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Meine Großeltern residierten auf einem weitläufigen Bauerngehöft inmitten der Lüneburger Heide an einer Bundestrasse am Ortsausgang einer verträumten Kleinstadt gelegen. Dort lebten auch alle anderen Blutsverwandten. Mutters Bruder und meine Tante konnten mir gestohlen bleiben. Nicht aber meine Cousine Katja, knapp anderthalb Jahre älter als ich. Wir verstanden uns prächtig, hatten immer sehr viel Spaß miteinander, und das nicht nur hinsichtlich von etlichen Vergnügungen im Herzen von Fauna und Flora.

Verschiedenartige Stallungen, ein verwitterter Geräteschuppen, der Heuschober und ein imposanter Getreidesilo sowie eine ausgediente Windmühle gaben dem weitläufigen Gehöft etwas Abenteuerliches, weckten Jagdinstinkte und Experimentierfreude. Auf saftigen Weiden graste eine Herde Milchkühe; streng voneinander getrennt auch einige Ziegen und Heidschnucken; in Schlammlöchern suhlte fettleibiges Borstenvieh; eine oft schnatternde Gänseschar tippelte zumeist ziellos und wo es gerade beliebte über das Anwesen; unzählige weiße und braune Hühner pickten unaufhörlich verstreute Körner aus sandigem Boden; und es gab einen farbenprächtigen Hahn, der nicht nur frühmorgens krähte. Zuweilen mischte sich ein Truthahn unters Federvieh, doch längstens bis zum Weihnachtfest. Katzen in sämtlichen Farben streunten umher, jagten in Ställen, im Heuschober und in den Kellerräumen des Wohnhauses nach Mäusen. Ein struppiger Schäferhund-Mischling lag überwiegend angekettet vor einer Hundehütte, die zwischen Hühner- und Gänsestall aufgestellt war, um geifernde Füchse abzuschrecken, und döste die meiste Zeit vor sich hin. Im Gebälk der Scheune nisteten Schwalben, die als Glücksbringer und verlässliche Wetterpropheten galten, und auf dem Kupferdach der Windmühle hatte ein Storchenpaar ein riesiges Nest gebaut. Die waren jedes Jahr von Frühling bis Herbst zugegen, was mich einmal stutzig machte und eine bedeutsame Frage aufwarf: Wer denn die Babys im Winter transportiere! Lange hatte man mich glauben gemacht, ich sei vom Klapperstorch gebracht worden. „Frag doch nicht immer so viel“, hörte ich standardmäßig, wenn ich das heiße Eisen berührte, und darum fragte ich auch gar nicht erst, wer bei wem bestellt und wo sie erzeugt werden.

Meine Großmutter, eine patente Frau mit dicken Schwielen an den Händen, kümmerte sich um Haus und Hof, schuftete tagein tagaus von frühmorgens bis in die späten Abendstunden. Und das mit weit über Siebzig und immens von Rheuma geplagt. An feuchtkalten Tagen ging sie nur noch gebeugt. Große Schmerzen ertrug sie dann, doch klagen hörte ich sie nimmer. Sie hat sich auch nie ins Bett gelegt, ist höchstens einmal zeitiger hineingegangen. Ganz lieb war Omi immer zu mir. Niemals hat sie geschimpft gar Strafe angedroht, und wenn ich was ausgefressen hatte, nahm sie mich weitestgehend in Schutz. Wenn’s drauf ankam, dann log sie sogar für mich. Und sie war eine exzellente Köchin. Manche Gerichte schmeckten noch wesentlich besser als von Mutter gekocht. Ungarisch Gulasch und böhmischer Pflaumenkuchen sowieso. Das Beste war Hühnersuppe mit ganz viel Fleischeinlage, daran konnte ich mich dumm und dusselig essen.

Mein Großvater, ein stattlicher Mann von Bauernschläue, war ein typischer Preuße. Ein Haudegen, wie er im Buche steht. Im Ersten Weltkrieg immer an der Front, im zweiten Mitläufer und Propagandist. Mit seinen eigenen Händen hatte er das mächtige Wohnhaus erbaut, darin ein Schuhgeschäft mit Reparaturwerkstatt integriert. In zwei Schaufenstern wurden Schuhe in mannigfacher Auswahl für Jung und Alt und fast jeden Bedarf präsentiert. Wenn ein Kunde den Laden betrat, schellte es unüberhörbar an der Eingangstür, damit es auch in der Werkstatt und im Küchentrakt zu vernehmen war. Am liebsten verweilte ich in der Werkstatt, in der es wunderbar nach Schuhcreme, Leder, Gummi und Kleber roch, auch grundsätzlich nach einem Haufen Arbeit aussah. Viel zu tun hatten Opa und mein Onkel, der nach alter Vatersitte das Schusterhandwerk erlernt hatte. Hand in Hand gaben sie Schuhen neue Absätze und Sohlen, nähten, flickten und klebten, kloppten Stoßeisen auf Hacken und Spitzen, weiteten zu enges Schuhwerk auf einer Spannmaschine. Wenn ich stillschweigend zusah und lange genug den Mund hielt, durfte ich mit einem scharfen Spezialmesser aus den Leder- und Gummiresten etwas schnitzen. Und wenn gute Laune vorherrschte, vorwiegend, wenn der Laden richtig brummte, dann durfte ich mit einem ausgedienten Schusterhammer neue Stoßeisen auf meine Schuhe nageln. Leider nur welche aus Eisen, die aus Messing waren zu teuer für mich. Die gab es auch nicht im Überfluss, außerdem mussten die fachmännisch ins Leder eingelassen werden, exakt bündig, was ich noch nicht konnte. Die billigen Eisen klapperten aber auch ordentlich. Besonders auf Steinfliesen und befestigten Gehwegen oder beim Überqueren einer geteerten Straße, dass ich mir automatisch viel älter vorkam – meine Schritte klangen doch gleich dynamischer, männlicher!

Mein Onkel war mit absoluter Vorsicht zu genießen. Als linientreuer Obersturmbannführer der Waffen-SS hatte er der totalitären Weltanschauung die Fahnen hochgehalten bis zur Stunde-Null und darüber hinaus. Sogenannte arische Statur, eisgraue Augen, aufgeblasenes Auftreten und eine barsche Befehlsstimme konnten Angst einflößen. Und wenn ihm eine Laus über die Leber gelaufen war, er durchs ganze Haus brüllte, dann kam man ihm besser nicht in die Quere. Weswegen er nicht in Kriegsgefangenschaft geriet und wo er sich aufhielt, als englische Besatzer das Gehöft konfiszierten, zwei Jahre die Familie knechteten, das wurde totgeschwiegen. An der Front war er jedenfalls niemals eingesetzt, sondern ausschließlich in heimatlichen Gefilden zugange gewesen. Demzufolge musste er sich in der Nähe befunden haben. Ob er die ganze Zeit im Lazarett gewesen sei, wollte ich mal wissen, als an einem Sonntagnachmittag über die Fremdherrschaft geschnattert wurde, meine Tante die unschöne Zeit beklagte und Mutter vorhielt, die demütigende Knechtschaft nicht mit durchgemacht zu haben. Mit meiner einfachen Frage hatte ich die Kaffeerunde gesprengt. „Das darfst du deinen Onkel nicht fragen, davon will er nichts mehr hören“, raunte Mutter, als wir uns allein am Tisch befanden, und verklausulierte mir, dass er eine Leiche im Keller habe. Ich wusste, was dieser Spruch bedeutet. Vater hatte es mir erklärt, als wir ausführlich über das Thema Aufrichtigkeit sprachen, wobei er mir auch gleich den tieferen Sinn einer Notlüge erläutert. „Jeder Erwachsene hat etwas zu verbergen und mancher sogar zeitlebens“, hatte Vater erklärt und wie es der Volksmund nenne. Mir war also durchaus bewusst, dass mein Onkel etwas Beträchtliches verbarg. Welche Ahnung sich im Laufe der Zeit in mir kräftigte, vermochte ich vor niemandem auszusprechen - ich hielt meinen Onkel für einen der vielen Unschuldslämmer mit viel Dreck am Stecken. Wo ich auch hinhörte, es gab überhaupt keine Soldaten, die auf Menschen geschossen und getötet haben. Und solche Beteiligten, welche furchtbare Gräueltaten begingen, waren allesamt gefallen, oder wie? Und warum versuchte jeder, mir weiszumachen, er habe nur das Vaterland verteidigt? Wir Deutschen haben doch andere Länder angegriffen, soweit ich es wusste, uns die Feinde selbst geschaffen. Wenn ich in einer Tageszeitung las, dass ein vor Gericht gestellter Kriegsverbrecher behauptete, er habe lediglich die Befehle seiner Vorgesetzten ausgeführt, dann fragte ich mich, welchen Befehlsgeber der „Heldentote“ benannt hätte – da käme doch nur einer in Frage: der Satan! Auch wenn ich meinem Onkel nicht die allerschlimmsten Dinge zutraute, so hielt ich ihn aber für imstande, allerlei andere Schweinereien auf dem Kerbholz zu haben. In jeder Hinsicht militant, war Befehligen sein Lebenselixier. Als nach Kriegsende nichts mehr lief für ihn, startete er eine beispiellose Nachkriegskarriere im Schützenverein. Innerhalb zehn Jahren dreimal mit erkauftem Königstitel, wo ich doch irrtümlich immer glaubte, Schützenkönig werde ausschließlich nur derjenige, der am besten Schießen könne. Auf Schützenfesten spielte er den großkotzigen Gönner und tat sich im Festzelt auf der Dorfwiese als prävalenter Redeschwinger hervor. Bei Paraden und Straßenumzügen protze er mit massenhaft Lametta auf maßgeschneidertem Uniformrock. Königsinsignien auf den Revers und Schulterklappen und ein Goldadler auf speckig glänzendem schwarzen Pickelhelm verliehen ihm die Würde eines Feldmarschalls. Einem solchen angemessen, gab er rauschende Gesellschaften. Im ganzen Haus wurde im ganzen Haus gesoffen und gefressen, mit Kriegstaten geprahlt und Jägerlatein gesponnen, von Bauerngeschäften geredet und hitzköpfig über falsche Politik diskutiert. Alle trugen sie dicke Orden auf der Brust, einzelne reihenweise, die alten Waffenträger auch Verdienstkreuze um den Hals, und an den Hüften baumelte manch blutbesudelte Klinge. Das Prunkstück war eindeutig Opas Säbel, älter und verzierter als alle anderen. Zudem erfolgreicher. Mehr als ein Dutzend feindliche Leiber soll er damit aufgespießt haben. Wie grauenhaft! Zu fortgeschrittener Stunde schwafelte die heftig alkoholisierte Bagage nur noch dummes Zeugs. Dann wurde den besseren Zeiten nachgetrauert, verloren gegangenes Deutschtum bemängelt, die Demokratie verdammt und weiterhin vehement die eigene Gesinnung verherrlicht. Und mit zunehmender Alkoholisierung lauthals nach einem neuen starken Mann gegrölt! Soldatenlieder sangen sie bis spät in die Nacht, manchmal von Blechinstrumenten und Trommeln unterstützt, wovon meiner Tante und Mutter leuchtende Augen wuchsen und ich nicht schlafen konnte. Schön hörten sich die Gesänge ja an, doch die kampfesfreudigen Texte, die Soldatentum glorifizierten und vorzugsweise auf Feindvernichtung abzielten, bereiteten mir Unbehagen.

Meine Tante konnte ich noch weniger leiden. Für mich verkörperte sie das Böse. Eine arschfreundliche, aber andersdenkende Zimtzicke mit Haaren auf den Zähnen. Ihr vernickeltes Nasenfahrrad mit dicken Gläsern schob sie ständig nach oben oder setzte es für einen Augenblick ab, um die roten Abdrücke auf ihrer spitzen Nase zu reiben. Wenn sie die Sehhilfe verlegt hatte, war sie völlig aufgeschmissen auf Hilfe angewiesen. Zuweilen charakterisierte ich sie als zwitterhafter Zankteufel. Streng geknotete Genickschussbremse kombiniert mit platter Oberweite und gemeingefährlicher Streitsucht, drängten eine hypothetische Denkweise auf. Und regelmäßige Erkältungen Bazillen. Nicht, dass eine Handfläche keuchendes Husten dämmte oder Niesorgien in Taschentücher erstickten, nein, nein, da wurde unbesonnen die Allgemeinheit besprüht. Auch ich hatte mal eine Entladung abbekommen und konnte mich drei Tage später mit Fieber ins Bett legen. Meine tiefe Abneigung, die ich für sie empfand, ließ ich mir jedoch niemals anmerken. Dafür gab es einen triftigen Grund: Ich wollte nichts riskieren, die schönen Zeiten mit Katja nicht gefährden. Wenn sie mich ungerecht behandelte, nahm ich es klaglos hin, damit sie nicht auf den Trichter kam, mich einfach vom Hof zu verbannen, und wünschte sie insgeheim zur Hölle.

Katja war keineswegs eine hirnlose Bauerntrutsche, wie ich sie hin und wieder nannte, wenn wir uns stritten, sondern eine prima Gefährtin und noch sehr viel mehr. Außerdem war sie das hübscheste Mädchen, was ich damals kannte. Sprichwörtlich eine Zuckerpuppe. Ein wenig pummelig um den Bauchnabel, Sommersprossen zu jeder Jahreszeit, immerzu rosige Wangen, überwiegend quietschvergnügt und alles andere als schüchtern. In bildschönen, ultramarinblauen Augen spiegelte Aufrichtigkeit und unbändige Lebenslust. Manchmal schienen Wunderkerzen darin zu sprühen. Wenn sie mich nach einem Streit angeblich abgrundtief verachtete, sie ihre possierliche Stupsnase rümpfte und sich pittoreske Lippen zu einem Schmollmund formten, dann musste ich automatisch lachen. Ihr hübsches Mundwerk war überhaupt ein Wunderwerk der Natur, lud förmlich zum Knutschen ein. Darin lauerte allerdings eine sehr spitze Zunge, die einen bis zur Weißglut bringen konnte. Als besonders anziehend empfand ich ihre goldblonden Haare. Normalerweise zu langen Zöpfen geflochten, fielen sie offen getragen, wie ich es am liebsten leiden mochte, in weichen Wellen über die Schultern bis zum Ansatz ihres drallen Podex. Der hatte es mir angetan! Wenn sie mir beim Doktorspielen den Rücken zukehrte oder malerisch auf dem Bauch lag, splitternackt versteht sich, dann überkam mich jedes Mal dasselbe Bedürfnis: mit der flachen Hand draufklatschen. Einmal hatte ich es gewagt und erntete postwendend eine schallende Ohrfeige. Doch schon ein Jahr später, wenn wir Mutter und Kind spielten und Katja etwas falsch machte, durfte ich meine Vorliebe offiziell auskosten. Freilich ließ sie sich nur widerwillig übers Knie legen, zudem musste ich achtgeben, dass ich ihr nicht allzu fest den Po versohlte, doch es war trotzdem erbaulich. Wenn sie zappelte und wimmerte, simulierte, als würde sie drunter leiden, sich nach jedem Klaps das Becken bäumte und sich zarte Hautpartien röteten, fühlte ich mich haushoch überlegen, wie vorzeitig aus den Kinderschuhen gewachsen. An manchen Tagen verkörperte sie eine Art von Märchenfigur, wie es sie nicht gab, es noch kein Schriftsteller erfunden hatte: Himmelshexe mit teuflischen Zauberkräften. Manchmal fühlte ich mich in ganz bestimmten Situationen tatsächlich wie verzaubert. Wie ein anhänglicher Dackel folgte ich ihr dann auf Schritt und Tritt, suchte ihre unmittelbare Nähe, ihre wohltuende Körperwärme – und wenn sie zärtlich meinen Rücken kraulte, da gab es eine gewisse Übereinkunft, überzog mich stets eine Wahnsinnsgänsehaut. Aber sie war auch eine Nervensäge. Neugierig wie ein Affe wollte sie alles über Jungs von mir wissen, doch nur Erkenntnisse sammeln, wie sie es nannte. Andererseits hatte sie andauernd irgendwelche Geheimnisse, die sie ganz bewusst andeutete und nicht ohne Weiteres ausplaudern wollte. Oft schien sie mich extra lange hinhalten zu wollen. Doch um das jeweilige Geheimnis möglichst schnell herauszubekommen, hatte ich einen guten Trick auf Lager: „Och, liebe Katja, erzähl es mir doch bitte“, bettelte ich nur einmal und tat so, indem ich nicht weiter nachfragte, als würde es mich nicht sonderlich interessieren, und schon rückte sie nach einem Weilchen von selbst damit raus, was ihr wie ein Flammenmeer auf der Seele brannte. Dann überraschte sich mich mit ungeheuerlichen Neuigkeiten, wobei ich nie genau wusste, ob sie jenes, was sie mir einreden wollte, auch wirklich ernst meinte. Was derzeit keiner erfahren durfte: Ich war unsterblich verliebt in Katja!

