein Junge“, flüsterte Mutter besänftigend, wie aus weiter Ferne. „Du hast nur schlecht geträumt.“
Was war das für ein absonderlicher Traum? Ich versuchte, mich zu erinnern, bekam nur noch Bruchstückchen zusammen … ich lag sagenhaft glücklich in ihren Armen … alles war wunderbar weich und warmherzig … doch plötzlich passierte irgendein Schlamassel … schrecklich … aufgelöst vor lauter Glück … in den Bauch zurückgeflossen … Bruthitze darin …
Einige Minuten später hatte ich keinerlei Erinnerungen mehr an den Alptraum und schlief todmüde auf meiner Bettseite ein.