Im Sommer besuchten Mutter und ich das Familienanwesen öfters, meistens für ein Wochenende und manchmal für ein ganze Woche. Heidi und Ralf nahmen selten daran teil. Vater nur einmal, sozusagen pflichtgemäß zur Goldenen Hochzeit meiner Großeltern. Abgesehen davon, dass er die Verwandtschaft nicht ausstehen konnte, wurde er auch nicht gerne dort gesehen – weil er das braune Parteibuch nicht aus Überzeugung in der Tasche gehabt habe, sondern aus Gründen des beruflichen Vorankommens. Er hasste jegliche Art von Gewaltanwendung und dankte dem Gott der Meere, dass er niemals einen Abzugshahn oder Feuerknopf betätigen brauchte. Im Grunde, wenngleich ihr Elternhaus, reiste Mutter ebenfalls nur noch ungern dorthin. Neben einigen Annehmlichkeiten, wie obligatorischer Mundvorrat bei der Abreise oder gelegentlich ein Paar neue Schuhe, schwelte seit langem ein elender Fundamentalstreit um Erbaussichten.

Eine lange Reise war es dorthin, dauerte insgesamt mehr als fünf Stunden. Zuerst drei Haltestellen mit der Straßenbahn, dann zwölf Stationen mit der Hochbahn bis zum Hauptbahnhof und vom gegenüberliegenden Omnibusbahnhof in einem bequemen Überlandbus über die Elbbrücken in die Walachei. Es war immer eine sehr interessante Busfahrt, bei der es im Hochsommer besonders viel zu sehen gab: Blühende Felder; äsendes Rotwild am Waldrand; zwei sich durch die Heidelandschaft schlängelnde Flüsschen; eine sehr schmale Brücke, die der Bus im Schritttempo überquerte. Danach ging es zügig weiter über schnurgerade und überwiegend von Linden eingerahmte Alleen, an den Straßenrändern blutrotleuchtender Klatschmohn und prächtiges Kornblumenblau. In abgelegen Dörfern konnte es vorkommen, dass ein Bauer eine Herde muhender Kühe quer über die Bundesstraße trieb und somit den Autoverkehr stoppte. Auf einer Großtankstelle, ein Haltepunkt zum Umsteigen, legten Busfahrer grundsätzlich eine Pause ein, und Fernfahrer betankten ihre Lastwagen und gönnten sich im angrenzenden Landgasthof ein Mittagsmahl. Am Zielort, zugleich Endstation, herrschte jederzeit ein hektischer Betrieb am Bahnhof – ein Knotenpunkt für Umschlaggüter. Dort rangierten ellenlange Güterzüge, hauptsächlich geschlossene Waggons, die konnten alles Mögliche zum Inhalt haben, und teilweise Pritschen mit Kisten, Fässern, Baumstämmen, wirtschaftlichen Geräten und Trecker beladen. Einstweilen auch mit Militärfahrzeugen, und mit Glück, obwohl mir beim Anblick unwohl wurde, mit Geschützen und Panzern. Vom Bahnhof noch eine gute Viertelstunde zu Fuß, oder fünf Minuten weniger, wenn es nur nach Mutterwillen ging. Dann gingen wir nämlich nicht am Weiher mit den vielen Seerosen und an der hübschen Kirche vorbei, sondern es wurde die Abkürzung über den Friedhof genommen. Selbst im strömenden Regen wäre ich lieber die längere Wegstrecke gelaufen. An einer ganz bestimmten Stelle überfiel mich das kalte Grausen, in den Sinn kam mir immer eine furchtbare Geschichte, die meine Tante beiläufig bei Kaffee und Kuchen auftischte. Demnach soll es vorgekommen sein, dass die Tranfunzel von Friedhofswärter zwar dumpfe Klopfgeräusche gehört hatte, aber viel zu spät einer möglichen Ursache nachging. Schon länger als eine Woche begraben, wurde ein Scheintoter ausgebuddelt, und als man den Sargdeckel öffnete, soll der grauenhafte Anblick einige umstehende Schaulustige zum Kotzen gebracht haben. Vermutlich war der vermeintliche Leichnam aus tierischer Angst noch in Wahnsinn verfallen und hatte sich eigenhändig erlöst – leibhaftig zu Tode gekratzt. Mit dem Tage dieses Geschehens sollen verpönte Feuerbestattungen wieder wünschenswerter geworden sein.

*

Ein heißer Juli war es in dem Jahr, als Mutter und ich für eine ganze Woche auf dem Bauernhof gastieren durften. Und es gab einen bedeutungsvollen Tag, der einiges in mir bewirkte: Meinen Glauben an das Gute zutiefst erschütterte und den Sinn eines familiären Zusammenhalts infrage stellte – höchstwahrscheinlich auch mein späteres Sexualverhalten prägte, zumindest fürs kommende Jahrzehnt. Ein großer Junge war ich bereits geworden, dreizehneinhalb Jahre alt, und voller Tatendrang und Vorfreude auf ganz besondere Erlebnisse mit Katja. Mit ihr gab es immer welche!

Gleich nach unserer Ankunft strich Omi liebevoll ihre abgearbeiteten Hände über meine flachsblonden Zotteln, drückte mir eine taufrisch geschabte Möhre in die Faust, zwinkerte mit einem Auge und verkündete gutgemeint: „Morgen koche ich dein Leibgericht.“ Eigentlich gab es ja zwei, doch ich wusste sofort, was sie meinte: Hühnersuppe! Von Omi gekocht, freute ich mich sehr darauf, ließ mir schon vorweg das Wasser im Munde zusammenlaufen.

Es gab noch etwas, worauf ich mich unendlich freute, was alles andere in den Schatten stellte, Essen und Trinken vergessen ließ – abseits des Wohnhauses auf der Blumenwiese mit Katja allein unter einem uralten, knorrigen Apfelbaum, unter unserem Baum! Für Katja und mich einer wie jener, der im Garten Eden die Hauptrolle spielte, unter dem wir uns gegenseitig vor Blicken geschützt unsere unterschiedliche Anatomie vor Augen führten. Fummeln war auch erlaubt. Dabei kamen nicht nur unermesslich lehrreiche Forschungsergebnisse zustande, häufig auch zärtliche Umarmungen, welche mich sekundenschnell in den siebten Himmel versetzten.

Witzig war, wenn wir um die Wette pinkelten. Katja kicherte vergnügt, wenn mein druckvoller Strahl im hohen Bogen wie aus einem zusammengequetschten Gartenschlauch herausschoss, und wenn ich das zuvor ausgemachte, mindestens drei Schritte entferntes Ziel auf Anhieb getroffen hatte, klatschte Katja begeistert in die Hände und lobte mich in höchsten Tönen. Einmal rutschte ihr heraus: „Du bist der beste Pisser, den ich kenne!“ Das entrüstete mich ungemein. Enorm eifersüchtig wollte ich sofort wissen, wem sie denn noch dabei zuschaue, doch sie schwor Stein und Bein, dass sie noch keinem anderen dabei zugesehen habe. Und im Übrigen seien auch noch niemandem die Augen soweit übergegangen, wie sie angeblich mir übergehen, wenn sie Sehenswertes veranschaulichte. „Dann koch doch deinen ganzen Krimskrams in Sauer“, schlug ich daraufhin verschnupft vor, und musste mich erst übermäßig entschuldigen und minutenlang ihren Rücken kraulen, bevor ich wieder zu Gesicht bekam, was ich am liebsten betrachtete.

Wenngleich mein Hauptinteresse auf Katja fixiert war, ließ ich meine Blicke auch gerne über die große Blumenwiese und die angrenzende Natur schweifen. Ein wahrlich paradiesisches Örtchen. Neben Apfelbäumen gab es noch verschiedene andere Obstbäume, rote und schwarze Johannisbeersträucher, Stachel- und Himbeeren, eine Brombeerhecke und sogar ein Erdbeerfeld. Im Besonderen ein fließendes Bächlein, an einigen Stellen nur eine Körperlänge breit, in dem wir uns nach ausschweifendem Herumtoben unsere dreckigen Pfoten wuschen. Das kristallklare Gewässer konnten wir auch trinken, schmeckte noch wesentlich besser als das Brunnenwasser. Wenn nach einem Gewitterregen der Wasserstand und die Strömung zunahmen, schickten wir kleine Papierschiffchen mit einem Mast aus Schilfgras auf die Reise.

Eine Bullenhitze begleitete jenen denkwürdigen Tag, dass einem die Lust an jeder Bewegung verging. Erbarmungslos brannte die Sonne hernieder und stach auf der Stirn, sprenkelte Sommersprossen auch auf meine Nase, grillte die ungeschützten Hautpartien auf indianische Bräune, und die Haare blichen, als bestünde die knochentrockene Luft anteilig aus reinem Sauerstoffoxid. Der Himmel wie Geschenkpapier. Kaiserliches Blau mit weißen Schäfchenwolken, die derart unbewegt verharrten, als warteten sie geduldig auf den letzten Pinselstrich eines Landschaftsmalers. Das satte Grün der Wiesen und die quittengelben Rapsfelder leuchteten in marktschreierischer Farbsättigung von kitschigen Ansichtskarten. Nicht der leiseste Windhauch streichelte übers Land. Mit Fantasie konnte man meinen, eine gigantische Glasglocke sei über alles Leben gestülpt. Ständiger Durst und sehnsüchtiges Verlangen nach Abkühlung glichen den widernatürlichen Zwängen von Drogen, das physische Leistungspotenzial einer chronischen Apathie, und der Appetit auf Essen beschränkte sich auf Kaltschale und frisches Obst. Selbst die Tiere verkrochen sich, suchten Schatten, wo sie konnten. Demgegenüber quicklebendig belebt der instabile Lebensraum und unübersehbar exklusiv: nur kleiner Flugverkehr. Schmetterlinge flatterten umher, Kohlweißlinge, Zitronenfalter, hin und wieder auch ein Pfauenauge; putzmuntere Bienen und pelzige Hummeln summten von Blume zu Blume und räuberten den Blütenstaub von ungeschützten Stempeln; zwischen dem hohen Schilfgras am Bach tanzte ein unermüdlicher Mückenschwarm; im Geäst der Bäume zwitscherten die Vögel, als sei der Lenz ausgebrochen; träge fliegende Marienkäfer landeten auf schwitzige Arme und Beine, krabbelten zutraulich auf hingehaltene Finger – und wenn versehentlich der orangefarbene Flügelpanzer leicht gedrückt wurde, dann spritzten sie ängstlich einen gelben, leicht brennenden Saft in weit geöffnete Hautporen.

Das Einzige, wozu ich Lust und Laune hatte, darauf hatte ich mich wochenlang vorab gefreut: erbauliche Doktorspiele mit allen Schikanen. Doch Katja machte Sperenzchen. Starrköpfig wollte sie ihr Höschen nicht heruntergelassen, war bereits zweimal vor mir ausgebüxt. Sie jagen und einfangen war gar nicht so einfach, sie konnte etwas schneller rennen als ich und dabei Haken schlagen wie ein Hase. Normalerweise war es mir nur möglich, wenn es über eine längere Distanz ging, weil ich auf Dauer die bessere Puste hatte. An diesem Vormittag bestimmt nicht. Schwer zu schaffen machte mir die sengende Hitze. Ich wollte schon das Handtuch werfen, da stolperte Katja über einen Maulwurfshügel und verlor ausreichend an Boden. An einem ihrer wehenden Zöpfe erwischte ich sie, zügelte und foulte sie in Fußballermanier, dass sie wie abgeholzt auf die Wiese plumpste und für einen Moment erschöpft liegen blieb. Blitzschnell begrub ich sie unter mir, stellte mit zwei Handgriffen und Beinschere störrisches Gezappel ab, und fragte schnaufend, ob sie sich freiwillig ergeben wolle. Doch sie schüttelte widerspenstig ihren hochroten Kopf. Ich machte mich so schwer, wie ich konnte, erhöhte den Druck auf ihren Brustkorb, woraufhin sie sich ächzend ergab, keuchend um Gnade bettelte und flehentlich nach Flüssigkeit verlangte.

Ausgepumpt hockten wir am Bach, schöpften kühles Wasser mit den Händen heraus, löschten unseren mächtigen Durst, erfrischten die schweißtriefende Stirn, befreiten die Füße von lästigen Sandalen und planschten noch eine Weile. Indessen stellten wir Überlegungen an, welchen Unsinn wir nach dem Mittagessen verzapfen könnten. Katja wollte auf dem Friedhof irgendwelche alten Leute erschrecken, ich wollte lieber die dummen Kühe ärgern. Schließlich einigten wir uns auf Kaulquappen fangen und ein ganzes Glas voll davon dem kinderfeindlichen Nachbarbauern bei einer günstigen Gelegenheit in seinen Brunnen schütten.

Wieder ein Herz und eine Seele, betteten wir uns in den Halbschatten unseres Baumes, um den wie jedes Jahr ein herrlich weicher Kleeteppich gewachsen war. Erwartungsgemäß, ohne darauf angesprochen zu haben, wollte Katja endlich ihr Geheimnis lüften.

Dass sie eins in sich trug, hatte sie bereits angekündigt und es während sie vor mir herlief doppelt gemoppelt zugerufen: „Ich zeig dir mein Geheimnis nicht! Das Geheimnis zeig ich dir nicht!“ Doch Katja trödelte. Sie richtete ihren Oberkörper auf, wollte sich erheben, überlegte es sich aber anders. Auf dem Rücken liegend streifte sie sagenhaft umständlich einen geblümten Schlüpfer vom Po und schob dann erst den Faltenrock hoch, anstatt umgekehrt zu verfahren, richtete sich auf, fummelte den Schlüpfer ganz von den Beinen, schnüffelte daran, und fragte mich, ob ich denn auch dran riechen wolle.

„Na gut, kann ich mal machen.“ Gelangweilt steckte ich meinen Rüssel in den weichen Stoff, runzelte die Stirn.

„Nun sag bloß, der stinkt!“, empörte sich Katja, machte schmale Lippen und setzte einen bitterbösen Blick auf.

„Nein, nein“, stieß ich schnell hervor, fürchtete einen Boykott. „Meine Nase habe ich doch nur zum Spaß gerümpft, ehrlich, riecht wirklich nicht übel.“

„Dein Glück, sonst hätte ich es auch nicht mehr gezeigt!“

Beruhigt zog sie die Beine an, bog mit beiden Händen, als sei es ohne derer nicht möglich, ihre Knie weit auseinander, schaute auffällig dorthin, wohin ich blicken sollte, und sah mich Beifall heischend an.

Grenzenlos verwirrt, glotzte ich auf den neuen Haarflaum. Das mir bald ein Bart wachsen würde, auch Brusthaare und zwischen den Beinen wie bei meinem Bruder, das wusste ich natürlich, aber ich hatte keinen blassen Schimmer, dass auch manche Mädchen Haare zwischen den Beinen kriegen können.

Katja zeigte sich belustigt über meinen verwunderten Gesichtsausdruck, lächelte überheblich.

„Du brauchst mich gar nicht auszulachen“, mäkelte ich. „Es ist doch vollkommen unlogisch, wenn an der Stelle ausgerechnet dir welche wachsen.“

Ihr überhebliches Lächeln verflog.

„Was heißt hier unlogisch und ausgerechnet bei mir? Hast du ’n Sonnenstich?“

„Ne, aber du hast keine tiefe Stimme.“

„Was hat die denn damit zu tun?“

„Das hat mein Vater mir gesagt, dass es damit zu tun habe, und der weiß schließlich viel mehr als deiner.“

„Bildest du dir doch nur ein, du Blödmann!“

„Das bilde ich mir überhaupt nicht ein! Mein Vater ist doch viel intelligenter als deiner!“

Katja maulte, verschränkte die Arme, stand unschlüssig da, und wollte es dann doch noch wissen.

„Und, was hat er nun gesagt?“

„Er hat gesagt, kannst du genauso gut glauben, dass nur solche Männer einen starken Bartwuchs und viele Brusthaare und so weiter bekommen, die eine tiefe Stimme haben.“

„Bist du doof? Selbst wenn es wirklich stimmen würde, so hat das noch lange nichts mit Schamhaaren zu kriegen.“

„Mit Scham … mit was für welche?“

„Lebst du hinterm Mond? Sind eigentlich alle Hamburger geistig minderbemittelt? Man sagt doch auch Kopfhaare und Brusthaare, wie du schon sagtest, und die Haare zwischen den Beinen nennt man eben Schamhaare.“

„Stimmt nicht, das ist Beinbehaarung!“

„Also wirklich, du bringst mich noch mal zur Weißglut mit deiner Starrköpfigkeit. Natürlich nennt man die Haare an den Beinen Beinbehaarung, das weiß ich doch auch, du Nachtwächter, aber die hier …“, sie zupfte am Flaum, „das sind Schamhaare! Und damit du nicht gleich wieder etwas einzuwenden hast und noch saublöde nachfragst, die nennt man deshalb so, weil man sich ohne die sonst schämen würde.“

„Ach, und worüber, wenn ich fragen darf?“

„Über … weil man sonst … ist ja auch piepe!“

„Ist es nicht, wenn du schon davon anfängst.“

„Denk doch selbst mal nach“, murrte Katja, verdrehte die Augen, gab mir jedoch keine Gelegenheit zum Nachdenken. „Das ist doch wohl logisch, weil sonst alles zu sehen wäre.“

„Sieht man doch jetzt auch.“

„Soll man aber normalerweise nicht.“

„Warum denn nicht? Außerdem zeigst du doch gerne alles vor.“

„Ja, aber bloß dir! Und wegen dir, damit du dazulernst.“

„Das glaubst du doch selbst nicht! Wenn ich nur wollte, könnte ich noch ganz andere Sachen wissen.“

„Ja klar, ich weiß, du kleiner Obermöchtegern“, frotzelte Katja, setzte gekünsteltes Grinsen auf, fuhr mit den Fingerspitzen durch den Flaum und änderte ihr Mienenspiel. Sie spitzelte ihre Zungenspitze durch die geschlossenen Lippen, als bewerkstellige sie was höchst Kompliziertes, und empfahl mir in einem rasanten Sprechtempo: „Streich mal ganz sachte drüber, fühlen sich total flauschig an, wie die von einem Entenküken.“

Sie hatte recht. Aber das wollte ich nicht sofort bestätigen, um ihr nicht zu schnell Genugtuung zu verschaffen.

„Na, was ist, fühlen die sich nun so an?“, fragte Katja ungeduldig, weil ich mich nicht äußerte, blickte mich prüfend an.

„Jaaa … so ähnlich …“

„Möchtest du dran schnuppern?“

„Ne, wozu denn, habe ich doch schon letztes Jahr.“

„Aber vielleicht riecht es heute absolut anders?“, köderte Katja, schmunzelte wie eine Braut vor dem Traualtar.

Und wenn schon, dachte ich, machte keinerlei Anstalten, und versuchte, mir den weiteren Werdegang auszumalen.

Katja zog eine säuerliche Schnute, schien schwer beleidigt zu sein, doch sie hatte noch was in petto: „Soll ich dir sonst noch was Neues zeigen?“

„Von mir aus“, nuschelte ich gedehnt, denn eigentlich konnte es nichts Aufregendes mehr geben. Von gleißender Sonne geblendet, rückte tiefer in den Schatten der Baumkrone, wartete geduldig ab.

„Puuuh“, stöhnte Katja, wie unter schwerer Last, robbte sich neben mich, schlenkerte den Rocksaum, um sich Luft zuzufächeln.

Kaum hatte ich von den Luftzügen ein wenig profitiert, knöpfte sie seelenruhig die obersten zwei Knöpfe ihres Kleides auf, verfiel in Regungslosigkeit, und starrte wie in Trance auf prächtige Äpfel, die noch nicht gänzlich gereift waren. Weil weiter nichts passierte, folgte ich ihrem Blick, zählte die Äpfel … und erschrak!

„Soll ich dir einen runterholen?“, fragte Katja jäh.

„Wenn du willst …“

„Sind aber noch mistig gallig.“

„Warum fragst du denn erst so blöd?“

„Weil du nichts mehr sagst und mir dein absichtliches Schweigen auf die Birne geht.“

„Ich? Wieso denn ich? Du hast doch die ganze Zeit geschwiegen!“

„Du hättest trotzdem was sagen können.“

„Was soll ich denn sagen?“

„Das weißt du ganz genau!“

„Weißt du genau, weißt du genau … soll ich dir vielleicht sagen, dass ich bitte ganz, ganz schnell das Neuste sehen muss, damit ich nicht vor Neugier sterbe?“

„Nun übertreib doch nicht immer! Ich weiß doch ganz genau, wie erpicht du darauf bist, du kannst es ruhig zugeben. Eigentlich brauchst du es auch nicht mehr, denn ich überlege nämlich grade, ob ich es dir nicht besser ein andermal zeige oder vielleicht überhaupt nicht mehr!“

Heute ist sie wirklich total bescheuert, fuhr mir durch den Kopf. Aber ich ließ mir nichts anmerken und spielte weiterhin Gleichgültigkeit: „Wie du willst.“

Katja schmollte, drehte nervös ihre Finger ineinander und wurde zusehends unruhiger, und fragte unvermittelt wie von Zeitmangel gehetzt: „Oder möchtest du es lieber sofort sehen?“

Ich zuckte mit keiner Wimper. „Mir egal.“

Das war schon immer das ausschlaggebende Kommando für Katja. Eilig erhob sie sich, kehrte mir den Rücken zu, entledigte sich des Kleides, zog das Leibchen über den Kopf, warf es über die Schulter in meine Richtung, drehte sich wieder herum, warf ausgebreitete Arme in die Luft und trällerte: „Traraaa! Traraaa!“

Was ich sah, ähnelte dem, wie ich es von meiner Schwester her kannte, zu Zeiten, als sie sich noch nicht vor mir genierte. Mich dazu äußern brauchte ich nicht, denn Katja bestätigte sich die optische Beschaffenheit des nun zutage geförderten Wachstumsstadiums gleich selbst: „Die sind wirklich süß“, frohlockte sie, tänzelte, drehte eine Pirouette, grinste wie ein Honigkuchenpferd und fragte rhetorisch: „Das findest du doch auch, nicht wahr.“

Na ja, geht so einigermaßen, dachte ich im Stillen, und wunderte mich über nichts mehr. Auch nicht übers anschließende Getue. Sie holte tief Luft, hielt sie an, zog den Bauch ein, krümmte die Schultern nach hinten, stemmte ihre Hände auf Hüftknochen, legte theatralisch den Kopf in den Nacken, schloss die Augen und genehmigte großzügig: „Du darfst sie ruhig berühren.“

Fühlten sich merkwürdig an, aber gar nicht mal so schlecht. Ich dachte an Ingrid, die in dieser Richtung auch nicht mehr aufzuweisen hatte.

„He! Träumst du? Sag schon, wie sich meine Brüste anfühlen.“

„Ich weiß nicht … irgendwie so ähnlich wie zu hart gewordener Wackelpudding.“

Das überkandidelte Grinsen verflog. Empört schnappte sie nach Luft, wie ein Karpfen am Angelhaken, sagte aber nichts.

„Und weshalb sind die Brustwarzen jetzt falsch herum?“, fragte ich, um zunächst überhaupt was zu sagen.

„Die sind doch nicht falsch … was quatscht du denn nun wieder Dummes?“

„Na, die sind doch wohl klar ersichtlich nach innen gewachsen, wenn ich keine matschigen Tomaten auf den Augen habe, gehören aber nach außen.“

Katja sperrte den Mund auf, blickte völlig entgeistert, wandte sich ab und grollte: „Wenn du nicht was zu kritisieren hast!“

„Du kannst wohl die Wahrheit nicht mehr vertragen“, stichelte ich, zwickte in ihren Po.

„Au, lass das! Und damit du klarsiehst und nicht frierst, ich zeig dir nie wieder was!“

„Mir doch schnuppe.“

„Wirklich?“ Verblüfft rieb sie sich die Nasenspitze, wechselte das Thema: „Dann sag mir jetzt ganz ehrlich, Harry, wie findest du eigentlich meinen Popo?“

„Wie, wie ich den finde … was soll damit sein?“

„Ob du den hübsch findest.“

„Das ist doch wirklich unwichtig, ob der hübsch ist oder nicht.“

„Ist es nicht! Der Popo ist das Wichtigste an einer Frau.“

„F r a u? Habe ich eben Frau gehört? Da lachen ja die Hühner!“

„Ich meine, wenn ich eine bin … schon bald … ich habe nämlich schon einmal … ich werde eben eine!“

„Was willst du dir denn noch alles einbilden? Du wirst nie im Leben eine richtige Frau!“

„Du bist gemein.“

„Wofür soll der denn so wichtig sein?“

„Damit eine Frau gut aussieht.“

„Doch nicht d a m i t … die Möpse sollen gut aussehen.“

„Ja, die natürlich auch, aber der Popo ist noch wichtiger.“

„Das ist doch Schwachsinn.“

„Wenn du meinst … na ja, du hast eben davon noch keine Ahnung … aber der dufte Mann in dem Buch.“

„In welchem Buch?“

„Welches ich grade lese.“

„Was ist das denn für ein blödsinniges Buch … über Irre?“

„Du bist doof! Ein ganz doller Liebesroman.“

„Du solltest lieber mal was übers Universum lesen.“

„Mit dir kann man gar nicht über sowas reden. Dann zieh dich aus und zeig mir, ob sich bei dir irgendwas verändert hat.“

Damit nichts mehr schiefgehen konnte, sie es sich nicht anders überlegte, ließ ich in Windeseile meine Hosen herunter und freute mich voller Inbrunst auf die kommenden Minuten.

Katja schaute mich von oben bis unten an, genauso wie Mutter es immer tat, und fragte prompt: „Bist du noch dünner geworden?“

„Ne, nur länger“, brummte ich gereizt, konnte diese Frage nicht mehr hören, und motzte ungewollt rüde: „Gaff doch woanders hin, wenn es dir nicht gefällt!“

„Deswegen brauchst du aber nicht gleich krummer Hund zu mir sagen, sonst zieh ich dir gleich den Wasserhahn lang.“

„Wehe! Dann zieh ich dir auch was lang.“

„So? Was denn?“

„Wirst du dann schon sehen.“

„Mach doch“, ermunterte Katja, sie wusste um meinen Bluff.

„Will ich gar nicht! Außerdem hast du mich noch nicht berührt. Du kannst mir ja vorher Bescheid sagen, in welchem Jahr du deine Griffel anlegen willst.

Das wollte Katja nicht lange auf sich sitzen lassen. Sie grapschte zu mit einem Gesichtsausdruck, dass ich für alle Fälle schon mal die Luft anhielt. Doch sie verfuhr zurückhaltender, als ich befürchtete. Überwiegend zärtlich und zwischendurch ein bisschen grober, aber es blieb unterhalb der Schmerzgrenze.

Lange genug gepusselt, nahm sie mit Daumen und Zeigefinger Maß und stellte sachlich fest: „Ist ein Stück länger geworden.“

„Glaubst du vielleicht, nur bei dir wächst was?“

„Ne, aber scheinbar bei dir nur vertikal, du könntest durchaus etwas dickleibiger sein.“

„Ja, und du wesentlich dürrer.“

Katja lachte, legte einen Arm um meine Schulter, sah mir tief in die Augen und zog mich mit sich in die Liegestellung. Lächelnd nahm sie einen ihrer Zöpfe zur Hand, pinselte das Endstück über meine Brust, dann über den Bauch und letztendlich dort, wo es am schönsten kitzelte. Fühlte sich super an, und bekam plötzlich Lust auf … worauf eigentlich?

„Sag mal, Katja, hast du schon mal große Lust auf was gehabt, aber gar nicht so richtig gewusst, worauf?“, fragte ich überstürzt, und hätte mich sogleich dafür ohrfeigen können.

„Ne, so plemplem war ich noch nicht“, höhnte sie.

„Willst du damit sagen, dass ich es bin?“

„Nein, nein, das würde ich niemals wagen, nur manchmal bist du ziemlich begriffsstutzig.“

„Wann denn, zum Beispiel?“

„Jetzt.“

„Jetzt? Was sollte ich denn jetzt begreifen?“

„Das ich schon lange sehnsüchtig auf etwas warte.“

„Aha, und auf was genau?“

„Dass du mit mir schmusen willst.“

„Och nö, dafür ist es nun wirklich viel zu heiß.“

„Um Ausreden warst du noch nie verlegen.“

„Na gut, dann lass uns damit anfangen, wenn du das unbedingt brauchst.“

„Nun will ich aber nicht mehr.“

„Dann eben nicht … aber ich glaube, ich kann mir vorstellen, worauf ich riesige Lust habe.“

„Ich auch.“

„Woher willst du das denn wissen?“

„Weibliche Intuition, falls du weißt, was es bedeutet.“

„Du immer mit deinem blödsinnigen Fachchinesisch! Und was sagt dir deine weibliche Institution?“

„I n t u i t i o n!“

„Von mir aus … machst du es nun noch einmal oder nicht.“

„Nö, du hast mich auch noch nicht geküsst.“

„Du weißt nur nicht, was du noch einmal machen sollst.“

„Na gut, nicht wirklich.“

„Was du eben getan hast, bevor du nachgemessen hast … mit hohler Hand, als ob du einer Katze über den Schwanz streifst.“

„Und was soll daran gut sein?“

„Fühlt sich prima an.“

„Echt? Aber nur, wenn ich einen Kuss mit Zungenschlag bekomme. Hast du überhaupt schon mal mit Zungenschlag geküsst?“

„Na klar, was denkst du denn!“, trumpfte ich auf, obwohl ich null Ahnung hatte, was sie meinte.

Kaum brannten unsere Lippen aufeinander, da würgte sie ihre feuchte Zunge in meinen ausgetrockneten Rachen. Sofort bekam ich Brechreiz wie beim Arzt, wenn er mir einen Löffel in den Hals steckte, und musste mich abwenden. Katja wollte sich ausschütten vor Lachen. Dann erklärte sie mir lang und breit, wie man es richtig mache und auf welche Weise ich ihrer Zunge begegnen solle. Nun funktionierte es. Katja war zufrieden und wünschte sich einen zweiten Dauerbrenner. Ich tat ihr den Gefallen. Abermals Zunge an Zunge, kam Katja gleichzeitig meinem Wunsch nach. Sie fummelte, dass es eine wahre Freude war, und plötzlich breitete sich ein ungeheures Verlangen in mir aus, was meine Sinne lahmzulegen schien. Aber was war das, wonach war mir so intensiv? Einerseits wollte ich etwas Wahnsinniges erleben, doch paradoxerweise wusste ich wiederum nicht, was es sein sollte. Katja merkte, dass mit mir etwas nicht stimmte, zumal unversehens Eigenartiges geschah: Der „kleine Unterschied“ wuchs nicht nur um ein gutes Stück in die Länge, sondern war auch nicht mehr so schwabbelig wie normalerweise. Wie angeschwollen. Grundlos! Und noch absonderlicher, als sie erschrocken von mir abließ, genauso schnell wieder verkleinert und verweichlicht. Welche Augen sich ungläubiger weiteten und wer am dämlichsten aus der Wäsche schaute, ließ sich nicht einwandfrei feststellen.

Nach einer Weile der Ratlosigkeit probierte ich es mit derselben Methode, die Katja angewandt hatte, doch nichts dergleichen geschah. Enttäuscht testete ich den Wärmezustand meiner Stirn.

„Lass mich noch mal ran“, quakte Katja, als sei ich zu dusselig. Sie quirlte und knetete, als wolle sie Knetmasse erwärmen, um sie schön weich zu kriegen.

Warm wurde es auch, aber keineswegs weicher. Im Gegenteil. Abermals setzte besorgniserregendes Wachstum ein.

„Heiliger Strohsack, das gibt’s doch gar nicht!“, rief ich verstört aus, drängte ihre Hand beiseite.

„Hihihi“, kicherte Katja, „der schwillt an, als wenn man sich mit einem Hammer auf den Daumen haut, hahaha …“

Witzig fand ich das nicht. Neben im Nu geschwollen und diesmal sogar noch länger geworden als zuvor, kribbelte es irgendwo wie verrückt. Katja vermutete eine Ameise. Wir sahen in allen Hautfalten nach, konnten nichts dergleichen entdecken. Das Kribbeln verschwand und Katja wollte sich schieflachen.

„Hihi … schau mal, jetzt ist er wieder klein.“

Tatsächlich! Das schnallte ich überhaupt nicht mehr. Noch nie hatte sich irgendein Körperteil erst grundlos vergrößert und dann ebenso grundlos wieder verkleinert, und das auch noch in affenartiger Geschwindigkeit. Ich probierte es erneut, doch Pustekuchen.

„Das kann nur ich hinkriegen, hahaha …“, behauptete Katja lachend, legte nochmals Hand an, grinste süffisant und stellte wieder eine ihrer intellektuellen Fragen: „Weißt du eigentlich, wozu du Hoden hast?“

„Was für Hoden!?“

„Na, die hier, deine beiden Kügelchen, hihi …“, gackerte Katja, quetschte die empfindlichen Segmente, als müsse sie noch gesondert darauf aufmerksam machen, welche sie meinte.

„Au, nicht doch, das tut doch aasig weh!“

„Wieso tut das weh?“

„Das weiß ich doch nicht!“

Erstaunlich, wie schnell Katja ihre Mimik ändern konnte. Plötzlich wirkte sie besorgt und mutmaßte mitleidig, fast weinerlich: „Vielleicht bist du krank.“

„Das tut doch grundsätzlich weh, wenn man auf die … Hoden? Das habe ich ja noch nie gehört, hast du dir doch bloß wieder ausgedacht! Du willst mich wohl nur noch veräppeln.“

Sofort formte sich ihre Mitleidsmiene zu aufsässiger. Dass du auch immer gleich schlecht von mir denkst!“ Verständnislos schüttelte sie den Kopf, winkte ab, als wolle sie lieber schweigen, sagte aber noch überraschenderweise: „Damit du ganz auf dem Laufenden bist, deinen Beutel nennt man Hodensack.“

Ungeachtet dessen, dass ich mich noch nicht dazu geäußert hatte, nickte sie zustimmend, knautschte mein komplettes Anhängsel in beide Hände und hantierte damit, als gehöre es ihr.

Plötzlich spürte ich einen höllischen Schmerz. „Aua!“, quiekte ich, sprang auf wie gestochen. „Aua, aua, aua!“

„Was ist?“, fragte Katja bestürzt, blickte auch entsprechend.

„Da … da auf meinem Hintern, dort hat mich was gestochen“, winselte ich, griff an die schmerzende Region.

„Zeig mal her!“ Katja beäugte die betroffene Region und verkündete eine entsetzliche Tatsache: „Das war eine Imme!“

„Hilfe!“, schrie ich erschrocken auf, mir war nicht bekannt, ob ich etwaig allergisch reagiere.

„Halt still, ich muss den Stachel herausziehen!“

„Das tut aber weh! Brennt wie Feuer … aua!“

„So halt doch still, du oller Zappelphilipp!“

Katja bekam den Stachel zu fassen, saugte das Gift aus der Einstichstelle heraus und spuckte es aus.

„Danke, du hast mir vielleicht das Leben gerettet.“

Das Interesse am Doktorspiel war mir gründlich vergangen. Katja hielt mich für verpimpelt, wertete mein Verhalten als das eines schlappschwänzigen Städters und prognostizierte: „Du stirbst bestimmt noch mal an einem Mückenstich.“ Ich schämte mich, obwohl ich mein Panikverhalten für normal und daher auch für berechtigt hielt. Nie zuvor war ich von einer Biene oder Wespe geschweige einem noch größeren Stachelträger gestochen worden. Bis dato kannte ich nur Reaktionen auf Flohbisse und Blutentnahmen von Stechmücken: simpler Juckreiz und keine extremen Quaddeln wie sie stets bei Heidi auftraten. Fortwährend kratzte sie sich, manchmal unbeherrscht bis Blut floss, und wenn ich sie deswegen aufzog, dichtete sie mir zornig essigsaures Blut an. Durch ihre Adern floss selbstverständlich wertvolleres, nämlich zuckersüßes, und wenn ich es ihr gönnte, weil es Mücken anlocke, nannte sie mich mindestens „Hornochse“ und krönte sich, auf die unbekannte Herkunft meines Vaters gemünzt, zum Kinde von reinstem Geblüt. Derartig abwegige Parallelen tangierten mich nicht im Geringsten. Die Herkunft war mir gleichgültig, ein fruchtbringender Apfelbaum tausendmal lieber als ein historischer Stammbaum auf vergilbtes Pergament, doch auf Solidarität und Nächstenliebe bezogen, stimmte es mich unendlich traurig. Zu keinem Zeitpunkt meiner Kindheit konnte ich begreifen, wie es möglich war, dass ein Familienmitglied solcherlei Niederträchtigkeiten von sich gab.

Allmählich beruhigte ich mich. Nur noch ein leicht schmerzliches Brennen war übriggeblieben. Ich blickte auf Katja, die sich schlafend stellte. Beachtenswert, wie sie dalag, nackt und wunderschön. Wie Ausrufungszeichen sprangen mir ihre neuen Errungenschaften ins Auge. Während ich sie ausführlich betrachtete, war ich erneut darüber befremdet, dass sie gegen alles gefeit schien. Keinerlei Kinderkrankheiten, niemals stark erkältet, scherte sich um keinen Ungezieferbiss oder Insektenstich, hielt Hautkontakt mit Brennnessel förderlich für gute Durchblutung und am bewundernswertesten: keine Wahnsinnsangst vor Kreuzottern und Libellen. Aber ich, wobei ich Libellen, wenn auch manche sehr hübsch sind und wie Hubschrauber in der Luft verharren können, den weitaus größeren Respekt zollte. Sofort ging ich stiften, wenn unverwechselbares Surren nahte. Dabei stechen die überhaupt nicht, doch das wusste ich erst viel später.

Damit Katja nicht wirklich einschläft, rupfte ich heimlich einen breiten Grashalm aus der Wiese, klemmte den als Membrane zwischen beide Daumen, formte meine Hände zu einem Hohlkörper, hielt das „Indianerinstrument“ so nahe wie möglich an ihr freiliegendes Ohr und trompetete einen nervtötenden Dauerton. Keine Reaktion! Wieso nicht? „Bist du taub?!!“, brüllte ich griesgrämig, nachdem einige Sekunden vergangen waren, und fühlte mich aufs Kreuz gelegt. Offenbar hatte sie mich hindurch Wimpern von nicht gänzlich geschlossenen Augenlidern beobachtet und sich auf das tönende Geräusch eingestellt. Katja klappte die Lider auf, grinste, wie ich es auf den Tod nicht leiden konnte, und spöttelte: „Angeschmiert mit Butter lackiert!“ Ich hätte entgleisen können. Aber ich hielt mich im Zaum und forderte Katja zu Mutter und Kind heraus. Sie wollte lieber Verstecken spielen. Uneins sollte das Los entscheiden. Wie fast immer zog ich den kürzeren Holzstängel und diesmal auch noch zu meinem Leidwesen – Mutter und Kind wäre lange nicht so anstrengend gewesen! Zudem liebte ich es, die Mutterrolle zu mimen und Katja nach Belieben kommandieren zu dürfen. Meistens kuschte sie auch und befolgte meine Anordnungen. Bevor wir uns ankleideten, erfrischten wir uns noch einmal ausgiebig am Bach. Auf dem Bauch liegend schlürften wir das köstliche Naturell, wie wir es am liebsten taten, ohne Zuhilfenahme unserer Hände. In einer peripheren Stromschnelle kühlte ich schnell noch meinen leicht sonnenverbrannten Hintern, indessen Katja aus unerfindlichen Gründen und offensichtlich mit Wonne ihre Novitäten bewässerte. Kurzentschlossen wetteten wir noch, wer eher und länger pinkeln könnte, stritten um Katjas hauchdünnen Doppelsieg und einigten uns auf ein versöhnliches Patt. Danach ließen wir uns noch eine Weile von der Sonne trocknen und stiegen dann pflichtbewusst in unsere Klamotten.

Beim Auslosen, wer sich zuerst verstecken durfte, hielt meine Pechsträhne an. Mit zugehaltenen Augen musste ich an unserem Baum bis hundert zählen und dann Katja innerhalb von fünfzehn Minuten auffinden. Das Dumme dabei war: Katja besaß eine Armbanduhr und ich konnte mich nur auf mein Zeitgefühl verlassen. Derweil ich Zahlen vor mich hin murmelte, ging mir wie bereits öfter vermutet nebenbei durch den Kopf: Irgendwie bescheißt sie beim Auslosen! Auch mit angeblich längst abgelaufener Uhrzeit, wenn ich Katja nach meinem Dafürhalten rechtzeitig aufgespürt hatte. Zum Ausgleich schummelte ich einfach um zwanzig Zähler und ging bereits bei achtzig auf die schweißtreibende Suche.

Ich kannte ihre ganzen Verstecke, doch wo ich auch hin hetzte, Katja blieb unauffindbar. Erneut schwitzte ich aus allen Poren. Die stickige Luft im Speicher, heiß wie im Backofen darin, hatte mir den Rest gegeben. Meine euphorische Anfangszuversicht sank auf Minimum. Kopfschmerzen bahnten sich an. An der Viehtränke blieb ich stehen und überlegte nicht lange, hielt die Luft an, kniff Lippen und Augen zusammen und tauchte meinen Brummschädel in die warme Brühe. Abkühlung hatte es keine gebracht. Wie ein begossener Pudel stand ich nun mit triefenden Haaren und einem ekelhaften Igittigittgeschmack auf den Lippen da, und wusste nicht mehr, wo ich noch suchen sollte.

Mein Blick fiel auf das Wohnhaus. Der Backsteinklinker schien zu glühen, ausgeblichenes Reetdach wie zu Staub zerfallen und die Fensterscheiben blinkten wie polierte Schwarzspiegel. Hatte Katja sich etwa regelwidrig im Keller verkrochen? Die im Schatten liegende Treppe wirkte finster, seltsam bedrohlich, wie wegweisend in etwas Furchtbares. Ich kalkulierte, sie habe es gewagt, gelegentlich pflegte sie sich über manches Unerlaubte hinwegzusetzen, und entschloss mich, schon in Zeitnot geraten, das Vabanquespiel einzugehen. Welches Strafmaß mich erwarte, falls ich erwischt werde, war mir eigentlich nicht bekannt, denn der Fall der Fälle war noch nie vorgekommen. Weshalb in den Kellerräumen nicht gespielt werden durfte und ohne Erwachsenenbegleitung sogar Betreten untersagt war, besonders strikt die Waschküche, das war selbst Katja nicht vertraut.

Schon auf den letzten Stufen der Kellertreppe umgab mich Eiseskälte, und durch die stabile Bohlentür in kalkweißes Gemäuer getreten, glich dem Einstieg in eine Gefriertruhe. Es war ein erbaulicher Kälteschock, der meinen zermarterten Denkkasten wieder auf Vordermann brachte. Nur um den Einstich schmerzte es mehr als draußen empfunden, aber darum scherte ich mich nicht. Der Gedanke an die Gewinnprämie war übermächtig, ließ Schmerz und Eventualitäten vergessen. Vorsicht aber nicht. Wieso es nicht wie erwartet zappenduster war, darüber machte ich mir ebenfalls keine Gedanken, denn eine Art von Notbeleuchtung musste Katja eingeschaltet haben. Auf leisen Sohlen stahl ich mich zunächst zur Vorratskammer, wäre beinah auf eine Mausefalle getreten, und als ich den Abstellraum für Gerümpel durchforschte, stieß ich mit dem Musikknochen an eine kantige Drahtkommode und hörte für einen Moment die Engel singen. Lustlos tapste ich noch über Koks und Brennholz und warf noch einen kurzen Blick in den Fahrradraum. Nur noch in der Waschküche konnte sie sich hinterhältiger Weise befinden, vermutlich hinter oder sogar unter den schmutzigen Wäschebergen. Wie zur Bestätigung meines Verdachts drang aus dem Türspalt ein Geräusch. Ein Scharren und gleich darauf ein … was war das? Kann nicht sein, glaubte ich, und verdrängte die Realität. Obwohl mir instinktiv nichts Gutes schwante, legte ich eine Hand auf die abgegriffene Türklinke, und mit dem Gedanken, ich habe eine halbe Stunde Liebkosen gewonnen, zog ich die Tür ganz leise langsam auf und wollte Katja mit einem lauten „Buh“ erschrecken. Wer sich erschrak, war ich, und mir stockte der Atem!

Mit vor Entsetzen geweiteten Augen blieb ich wie angewurzelt im Türrahmen stehen, sah ein blitzendes Beil herunterfahren, nicht wie üblicherweise von Männerhand geführt, wenn Brennholz gehackt wurde, und Omi hielt auch kein Holzscheit fest.

„Plopp!“, schallte es dumpf, als die Schärfe den dünnen Hals einer wild zappelnden Henne durchschlug und tief im Hartholzblock stecken blieb. Der enthauptete Kopf purzelte auf den mausgrauen und mit bräunlichen Flecken übersäten Steinfußboden, der Überrest wurde einfach hinterhergeworfen.

Fassungslos starrte ich auf das, was weiterhin geschah. Ein Zucken ging durch das weiße Federwerk, das nur für einen Wimpernschlag still liegengeblieben war, stellte sich kopflos auf die Beine, aus dem Halsstumpf sprudelte eine Blutfontäne, und flatterte direkt auf mich zu. Schock!

Kreischend nahm ich meine Beine in die Hand und lief wie von Sinnen aus dem Haus, hetzte über den Hofplatz und verkürzte die Wegstrecke rücksichtslos mitten durch eine Schar anderer Todgeweihte, die gackernd auseinanderstoben, keuchte an Ställen vorbei im Stolperschritt über die Wiese, nichts wie hin zu unserem Baum.

Niedergeschlagen warf ich auf den Bauch und heulte Rotz und Wasser. Vor lauter Verzweiflung bis ich in den Klee, spürte bitteren Saft auf der Zunge. Grimmig klopfte ich mit geballten Fäusten einige Butterblumen platt, killte einen unschuldigen Marienkäfer, als könne der was für meinen Zustand, und hörte jemand angelaufen kommen.

„Was ist los mit dir?“, fragte Katja angstverzerrt, schnaufte wie eine Dampflok, und dann mitleidig: „Tut dir der Stich jetzt etwa so furchtbar weh?“

Dümmer kann sie anscheinend nicht fragen, zürnte durch mein entnervtes Hirn, und unkontrollierte Stimmbänder krähten feindselig: „Deinen bedauernden Tonfall kannst du dir sparen, den kannst dir sonst wohin stecken!“

Katja begriff, dass ich mich in denkbar schlechtester Seelenverfassung befand, rüttelte an meinen zuckenden Schultern, schaute mich forschend an und bat weinerlich: „Sag mir doch bitte, was du hast, ob dir etwas wehtut.“

„Lass mich doch in Ruhe, du blöde Gans! Du bist genauso verlogen und unehrlich wie deine bescheuerten Eltern!“

Das hätte ich nicht sagen dürfen, es war nicht wahr und nicht so gemeint. Wortlos machte sich Katja von dannen. Für den Moment war es mir scheißegal. Wo sie sich im Endeffekt versteckt gehalten hatte, interessierte mich auch nicht mehr. Mir war schlecht wie nie zuvor, kotzelend zumute. Zu keiner Zeit konnte ich mir vorstellen, dass meine liebe Omi derart kaltblütig ein Tier töten könne.

*

Tags darauf, pünktlich zur Mittagszeit, man konnte die Uhr danach stellen, saßen alle am großen Esstisch. Katja würdigte mich keines Blickes. Seit dem Vorfall hatte sie es verstanden, meine Nähe zu meiden. Wie eine Puppe hockte sie auf ihrem Stuhl, kerzengerade und unbewegt, die Hände im Schoß, machte ein Gesicht, als könne sie kein Wässerchen trüben.

Auf einem blütenweißen Tischtuch, zwischen Tafelsilber, tiefen Tellern und Wassergläser mit Zitronenlimonade drin, dampfte eine geräumige Suppenterrine. Hühnersuppe! Elende Hühnersuppe!

Oma füllte jedem einen Teller auf, zwei randvolle Portionen aus einer Schöpfkelle, gestreng nach Rangordnung: Opa natürlich zuerst, ich war als Vorletzter dran und Katja zuletzt.

Mein Onkel sprach ein Tischgebet, ausgerechnet auch noch das überlange, wünschte irgendwem einen guten Appetit und griff zum Löffel. Alle griffen zu ihren Löffeln. Nur ich nicht.

Wie hypnotisiert stierte ich auf das ehemalige Leibgericht. Der Inhalt des Tellers schien sich blutrot zu färben und darin enthaltene Fleischstücke hin und her zu zappeln. Ich kniff die Augen zusammen, schaute argwöhnisch durch flimmernde Wimpern. Nun schwammen starre Hühneraugen im Kreis und aus dem Sud tauchte eine gelbe Kralle, die wie der Arm eines Ertrinkenden nach Halt suchte. Mir drehte sich der Magen um. Angeekelt musste ich mich schütteln. Hilfesuchend sah ich auf Katja, suchte verzweifelt ihren Blick, doch dem Anschein nach galt ihr Interesse einzig und allein der Suppe. Nur gut, dass ich mich bereits am Vortag ausgeweint hatte, ein Bild des Jammerns wollte ich nicht abgeben.

„De Heunersupp smeckt gaut hüt“, lobte mein Onkel, ohne aufzublicken, verrührte schillernde Fettaugen und schlürfte einen Löffel heiße Bouillon in sein zynisches Maul.

„Jau, an düsse Henn wor bannig wat dran“, wusste Opa, und schlürfte genauso unästhetisch.

Warum darf ich eigentlich nicht schlürfen, fragte ich mich, hatte mir die Zunge doch oft genug an heißer Suppe verbrüht.

„Nun iss aber mal, Junge, sonst wird noch alles kalt“, mahnte Mutter, löffelte ein großes Fleischstück zwischen ihre Zähne und zermalmte es.

„Ich … ich mag nicht … mag nichts essen“, stammelte ich, sah das kopflose Huhn auf mich zulaufen.

Mutter blickte verständnislos. „Aber wieso denn nicht? Hühnersuppe hast du doch sonst so gern gegessen.“

Oma mischte sich ein. Sie wusste genau, warum ich nichts aß, erzählte, was ich zu Gesicht bekommen habe, und noch mit einem fürsorglichen Blick auf mich, dass sie gut verstehen könne, warum mir der Appetit vergangen sei. Vor Selbstmitleid hätte ich wieder flennen können, hielt mich aber wacker zurück.

„Ach, der soll sich doch nicht so anstellen“, hetzte meine Tante. „Da gibt es doch wohl viel Schlimmeres.“

Ja, dich, du altes Aas! Um ein Haar hätte ich es ausgeplappert, kniff aber die Lippen aufeinander und wünschte den Drachen bis in alle Ewigkeit zum Höllenfürsten ins Fegefeuer.

Katja meldete sich zu Wort: „Lasst ihn doch, wenn er nicht will, er wird schon noch Hunger kriegen und dann was essen.“

Ich warf ihr einen dankbaren Blick zu, hoffte, sie habe mir verziehen und würde nun weiterhin Notiz von mir nehmen. Doch sie blieb verschlüsselt. Nur kurz schaute sie mich noch einmal an, wie eine eingebildete Gymnasiastin entwürdigend von oben herab, und genoss weiterhin die Suppe, als handele es sich dabei um Vanilleeis mit Schlagsahne und Borkenschokolade.

Opa erinnerte sich an seine Kindheit: „Wenn ick an freuer denk, dor häppt wi schon as Kinners de Heuners de Kopp mit de Hands afdreiht.“ Gesagt, wischte er herausgelaufenen Schnodder mit zwei Fingern vom Oberlippenbart, streifte Glibber an seiner aufgetragenen Cordhose ab, löffelte nach einem Fleischstück, das er schmatzend mit offenem Mund zerkaute.

Verdattert stierte ich zu ihm hinüber, konnte nicht glauben, dass ein Kind zu einer solchen grobschlächtigen Verfahrensweise überhaupt fähig sei, und wartete unwillkürlich darauf, dass ihm ungefähr dasselbe passierte wie letztes Jahr, als ihm nach einem unvorsichtigen Biss in ein Stück Rinderbraten die ewig locker sitzende Vollprothese herausfiel und mittenmang Rotkohl und Soße auf den Teller platschte. Doch nichts dergleichen geschah, und auch nichts anderes mehr, was der Rede wert war.

Keinen Löffel hatte ich gegessen von der Mördersuppe. Den ganzen Nachmittag knurrte mir der Magen. Mit unausgereiftem Obst musste ich mich bescheiden. Eine Handvoll Pflaumen, ein paar Glaskirschen und einen noch giftgrünen Apfel hatte ich gepflückt und vertilgt. Demzufolge war Durchmarsch vorprogrammiert und preschte wenig später alle Viertelstunde mit höchstem Drangsal zum Plumpsklo – ein Holzhäuschen mit einem kreisrunden Guckloch in der Tür, fast sinnvoll neben dem Schweinestall aufgestellt. Dank Geizkragen Tante stand nach wie vor kein ordentliches Toilettenpapier zur Verfügung. Bloß mit Zeitungspapier konnte man sich den Hintern abwischen. Katja hatte mir zwar mal eine Finesse gezeigt, wie das glatte und deshalb nicht saugfähige Papier stumpfer wird – knittern und zwischen den Fingerknöcheln hin und her reiben, doch bei Dünnschiss war jegliches Bemühen um verbesserte Zweckmäßigkeit ein glatter Hohn.

Nach der dritten Sitzung beruhigte sich mein Darmtrakt. Auch das typische Stechen im Unterleib verschwand allmählich. Anomal flau war mir weiterhin. Wie ein ausgewrungener Waschlappen fühlte ich mich. Zudem empfand ich mich als vereinsamt, missverstanden und vernachlässigt. Mutter hatte sich unbekümmert schlafen gelegt, ihr war gleichgültig, ob ich nun hungere oder nicht, und Katja machte sich weiterhin rar. Das tat sie immer, wenn ich sie gekränkt hatte und sie schwer beleidigt war. Erst musste ich mir einen Zacken aus der Krone brechen, mich mehrfach entschuldigen und ihre Vorzüge in den Himmel heben, bevor sie wieder ein Wort mit mir wechselte. Wiederum spielte sie die Taubstumme, obwohl ich sie zweimal angesprochen hatte, zwar belanglos, aber immerhin, und so konnte ich mir schon bildlich ausmalen, was ich ihr alles versprechen müsse oder welche Stegreifdarbietung ich für sie aufführen solle, damit sie mir, aber dann auch wirklich das letzte Mal, noch einmal verzeihe.

Mit niemandem reden zu können, wenn man mir übel mitgespielt hatte, das konnte ich am schlechtesten verkraften. Selbstgespräche führte ich, wenn mir die Decke auf den Kopf fiel, und klagte dann irgendeinem geliebten Gegenstand mein Leid. Traurig und vereinsamt, wie ich mich fühlte, musste wieder unser Baum herhalten.

„Kein Aas kümmert sich um mich, huhu … niemand fragt, wie es mir geht, huhu … keiner hat mich richtig lieb, huhu … keine Menschenseele ahnt, wie gern ich wenigstens ab und zu von Vater in den Arm genommen werden würde, huhu … Mutter nimmt mich doch immer nur aus denselben Gründen in den Arm, huhu … kein einziger fühlt, wie oft ich darunter leide, huhuu … was sagst duhuhuu, lieber Baum … dazu huhuhu?“

„Wie lang willst du eigentlich noch auf Jammerlappen machen! Und wann gedenkst du, meinen Gewinnanspruch einzulösen?“

Vor Schreck vergaß ich, weiter zu plärren.

Aber wie kann ich denn zärtlich zu dir sein, du sprichst ja nicht mehr mit mir.“

„Habe ich dir eben etwa einen Brief geschrieben oder hörst du vielleicht meine Großmutter reden?“

„Du bist ja …“, schluchzte ich, wollte ihr schon wieder was an den Kopf werfen, fing mich und protestierte: „Ich habe überhaupt nicht verloren!“

„Ach, ich vielleicht?“

„Ich hätte dich doch gehabt“, behauptete ich, „wenn Oma nicht …“ Ich vermochte den Satz nicht zu beenden.

„Du spinnst, ich war ganz woanders!“

„Wo denn?“

„Verrate ich dir nicht, dort findest du mich nie!“

„Will ich auch gar nicht wissen … und wenn wir teilen?“

„Was.“

„Was wohl! Jeder eine Viertelstunde natürlich.“

„Hm … könnten wir machen … aber du beginnst.“

„Warum denn ich? Fang du doch an.“

„Dann beginnen wir gemeinsam.“

„Wie soll das denn funktionieren?“

„Das wirst du dann schon sehen, zieh dich erst mal aus.“

„Ganz?“

„Kannst du halten wie ’n Dachdecker.“

„Dann behalt ich meine Hose lieber an, sonst …“

„Sonst was!?“

„Sonst passiert nachher wieder was! Du kannst dir doch vorstellen, dass ich keinen Tropfen Lust mehr dazu habe.“

Katja grinste, machte sich eilfertig den Oberkörper frei, bettete sich ins Kleepolster und verharrte. Fast willenlos packte ich mich daneben, wollte alles Weitere ihr überlassen und wartete auf ein Manöver. Doch sie blickte nur demonstrativ auf ihre Armbanduhr, sagte die punktgenaue Uhrzeit an, fragte überflüssigerweise, ob es mir auch wirklich recht sei, mutmaßte, es sei mir natürlich recht und werde mich auch auf andere Gedanken bringen, verwies noch auf die vorgerückte Stunde und wir uns deshalb beeilen müssen.

Obgleich ich sie ansah, als habe sie nicht mehr alle Tassen im Schrank, drehte sie erst mich in rechte und dann sich in linke Seitenlage, damit wir uns in die Augen sehen konnten. Danach rückte mir auf die Pelle, bis kein Grashalm mehr zwischen uns passte, umwickelte mich noch mit beiden Beinen, kraulte meinen Rücken und forderte desgleichen von mir.

Ungewohnt war das, aber innerhalb kürzester Zeit viel schöner als sonst. Eigentlich lag der Gewinner sonst auf dem Bauch und der Verlierer saß auf dessen Gesäß und kraulte beidhändig, oder kratzte dort, wo es dem Anderen beliebte. Und wenn die vereinbarte Zeit abgelaufen war, gab es als krönenden Abschluss, sozusagen wie der Schlussböller eines Großfeuerwerks, einen kräftigen Klaps auf den Po.

Wie lange wir körperliche Seelsorge miteinander betrieben haben, blieb vorerst im Verborgenen. Mittendrin waren wir eingeschlafen, scheinbar gleichzeitig ins Traumland gewechselt, und wurden aufgescheucht durch lautes Rufen, das sich schnell näherte.

Erschrocken fuhren wir auseinander. So, wie wir dalagen, nackt und eng umschlungen, durfte uns kein Mensch entdecken. Katjas erschrockener Blick auf die Uhrzeit besagte: Abendbrotzeit verträumt! Soeben geschafft, die letzten Knöpfe zu schließen, tauchte schon eine Gewitterwolke in Menschengestalt auf – meine Tante!

„Wollt ihr heute nichts mehr essen?“, fragte sie, noch einigermaßen normal aus zehn Meter Entfernung, und dann schrittweise in zunehmender Schärfe an Katja gewandt: „Ihr habt wohl Bohnen in den Ohren! Muss ich euch erst lange suchen gehen? Wozu habe ich dir eigentlich eine teure Uhr gekauft! Wisst ihr nicht, dass euer Opa Unpünktlichkeit auf den Tod nicht leiden kann? Ihr seid ja völlig verschwitzt! Habt ihr wieder gerangelt, euch um nichts und wieder nichts gestritten? Ihr sollt euch vertragen! Habe ich nicht immer gesagt, dass ihr euch vertragen sollt? Wie oft soll ich mir deswegen noch den Mund fusselig reden! Habt ihr überhaupt keinen Sinn für …“ Der Frageschwall erstickte in einem Hustenanfall.

Wenigstens eine Frage wollte ich beantworten, schließlich hatten wir nicht gerangelt oder gestritten, doch Katja knuffte schnell einen Ellenbogen in meine Rippen.

Keuchend setzte meine Tante die Brille ab, rieb bereits ziemlich gerötete Glupschaugen mit Fingerknöcheln, und gab uns fünf Minuten Zeit, um mit gewaschenen Händen und gekämmt am Tisch zu sitzen. Zur Überwachung ließ uns vorausgehen – besser gesagt: Sie trieb uns vor sich her, wie sie sonst Gänse vor sich hertrieb.

„So viel ununterbrochene Fragerei habe ich überhaupt noch nie gehört“, raunte ich, als wir genügend Abstand gewonnen hatten, und Katja munkelte: „Sie wollte doch sowieso keine davon beantwortet haben.“

Meine Gier nach fester Nahrung glich der Fresslust eines ausgehungerten Wolfs. Zwei Schnitten Vollkornbrot mit Bierschinken und Landleberwurst und eine dicke Scheibe Graubrot mit Streichmettwurst hatte ich bereits aufgefuttert, dazu noch eingelegte Gurkenscheiben schnabuliert und ein ganzes Glas frische Milch ausgetrunken, da verdarb Mutter mir weiteren Appetit.

„Übrigens gehen wir heute Abend alle zum Heidefest“, kündigte sie an, meinte, ohne uns Kinder, und aufgrund meines offenstehenden Mundes: „Damit du keine Angst zu haben brauchst, Harry, darfst du ausnahmsweise bei Katja schlafen.“

Katja machte Kulleraugen und ich blickte wohl auch nicht anders drein. Mutter ahnte, warum. „Selbstverständlich schläfst du in einem Bett, das nachher noch in ihr Zimmer hineingestellt wird.“

Verwirrt sah ich auf Katja, weil sie seltsame Faxen machte, und dachte mir meinen Teil.

*

Gegen einundzwanzig Uhr lagen wir in den Kojen. Katja auf ihrem Stammplatz an der Fensterwand, ich genau gegenüber und dazwischen drei Schritte gähnende Leere. Ausgerechnet in dieser Nacht sollte ich ein von Oma ausgeliehenes Nachthemd tragen – Mutter hatte vergessen, meinen Pyjama einzupacken, und das glich mehr einem Leichenhemd. Komplexe bekam ich darin. Lang bis an die Fußknöchel, total vergilbt, mindestens ein halbes Jahrhundert im Gebrauch, teils nur halbe Leinenknöpfe, mit Wäschestärke geplättet und von einem Geruch, der Motten tötet. Katjas Hemdchen dagegen: Wie aus dem Märchenbuch, himmelblau mit gelben Stickereien, keine Knöpfe und ärmellos, augenscheinlich auch nicht gestärkt, eher seidenglatt, und es reichte nur bis an die Kniekehlen.

Mutter kam noch einmal herein. Diesmal in ihrem Ballkleid und auffallend parfümiert. Sie wünschte eine gute Nacht und drückte mir noch einen flüchtigen Abschiedskuss auf die Stirn. An der Tür drehte sie sich noch einmal um und predigte mit erhobenem Zeigefinger: „Und dass ihr mir keine Dummheiten macht.“

„Ne, was denn für Dummheiten“, nuschelte ich, über die bis ans Kinn gezogene Bettdecke hinweg, und überlegte dabei, warum sie eigentlich in Plural sprach, wo sie doch nur mich dabei angesehen und angesprochen hatte.

„Ich werde auf ihn aufpassen“, versprach Katja das Blaue vom Himmel, machte ein gewichtiges Gesicht und log noch hinzu, dass sich die Balken bogen: „Harry ist sowieso hundemüde, schon den ganzen Tag über hatte er zu nichts Lust, und schläft ganz bestimmt schon bald wie ein Murmeltier.“

„Na, dann ist es ja gut“, sagte Mutter, mit einem erneuten Blick auf mich, als sei schlafen für mich am besten, und wieder an Katja gewandt: „Ansonsten könnt ihr ja auch noch ein wenig lesen oder euch erzählen, was ihr in der Schule …“

„Marthaaa! Wir wollen looohoos!“, krakelte meine Tante, unten aus der Diele, drängelte zum Abmarsch.

„Wir sind auch bald wieder da“, versicherte Mutter, als müsse sie was beschwichtigen, und verflüchtigte sich.

Angespannt lauschten wir, hörten sieben Autotüren zuklappen, obwohl der fabrikneue Opel Kapitän meines Onkels nur vier Türen aufwies, und als die schwere Limousine endlich über den Kiesweg knirschte und Sekunden später den Hof verließ, reagierten wir wie von allem Übel befreit.

„Hihi, jetzt können wir stundenlang treiben, was wir wollen“, kicherte Katja, federte freudig erregt mit ihrem Po auf der Matratze und schmiss mir ihr Kopfkissen an den Kopf. Ich warf es auf der Stelle zurück und meins gleich hinterher.

Nach einer hitzigen Kissenschlacht alberten wir noch eine Weile, rangelten dabei um aufgeknüpfte Zöpfe, wie ich ihre Haare gerne haben wollte, aber nicht schaffte, wobei wir beide Federn ließen – einige Haarbüschel. Langsam zur Ruhe gekommen, erzählten wir uns noch unsere neusten Erlebnisse und was wir in der Schule dazugelernt hatten. Zweifelsohne wusste Katja alles Mögliche besser. Das hing meiner Meinung nach nur mit unserem Altersunterschied zusammen. Doch Katja versuchte, mir einzureden, es läge an ihrer Begabung und einer außergewöhnlich schnellen Auffassungsgabe. Im Grunde wollte sie mich als minderbemittelt hinstellen, wie sie es manchmal gerne tat, aber nicht böse gemeint, und weil ich weder das Eine noch das Andere wahrhaben wollte, prüfte ich gleich ihr Wissen in meinen Lieblingsfächern. Über das Ergebnis konnte ich nur müde lachen. Keine babyleichte Prozentaufgabe konnte sie im Grips lösen, und in welchem Ozean die Insel Neuguinea liegt, konnte sie nur raten und tippte um einen ganzen Kontinent daneben. Anstatt sich in Grund und Boden zu schämen, revanchierte sie sich sofort. Geschichtsdaten, die kein normaler Mensch im Kopf behält, verlangte sie mir ab, und danach kam sie mir auch noch mit grammatischen Feinheiten und engstirnigen Kuriositäten.

Allmählich wurde es dunkel und ich wurde wirklich hundemüde. Es war ein anstrengender Tag, an dem es wie schon am Vortag einiges zu verarbeiten galt. Katja knipste die kleine Nachttischlampe an, die einen warmen Lichtschein über ihr Bett warf, und begann in einem dicken Wälzer zu lesen. Alle paar Sekunden blätterte sie eine Seite um. Komisch, eigentlich viel zu schnell, um den Text gewissenhaft zu lesen und verständlich in sich aufzunehmen. Indessen mein Atem kontinuierlich verflachte, wurde ihrer zunehmend schwerer. Es müsste sich um eine mächtig aufregende Geschichte handeln, dachte ich noch mit annähernd letzter Sinneskraft und ob mir vielleicht doch irgendeine Krankheit in den Knochen stecke.

„Schläfst du schon?“, erkundigte sich Katja gedämpft, mitten in angefangenem Halbschlaf hinein.

„Hmm … jaaa … gleich“, murrte ich muffelig, uninteressiert am Fragegrund, und fragte dennoch routinemäßig zurück, warum sie es denn wissen wolle.

„Och, nur so.“

„Quälgeist“, murmelte ich ins Kopfkissen.

„Hast du was gesagt?“

„Nö, nur laut gedacht“, hauchte ich, in eine Lücke eines ausgedehnten Gähnens gequetscht.

„Krieg man keine Maulsperre!“

„Lass mich jetzt schlafen!“, moserte ich gallig, drehte ihr den Rücken zu, hoffte auf Ruhe.

„Na gut, dann verpenn doch dein halbes Leben.“

Was sollte das nun wieder bedeuten? Ich überlegte, kürzer als gewohnt, und sagte mir: ich werde doch wohl noch acht Stunden schlafen dürfen! Nichts mehr hören und sehen wollte ich, zog mir das schwere, für diese Jahreszeit viel zu warme Federbett über den Kopf. Das Umblättern war trotzdem noch zu vernehmen. Was ist das für ein Buch? Ich werde sie morgenfrüh fragen, nahm ich mir vor, stopfte meine Hände zwischen die Oberschenkel, gähnte, dass es im Kiefer knackte, und mühte mich ums Einschlafen.

„Glaubst du eigentlich immer noch an den Klapperstorch?“

Was war das nun für eine dämliche Frage? Eigentlich wollte ich gar nicht darauf antworten, entschloss mich aber zu einem klarstellenden Wort: „Neee!“

„Und woran glaubst du jetzt?“

Ich riss die Augen auf, wurde sofort hellhörig und putzmunter. Da war etwas in ihrer Stimme, eine gewisse Vibration, ähnlich, als sie fragte, ob sie mir noch was Neues zeigen solle.

„Ich merk schon, von Tuten und Blasen noch immer keine Ahnung!“

„Also Katja, stell mich doch nicht immer hin, als wäre ich ganz blöd! Ich weiß doch schon lange, dass Babys aus dem Bauch einer Mutter kommen.“

„Ach ja? Und wie kommen sie da hinein?“

„Warum fragst du, das weißt du doch genauso gut wie ich, durch ein Geschenk Gottes.“

„Das stimmt ja gar nicht!“, triumphierte Katja.

„Wie, das stimmt nicht, natürlich stimmt das, das weiß ich doch ganz genau!“

„Du weißt eben nur, dass sie aus dem Bauch kommen, mehr aber auch nicht!“

Das wurde ja immer schöner. Erst kommen sie nicht vom Klapperstorch und dann sollen sie kein Geschenk Gottes sein! Was soll dieses ganze Theater eigentlich bedeuten, diese dauernde Geheimniskrämerei ums Kinderkriegen, als wenn es etwas ganz Außergewöhnliches sei. Katja unterbrach mein Schweigen.

„Soll ich es erklären, dir die ganze Wahrheit verraten?“

„Aber wehe, wenn du mich nur wieder verarscht!“

„Soll ich dich nun restlos aufklären oder nicht.“

„Wenn es dir Spaß bringt …“

„Dann komm ich zu dir ins Bett“, bestimmte Katja hastig, turnte wieselflink aus ihrem Bett und schlüpfte unter meine Decke.

Sie kuschelte sich an meinen Rücken, schlang einen Arm um meine Taille, legte die dazugehörige Hand auf meinem Bauch und rückte hektisch ihren warmen Schoß an mein Gesäß. Unangenehm war das nicht. Aber kalte Füße hatte sie. Und sie blieb stumm wie ein Fisch. Weshalb sagte sie nichts mehr? Ausnahmsweise wurde ich ungeduldig.

„Willst du mir nun was beibringen oder meinen Schlaf rauben.“

„Ja, ich bringe dir gleich was bei …“, flüsterte sie vertröstend, presste ihren Schoß noch fester gegen meine Pobacken und fragte übersprudelnd: „Willst du mich mal richtig anfassen?“

„Wo denn?“, fragte ich scheinheilig, stellte mich dumm.

„Das weißt du genau“, hauchte sie, boxte in meine Rippen.

„Ne, weiß ich nicht genau, neuerdings gibt es doch zwei Möglichkeiten … was meinst du überhaupt mit richtig?“

„Wenn du sie … das wirst du dann schon merken, nun fummle endlich an meiner Muschi.“

„Muschi? Was hast du dir nun ausgedacht, warum nennst du deine Ritze plötzlich Muschi? “

Passend schnurrte Katja wie eine Katze, schmuste eine Wange gegen meinen Hinterkopf und knabberte an meinem freiliegenden Ohrläppchen, blies aus den Nasenlöchern verbrauchten Sauerstoff in meine Ohrmuschel und wisperte: „Muschi klingt verheißungsvoller, das sagen übrigens alle Mädchen in meinem Alter.“

„Soso, dann habe ich wohl einen Wauwi, hahaha … deswegen brauchst du noch lange nicht mein Ohr aufzufressen und in mein Trommelfell … igitt, lass das sein … nicht am Hals schlabbern, hör auf damit …“

Sie freute sich diebisch über meine Gänsehaut und gebot Stillschweigen, indem sie meine Lippen mit einem Zeigefinger versiegelte. Mir schwante augenblicklich, sie habe wieder etwas völlig Neues im Sinn. Das bestätigte sich umgehend. Im Nu war ich auf den Rücken gedreht; die Zudecke auf den Fußboden gefegt; ihr Nachthemd bis zum Bauchnabel gerafft; meine nicht nennenswert sträubende rechte Hand gepackt und ohne Federlesens dort platziert, wohin Katja sie unbedingt haben wollte.

Bruthitze analysierte ich, dass ich mich fragte, ob sie fieberte. Nein, dann müsste sie am ganzen Leibe schwitzen. Und weshalb wurde es da so feucht? Vermutlich musste sie dringend pinkeln. Aber weshalb hielt sie es denn an? Unter ihrem Bett stand doch ein Nachttopf.

Ich tat, als wolle ich, wie dessen überdrüssig, das Rumfummeln beenden, und erinnerte an die in Vergessenheit geratene Aufklärung: „Wolltest du mir nicht ursprünglich etwas erklären?“

„Ja doch, warte ab, es ist nicht so einfach für mich, du sollst es nicht in den falschen Hals kriegen“, redete sie geschwollen daher, schmunzelte dergestalt, dass mir augenblicklich schwante, sie habe etwas völlig Verrücktes im Sinn, entledigte sich ihres Nachthemds, pfefferte es auf ihr Bett und machte ein nachdenkliches Gesicht.

„Du kannst mir nur deshalb nichts erklären, weil es wahrscheinlich überhaupt nichts zu erklären gibt“, höhnte ich, und nahm meine Griffel von ihr.

„Gibt es wohl!“, widersprach sie energisch.

„Na, dann bin ich aber mal gespannt wie ein Flitzebogen“, heuchelte ich maßlos übertrieben, und richtete mein Augenmerk kurz woanders hin – auf eine ausgewachsene Kreuzspinne, die sich von der Deckenlampe abseilte.

„Dann hör zu, hör mir gut zu, du musst wirklich gut zuhören“, plapperte sie. „Hörst du auch zu?“

„Ja doch!“, bestätigte ich ungehalten.

„Aber du darfst es nicht weitererzählen, auch nicht deiner Ingrid und anderen Jungs“, raunte sie, als wären wir nicht mehr unter uns, und vergewisserte sich – als ob Großstädterohren schlechter hören: „Hast du gehört?“

„Jaaa!“

„Versprichst du es?“ Sie blickte mir prüfend in die Augen.

„Ist versprochen, großes Indianerehrenwort.“

„Du musst es noch schwören.“

„Ja, ich schwöre … auch bei meinem Leben, wenn du es willst, nun erzähl schon endlich.“

„Na gut, weil du es versprochen und geschworen hast. Also … wenn da was aus deinem, du weißt schon, aus deinem Dingsbums in meinen Bauch hineinkommt, verstehst du, dann reift in meiner Gebärmutter ein Baby heran und robbt sich neun Monate später aus meiner Muschi“, erklärte Katja, als sei es die natürlichste Sache der Welt, und veranschaulichte mir den Ort des Geschehens sogleich mit einer akrobatischen Glanzleistung.

Überzeugt, sie wolle mich restlos für dumm verkaufen, zeigte ich ihr einen Vogel, dachte dabei an Zwangsjacke und Klapsmühle und verkündete verächtlich: „Du bist total bekloppt, nun spinnst du aber wirklich!“

Katja ignorierte die Beleidigung, zwickte in mein dünnhäutiges Rippenfell, damit ich auch richtig zuhöre, und rechtfertigte sich:

„Das habe ich im Biologieunterricht dazugelernt, anfangs wollte ich es auch nicht glauben.“

„Du glaubst doch alles, was man dir vorlügt.“

„Sei nicht so frech, sonst zieh ich dir gleich mal deinen Penis lang“, drohte sie.

„Wehe, dann reiß ich dir … was hast du eben gesagt?“

„Penis … dein kleiner Zauberstab, hihi …“

„Pass bloß auf, dass du nicht bald in einer Gummizelle landest und … nicht, hahaha … hör auf, nicht kitzeln!“ Ich wehrte mich mit Händen und Füßen, wobei ungewollt mit einem dumpfen Knall ein Pups entwich.

„Du miefst wie eine Stinkbombe“, näselte Katja, mit zugekniffenen Nasenflügeln, entfleuchte zum Fenster, riss es sperrangelweit auf und japste übertrieben nach ungetrübtem Sauerstoff.

Kristallklare Nachtluft strömte herein. Das tat gut, denn mir war mächtig heiß geworden. Ich schälte mich aus dem doofen Leinenhemd, knüllte es ans Fußende und sann über den Mumpitz nach: Allein Gebärmutter, als wenn es sowas geben würde … und wenn sie mir schon unbedingt einen vom Pferd erzählen wollte, dann hätte sie etwas erfinden müssen, was einleuchtender klingt … sie hätte sich doch denken können, dass ich den Blödsinn: aus einer kleinen Öffnung könne ein ganzes Baby schlüpfen, nicht glauben werde … ob sie mitunter nicht mehr weiß, was sie redet?

Mit gemischten Gefühlen sah ich zu Katja hinüber, sie war am Fenster stehen geblieben und schaute andächtig auf die funkelnden Sterne. Ein bizarrer Anblick. Ihre Silhouette wirkte wie eine elfenbeinfarbene Wachsfigur, die sich in weichen Konturen gegen die Nachtschwärze abzeichnete. Wenn ich mich in diesem Moment nicht täuschte, kam ihr Antlitz einer erwachsenen Frau schon sehr nahe – jedenfalls von hinten betrachtet.

„Ich kann deutlich den Großen Bären sehen, dein glückbringendes Himmelszeichen,“, erwähnte sie, als sei sie im Vorteil.

„Mir doch schnuppe“, maulte ich, hatte absolut keinen Bock auf Astronomisches, vielmehr auf Anatomisches.

Katja schloss das Fenster, tänzelte wie eine Marionettenfigur zum Drehschalter. An einer dreiarmigen Deckenleuchte flammten nur zwei Glühbirnen auf, stachen unangenehm grell in die Augen. Ich blinzelte, fühlte mich nicht mehr wohl in meiner Haut.

„Weshalb machst du das blöde Licht an!?“

Sie hüpfte zu mir, blickte nichtssagend in meine Augen, verschaffte sich Platz, indem sie mich zur Seite drängte, kniete sich auf die Matratze, formte ihre Finger zu reißerischen Klauen, imitierte glühende Augen und knurrte mit Wolfsstimme: „Grrr… ich brauche Licht, damit ich besser sehen kann, was ich fresse … hoho … ich habe Hunger, grrr … ich fresse deinen Penis und die beiden Hoden auf … hoho …“

„Du hast ‘ne Meise unterm Pony!“

„Ja, mein Liebling“, hauchte Katja, nun mit einem entzückenden Gesichtsausdruck, löste grundlos die Gummibänder von ihren Zöpfen, die sie kunstfertig aufdrehte, warf die langen Locken über die Schultern, setzte einen verruchten Blick auf und flüsterte rauchig: „Soll ich wieder zaubern?“ Ohne meine Zustimmung abzuwarten, umklammerte ruckzuck eine hitzige Hand das Zielobjekt.

In kürzester Zeit kam es zu der gleichen Eskalation wie am Vortag. Auch dieses komische Gefühl breitete sich wieder darin aus. Oder im Kopf? Nein, nicht direkt. Vielleicht im Bauch? Nicht auszumachen. Es schien im ganzen Körper vorzuherrschen. Hinzu kam ein undefinierbarer Heißhunger, ähnlich, als hätte ich ungeheure Lust, sofort ein Stück Erdbeertorte zu vernaschen.

Krampfhaft suchte ich nach einer stichhaltigen Erklärung, doch ich fand keine. Es war nicht schmerzhaft, auch kein regelrechtes Jucken und Panik schon gar nicht. Ein vermindertes Angstgefühl, als wenn mir vor Schreck das Herz in die Hose rutscht? Nein, dann hätte ich mich ängstigen müssen. Oder eine ganz selten auftretende Abart von Vorfreude? Und wenn es eine solche gibt, worauf? Und wenn es die … aber ja, natürlich, da hätte ich gleich draufkommen können, es ist die viel gepriesene Glückseligkeit! Mit der Gewissheit schloss ich die Augen und gab mich vollends dem enträtselten Phänomen hin, und alsbald war mir, als würde sich langsam, aber sicher mein Verstand verabschieden.

Katja hatte die ganze Zeit geschwiegen, nur ein paarmal geschnauft und einmal leise durch die Zähne gepfiffen, folglich ich mich umso mehr verjagte, als sie spitz aufschrie: „Huch!!!“

Ich fuhr hoch, wollte sehen, was geschehen war. Katja stand der Schreck ins Gesicht gemeißelt, und dann sah ich … oh nein, was hatte sie mir angetan, in drei Teufelsnamen!

„Du hast ihn kaputt gemacht!“, gellte ich, glotzte bänglich auf die grässliche Beschädigung.

„Aber … aber ich habe doch … dahingehend habe ich überhaupt nichts gemacht“, jaulte Katja, stierte betreten auf rohes Fleisch, bekam puterrote Wangen und blickte restlos verzweifelt in meine Augen. Instinktiv legte ich schützend beide Hände über das angerichtete Unheil.

„Zeig her, der kann doch unmöglich von selbst kaputtgehen!“ Katja wollte meine Hände beiseite räumen.

„Nein, lass es lieber sein, sonst geht er vielleicht noch ganz kaputt“, fürchtete ich, mochte gar nicht mehr hinsehen, lüftete dennoch meine Hände. Es sah aus, als habe sie das pure Fleisch einer Knackwurst aus der Pelle gequetscht.

Katja begann, der Sache auf den Grund zu gehen. Dabei murmelte sie fassungslos: „Ach, du dickes Ei“, und kreischte unmittelbar darauf erleichtert: „Schau doch mal, er ist wieder heil!“ Kaum ausgesprochen, sprang sie wie von einer Tarantel gestochen unversehens vom Bett, stürmte aus dem Zimmer und trampelte mit Karacho die steile Holzstiege hinunter.

Welch mörderischer Tag! Mir war zumute, als könne es mein letzter sein. Eine Horrorvision trat mir vor die Augen: ein Geschwür! Beklommen berührte ich den ungeschützten Teil mit einer Fingerkuppe und stellte verblüfft fest: Es war nur vermeintlich roh, sah in etwa so aus wie die Hautkonsistenz einer frisch verheilten Wunde. Konfus überlegte ich hin und her. Es waren doch mehr als nur drei Hautschichten, die sich abgelöst hatten! Und noch fraglicher: wie von Geisterhand geschrumpft und wieder ordnungsgemäß abgedeckt! Wissensdurst flammte auf. Behutsam schob ich die abgelöste Hautschwarte millimeterweise über einen unansehnlichen Wulst hinweg, bis es nicht weiterging. Warum ging es nicht weiter? Eine Nahtstelle! War ich mal schwer verletzt und bin operiert worden? Man kann doch auch Finger wieder annähen, sogar Arme und Beine. Erinnern konnte ich mich jedenfalls nicht an einen Unfall, und dann fiel es mir wie Schuppen von den Augen: Mutter hatte es mir verheimlicht! Deshalb durfte ich mich dort nicht selbst waschen!

Knarrende Treppenstufen kündigten Katjas Rückkehr an. Leichenblass kam sie herein und setzte sich zu mir, diesmal nur auf die Bettkante. Sogleich erkannte sie, dass alles in Butter schien, nahm wieder Farbe an, und begründete plausibel, warum sie schleunigst die Flucht ergriff: „Vor lauter Schreck hätte ich eben fast ins Bett gepinkelt.“

„Sag mal, Katja, ist dir zufällig bekannt, ob ich irgendwann mal einen Unfall gehabt habe?“

„Aber ja, damals, mit dem Auge, als dir der Junge …“

„Das doch nicht! Ich meine … sieh selbst, das sieht doch aus wie abgetrennt und wieder angenäht.“

„Hm, ich habe schon beim Pinkeln drüber nachgedacht … sieht irgendwie komisch aus, aber nicht wie geflickt … schon eher, als ob es so gehört.

„Meinst du wirklich? Und warum schwillt der manchmal rasend schnell an und nur langsam wieder ab?“

„Das liegt höchstwahrscheinlich an deinem Blutdruck, du hast vielleicht unterschiedlichen.“

„Das wäre unlogisch.“

„Wieso?“

„Weil es nur passiert, wenn du ihn in den Pfoten hast.“

„Stimmt, du hast recht … darf ich noch mal anfassen?“

„Aber nur ganz vorsichtig“, mahnte ich ängstlich, richtete mich auf, sah argwöhnisch auf ihre Finger. „Pass bloß auf!“

Ausgesprochen feinfühlig ging sie zur Sache und stellte schnell fest: „Jetzt wird er genauso widerstandsfähig wie vorhin … fühlt sich an, wie eine lauwarme Kohlwurst.“

„Hör lieber auf!“

„Ja … gleich … lass mich doch …“

„Nein, unterlasse es lieber sofort, es ist mir zu riskant.“

Sie murrte, ließ nur widerwillig davon ab, wollte meinen Oberkörper herunterdrücken. „Dann leg dich flach hin.“

„Jetzt will ich mich aber nicht hinlegen“, brummte ich bockig.

„Och, bitte, sei doch bitte lieb zu mir, tu mir den Gefallen“, bat sie, setzte einen steinerweichenden Blick auf.

„Und was dann?“

„Dann packe ich mich auf dich drauf … soll ich?“

„Ne, du bist viel zu schwer“, meuterte ich, und wollte noch was einwenden, doch da war ich bereits unterworfen.

Regungslos lag sie auf mir, pustete heißen Atem gegen meine kräftig pochende Halsschlagader.

„Puh, du bist schwer wie Blei“, nörgelte ich geflunkert, stemmte beide Hände gegen ihre Schultern.

Katja gab dem Druck nach, richtete sich auf, überlegte, hockte sich kurzum breitbeinig kniend blindlings auf meinen Schoß.

„Aua!“, stöhnte ich, obwohl nichts schmerzte.

„Tu ich dir weh?“

„Ja, nein … nicht wirklich.“

„Was denn nun, ja oder nein!“

„Das weiß ich doch selbst noch nicht!“

„Du kannst es dir ja noch bis morgen überlegen“, höhnte Katja, verlagerte ihr Gewicht, wetzte ihre Krallen über meinen Brustkorb, bohrte einen Zeigefinger in meinen Bauchnabel, und fragte rundheraus: „Möchtest du meine Muschi küssen?“

„Du bist wohl nicht mehr ganz bei Trost!“

„Aber wieso denn, du kannst sie doch ruhig mal küssen.“

„Falls du es noch nicht wissen solltest, es noch nicht bis in dieses Kaff durchgedrungen ist, man küsst sich nur auf den Mund!“

Katja schmunzelte, als habe sie die Weisheit mit Löffeln gefressen, und erklärte: „Darüber habe ich vorhin aber was ganz anderes gelesen.“

„Soso … so?“

„Ja, in dem Buch, welches ich grade lese, was ich mir heimlich ausgeliehen habe.“ Katja nickte eifrig. „Darin steht nämlich mehrfach und sogar noch wortwörtlich geschrieben …“ Sie verstummte, suchte nach Worten.

„Sonst kannst du es mir auch vorlesen.“

„Nein, nein, lass mich doch nachdenken … also, darin steht geschrieben, das kann ich dir auch schwarz auf weiß beweisen, falls du es wieder nicht glaubst, da steht klipp und klar geschrieben, ist ein relativ langer Satz …“

„Bestimmt nicht so lang wie dein Zaudern!“

„Lenk mich doch nicht immer ab, du bringst mich völlig aus dem Konzept! Also, da steht wortwörtlich: Seine feurigen Lippen wanderten zu den aufblühenden Knospen meiner fraulichen Brüste, die er abwechselnd küsste, anschließend wollüstig dran saugte, anfangs wie ein zufriedener Neugeborener und dann immer kräftiger, wobei er einmal unvorsichtig hineinbiss, dass ein sonderbarer Lustschmerz meine bereits trunkenen Sinne durcheinanderwirbelte, ich begehrlich seine fiebernde Lanze packte, woraufhin seine feingliedrigen Klavierfinger zielstrebig meine urwüchsig belassenen Schamhaare durchstreiften und den sensibelsten Punkt meines längs nach Vereinigung trachtenden Leibes fanden, dass ich leise aufschrie, mich aufbäumte wie ein erstmals gezäumtes Wildpferd, und als er nicht mehr an sich halten konnte, seinen Wuschelkopf in meinen bebenden Schoß schmuste, leidenschaftlich meine bereits überschäumende Grotte küsste und mit wonnigen Zungenschlägen mein Empfinden kontrollierte, da gipfelte ich in einer Serie von schnell aufeinanderfolgenden Höhepunkten, deren Skala bis hin zu einer kurzen Ohnmacht reichte.“

Sprachlos starrte ich in Katjas glänzende Augen. Einen solchen kompletten Bären hatte sie mir noch nie aufgebunden!

„Jetzt bist du geplättet, was?“, frohlockte sie, wischte mit ihrer Zungenspitze über ausgetrocknete Lippen.

„Davon doch nicht“, murmelte ich stumpfsinnig, denn zunächst wusste ich überhaupt nicht, was ich dazu sagen sollte.

Katja lächelte, sah mir tief und ungewohnt überbedeutungsvoll in die Augen, als erwartete sie irgendwas.

„Und das hast du alles beim Lesen auswendig gelernt? Lange Texte kannst du doch sonst nicht so schnell behalten.

„Na ja, vielleicht habe ich das eine oder andere Wort vergessen oder hinzugefügt“, gab sie zu.

„Ich glaub dir kein einziges Wort mehr!“

„Brauchst du ja auch nicht.“

Nun befand ich mich in einer beschissenen Zwickmühle. Einerseits waren noch viele Fragen und Antworten offen, andererseits ahnte ich, dass sie momentan keine Frage mehr beantworten würde. Wie ein schweigender Buddha hockte sie auf mir. Schnellstens musste ich mir etwas einfallen lassen, wenn ich die Stimmungslage beibehalten wollte, und mir fiel auch was ein. Katja kam meinem Geistesblitz sogar noch entgegen.

„Was überlegst du noch?“, fragte sie schnippisch „Brauchst gar nicht erst zu wagen, mich noch irgendwas zu fragen.“

„Will ich überhaupt nicht“, stritt ich ab, und schlug die mir eben vorgenommene Taktik ein: „Ich möchte dich nur darüber informieren, bevor du es fragst, dass ich ganz genau weiß, was wollüstig bedeutet“, schwindelte ich, und fügte noch prahlerisch hinzu: „Das habe ich schon häufiger selbst erlebt.“

„Echt, wobei denn?“

„Wobei denn, wobei denn … vorhin erst.“

„Wirklich?“, zweifelte Katja, schaute ziemlich dumm aus der Wäsche. „Und wie äußert es sich? Erkläre es mir bitte.“

Damit hatte ich nicht gerechnet, felsenfest angenommen, Katja wüsste es und würde es sofort ausplappern. Ich konnte nur noch versuchen, mich herauszureden. „Das ist … wie soll ich es dir denn erklären, ganz eigenartig … hast du schon einmal tierische Zahnschmerzen gehabt?“

„Ja, sogar heftig, dass ich sogar zum Zahnarzt musste.

„Ich noch nie. Dann erkläre mir, was das für Schmerzen sind.“

„Die sind barbarisch, nicht auszuhalten, wesentlich schlimmer als Kopfschmerzen.“

„Und wenn ich noch nie Kopfschmerzen gehabt habe?“

„Hast du aber!“

„Ich meine doch nur, falls ich noch keine gehabt hätte.“

„Dann ließe es sich auch nicht einwandfrei erklären, Vergleichbares gibt es nicht.“

„Siehst du, das meinte ich, genauso verhält es sich mit wollüstig“, sagte ich erleichtert, atmete jedoch zu früh auf.

„Aber so oft, wie du es angeblich schon erlebt hast, müsstest du es doch zumindest ungefähr schildern können.

„Na klar, kann ich das, es ist wie … natürlich noch wesentlich intensiver, verstehst du, was soll ich sagen, damit du es auch nachempfinden kannst … es ist wie Vorfreude auf Ferien, oder Wiedersehensfreude, wenn ich mich beispielsweise schon lange vorab auf dich und unsere Doktorspiele freue.“

„Ha, dann war ich auch schon oft wollüstig“, jubelte Katja erfreut. „Besonders gestern und heute … und ganz besonders jetzt!“

Das schien mir der geeignete Augenblick für eine Klarstellung zu sein: „Das mit der Grotte ist übrigens ein grober Druckfehler.“

„Wieso Druckfehler? Das ist doch kein Druckfehler! Scheinbar kannst du dir überhaupt nichts zusammenreimen, damit ist doch ihre Muschi gemeint.“

„Muschi, Muschi, Muschi, ich höre nur noch Muschi, das ist wohl dein neues Steckenpferd. Und weswegen steht da Grotte und nicht Muschi? Und wovon schäumt die über?“

„Ich weiß nicht, habe auch schon gerätselt.“

„Vielleicht hat sie versehentlich Seifenwasser getrunken.“

„Quatsch, die haben Champagner gesüffelt.“

„Und was ist mit den Höhepunkten, was sind das für welche?“

„Das ist nicht beschrieben.“

Eine gewaltige Unruhe breitete sich in mir aus, als müsse ich unaufschiebbar etwas sehr Wichtiges in Erfahrung bringen.

„Und was ist nach ihrer Ohnmacht eingetreten“, krächzte ich, hatte plötzlich einen dicken Frosch im Hals. „Da muss doch noch viel mehr stehen.“

„Nein, damit war das Kapitel abgeschlossen.“

„Aber vielleicht im nächsten Kapitel. Wollen wir gleich einmal nachsehen?“

„Habe ich doch schon, beginnt total langweilig, deshalb habe ich dich gefragt, ob du schon schläfst.“

„Du hättest mich man lieber schlafen lassen sollen, nun kann ich überhaupt nicht mehr einschlafen.“

„Macht doch nix, du kannst morgen den ganzen Tag pennen, wenn du … ha … haaa … hatschi!“

„Verreck, du Aas.“

„Danke gleichfalls.“

„Wenn ich morgen was mache?“

„Doch nicht morgen, wenn du jetzt meine Muschi küsst.“

„Och nein, nicht jetzt, morgen vielleicht … verdeutsch mir lieber, was du mit Gebärmutter meintest.“

Katja verzog die Mundwinkel, empfand sich als vertröstet und wollte Trübsal blasen. Das wollte ich nicht aufkommen lassen.

„Wenn du es mir gleich erklärst, aber glaubhaft, dann werde ich die heute noch küssen“, lockte ich, und schon erteilte sie bereitwillig Auskunft.

„Es ist ein ganz besonderes Organ.“ Eindrucksvoll zog sie ihren hübschen Bauchnabel ein, presste alle Finger auf den Bereich und ächzte: „Hier, mitten im Leib.“

„Ach so.“ Ich machte es ihr nach.

„Du hast doch keine!“

„Nicht? Warum denn nicht?“

„Weil du keine Frau bist.“

„Du doch auch nicht!“

„Du bist gemein und blöd.“

„Bin ich nicht!“, bestritt ich, forscher als gewollt, und um kein weiteres Wortgefecht anzuzetteln: „Wie soll denn ein bisschen von meinem Urin in …“

„Doch nicht davon! Manchmal bist du wirklich noch ein …“ Sie verkniff es sich. „Selbstverständlich dein Samen.“

„Willst du mich eigentlich nur noch veräppeln?“

„Wie kommst du denn darauf? Merkst du eigentlich nicht, dass ich dich ganz und gar aufzuklären versuche?“

„Aber du redest doch nur unlogischen Schwachsinn.“

„Tu ich nicht!“, entrüstete sie sich, sah mich einen Augenblick ganz merkwürdig an, blieb aber lammfromm. „Jetzt verrate ich dir, auch wenn du es wieder nicht glaubst, was passiert, wenn eine meiner unzähligen Eizellen befruchtet ist.“

„Was du wohl noch alles hast …“

Nachdem mir Katja endlich alles anvertraut hatte, was sie wusste, war ich zunächst fix und fertig mit der Welt. Nicht, dass ich ihr keinen Glauben schenkte, wenn auch in mancher Hinsicht zögerlich, doch ich war total beunruhigt darüber, das Erwachsene, vornehmlich Mutter, lügen können, ohne rot zu werden. Zwangsläufig fragte ich mich, was überhaupt stimme, ob es außer dem Ammenmärchen vom Klapperstorch und von wegen Gottesgeschenk noch weitere Lügen gebe. Wem könnte ich künftig überhaupt noch vertrauen? Wer hatte es nötig zu lügen und wer nicht? Sind denn alle scheinheilig und im Grunde nur auf den eigenen Vorteil bedacht? Ich musste mir meine Enttäuschung von der Seele reden. Am Ende weinte Katja bittere Tränen. Aber nicht nur meinetwegen. Auch sie hatte ihr Herz ausgeschüttet, und als sie mir weinend verdeutlichte, wie sehr sie sich nach einer liebevolleren Mutter und einem verständnisvolleren Vater sehne, da schämte ich mich in Grund und Boden. Alle Beleidigungen, die ich ihr jemals an den Kopf geworfen hatte, taten mir nun unendlich leid. Ich nahm sie betulich in die Arme und küsste die gröbsten Tränen von ihren Wangen, schmuste meine heiße Stirn unterhalb ihres Kinns gegen ihren weichen Hals und flüsterte: „Ich nenne dich nie wieder Trampelarsch oder Dorftrottel und sage auch nichts anderes Hässliches mehr zu dir.“

„Das ist ganz, ganz lieb von dir“, flüsterte Katja mir ins Ohr, und seufzte: „Schade, dass du nicht immer bei mir schläfst, sonst könnten wir jede Nacht miteinander kuscheln.“

„Ja, und morgens werde ich liebevoll wachgeküsst“, antwortete ich träumerisch, tätschelte unbedacht ihre Pobacken.

Auf meine Unbedachtsamkeit reagiert Katja ganz anders, als ich es mir vorstellte. Sie umschlang mich mit Armen und Beinen wie ein Krake, der seine Beute einzuverleiben gedenkt, gab mir einen zärtlichen Kuss und versprach mir ewige Treue.

Es folgten die schönsten Minuten, die es bis dahin in meiner Kindheit für mich gab. Katja kauerte in Froschhaltung auf Ellenbogen und Knien gestützt über mir, dass ich sie keine Sekunde als Ballast empfand. Ich war selig und unbeschreiblich glücklich. Es war ein mir unbekanntes Glück, welches in diesem Augenblick mit einem Wort da hieß: Verbundenheit.

Für mein Gefühl hätte unsere Umarmung ewig andauern können. Doch uns trieb eine weitere Naturerscheinung auseinander. Ohne mich dahingehend berührt zu haben, strotzte an mir eine Dimension, die bisherige übertraf und Katja sofort in Feuer und Flamme versetzte. Peinlich berührt, wollte ich scheinbar Anomales in meinen Händen verbergen.

„Nein, nicht doch“, warf Katja eilig ein. „Wenn wir Schwein haben, laufen vielleicht gleich Samen heraus.“

„Und wenn wirklich einige Körner …“

„Doch keine Körner, du Döskopp, in flüssiger Form!“

„Dann eben flüssig“, sagte ich stumpf, und fragte phlegmatisch: „Und wie soll die Flüssigkeit in dich hineingelangen?“

„Das weiß ich auch nicht, aber irgendwie ist es machbar.“ Sie lüftete ihren Po, sah an sich herunter. „Offenbar direkt da rein.“

„In den Po?“

„Unsinn, in meine … ach, das habe ich ganz vergessen, dir zusagen: Real ist es weder eine Muschi noch eine Grotte, sondern die Scheide, meine Vagina.“

„So so“, murmelte ich, bewunderte ihre Biegsamkeit.

„Schau hin, hier, dazwischen …“

Nicht ums Verrecken entdeckte ich eine geeignete Öffnung, hatte weiterhin keinen blassen Schimmer.

„Sag schon, wie es aussieht“, drängte Katja.

„Hm … sieht aus wie … ziemlich rot, wie eine klaffende Wunde, wirklich schlimm.“

„Och Harry, stell dich nicht so dumm an“, tadelte Katja, und erreichte mit Zuhilfenahme ihrer Finger, dass unglaubliche Details sichtbar wurden. „Na, kannst du nun alles erkennen, oder brauchst du eine Lupe.“

So aufgeregt, wie ich war, schien mein Sehvermögen scheinbar stark beeinträchtigt zu sein. „Ein regelrechtes Loch kann ich nicht erkennen, wirklich nicht.“

„Du hast Tomaten auf den Augen!“, giftete Katja nun, beendete die akrobatische Vorführung und wollte sich empfehlen.

„Wenn ich doch keins gesehen habe“, jaulte ich, um sie zurückzuhalten.

„Und warum nicht?“

„Ich weiß nicht …“

„Weil du ein Blindfisch bist!“

„Und du eine Märchentante!“

„Bin ich nicht!“

„Bist du wohl! Und eine Nervensäge!“

„Und du bist blöder als die Polizei erlaubt!“

„Und du bist nicht viel besser als deine verlogene Rabenmutter, du tust immer nur so!“

Katja stieg wortlos aus meinem Bett, raffte die auf dem Fußboden befindliche Zudecke zusammen, pfefferte sie mir an den Kopf, schritt stocksteif zum Drehschalter, löschte das Oberlicht, verkroch sich in ihr Bett, drehte mir den Rücken zu und knipste die Nachttischlampe aus.

Ich Idiot! Den angestellten Vergleich hätte ich niemals ausposaunen dürfen! Selbst dann nicht, wenn es der Wahrheit entsprochen hätte. Und „Tomaten auf den Augen“ hätte ich geflissentlich überhören sollen. Wissentlich zu Unrecht hatte ich Katja nun doch wieder gekränkt. Aber wieso? Etwa weil sie mich zuerst beleidigte? Nein, ihre Beleidigungen waren alltäglicher Art und nicht ernst gemeint, hingegen meine letzte einer Hundsgemeinheit gleichkam. Und dass, obwohl wir kurz zuvor noch ein Herz und eine Seele waren. Ich hätte rechtzeitig einlenken müssen! Dieses verfluchte Hätte-wenn-und-aber-Denken! Schon immer war es belastend, oftmals quälender, als Resultate es ohnehin schon vorgaben.

Ans Einschlafen war nicht zu denken. Reflexionen tobten in mir. Weswegen sträubte ich mich oft zum Schein gegen das, was ich so liebte? Weshalb war mir nahezu jedes Lob peinlich? Lobendes Schulterklopfen im Beisein Dritter brachte mich erst recht in Verlegenheit! Wieso versteifte ich mich manchmal, als sei ich abgeneigt, wenn mich jemand herzlich in den Arm nahm? Weil ich mir keine Blöße geben wollte? Ich konnte doch unumwunden Fehler zugeben. Aber aus welchem Grund konnte ich mich nur ganz selten gehenlassen, mich geben, wie ich wirklich bin?

Niedergeschlagen überlegte ich, ob es überhaupt noch Sinn machen würde, ein Gespräch mit Katja zu suchen. Aber mehr als abwimmeln könne sie nicht, sagte ich mir, und sie auch noch nicht eingeschlafen sei, und fragte zaghaft in ihre Richtung: „Seit wann hast du das eigentlich?“

„Was?“

„Was ich einfach nicht erkannt habe.“

„Du bist sogar saublöd!“, motzte Katja, ignorierte meinen guten Willen.

„Und du bist ein ganz hinterhältiges Luder!“, motzte ich zurück, erbost über den feindseligen Ton, und machte meiner aufbrausenden Verärgerung gehörig Luft: „Zuerst machst du mich mit allen möglichen Sachen total verrückt, dass ich kaum noch richtig denken kann, und dann verschwindest du halsstarrig in dein Bett!“

„Weil du mich zutiefst beleidigt hast.“

„Wer hat denn wohl wen zuerst beleidigt?“

„Lass mich jetzt in Ruhe, ich will schlafen.“

„Dann ratz doch, du dummes Schaf!“

„Begriffsstutziger Hornochse!“

„Bauerntrutsche!“

„Muttersöhnchen! Unreifer Pisser!“

„Das musst du noch mal sagen!“

„Unreifer Pisser! Hosenscheißer! Stinktier! Knallfrosch!“

„Du hast Arschloch vergessen.“

„Arschloch! Spastelzwerg!“

„Ich kleb dir gleich eine!“

„Dann komm doch her!“

„Möchtest du wohl.“

„Du musst nicht immer von dir auf andere schließen, du kleiner Möchtegern.“

Stille.

Deprimiert durchdachte ich, warum wir uns schon wieder gezankt haben. Ich kam nicht drauf. Was ich jedenfalls ganz genau wusste: Ich liebte Katja wie nichts anderes auf der Welt! Deshalb startete ich in großer Erwartungshaltung einen weiteren Annäherungsversuch, unüberhörbar in einem bittenden Tonfall, um meine Friedfertigkeit zu bekunden.

„Entschuldigst du dich bei mir?“

„Pö!“, knapste sich Katja patzig ab, quittierte nicht leicht gefallenes Zurückstecken mit schnippischer Ablehnung.

„Na gut, dann entschuldige ich mich.“

„Kannst du ja machen, aber dann sofort.“

„Habe ich doch eben.“

„Hast du nicht, jedenfalls nicht richtig.“

„Was soll ich denn noch alles sagen?“

„Das du mich liebst, zum Beispiel.“

„Aber das weißt du doch.“

„Hast du aber noch nie gesagt.“

„Das brauche ich doch wohl nicht extra zu betonen, wenn du es sowieso weißt, und außerdem sagt man es meistens nur notfalls.“

„Tut man nicht! Steht auch in dem Buch, das es sich Liebende öfters sagen sollen.“

Was wohl noch alles in dem Buch geschrieben steht? Vielleicht ist auch lehrreich beschrieben, wie ich … Katja unterbrach meinen weitgehenden Gedankengang.

„Los, sag es mir jetzt ins Gesicht!“

„Kann ich nicht, ist zu dunkel dafür.“

„Das war symbolisch gemeint.“

Ich kämpfte mit mir. Ne, das kommt nicht in Frage, ich lasse mich nicht befehligen, ich sage es nur, wenn …

„Ich höre überhaupt nichts!“, mahnte Katja, ereiferte sich über mein Schweigen.

„Wollen wir noch ein Weilchen in dem Buch lesen?“

„Ach, leck mich doch!“

Geräuschlos wollte ich auf Zehenspitzen zu ihr tapsen und sie gespenstisch erschrecken. Auf halbem Wege hielt ich inne, lauschte, hörte Stimmengewirr und albernes Gelächter.

„Verdammter Mist, die verlogene Sippschaft kommt zurück!“, fluchte Katja verächtlich, geradezu hasserfüllt, dass mir angst und bange wurde.

Blitzschnell stürzte ich zu ihr, küsste sie erst auf den Mund und dann noch schnell dort, wohin sie es sich die ganze Zeit erträumt hatte. Katja stöhnte leise, und ich musste mich vernünftigerweise loseisen von einem Odeur, das ich nicht nur die ganze Nacht in der Nase behielt, sondern sich auch für immer in meinen Geruchsinn und mein Langzeitgedächtnis einbrannte.

Jenseits von Ethik

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