Читать книгу Jenseits von Ethik - Harry Jäger - Страница 7
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August und September waren die schönsten Monate. In denen gab es Abenteuer pur. Insbesondere Äppelklauen, was sich als Oberbegriff verstand. Auf Birnen, Pflaumen, Kirschen und pralle Stachelbeeren hatten wir es ebenso abgesehen. In einem Garten lockten sogar Aprikosen und Mirabellen. An die war jedoch nur mit erhöhtem Risiko und äußerster Vorsicht heranzukommen. Oft stöberten wir mit der ganzen Clique durch die bunten Schrebergärten am Mühlenteich und rundum der Außenalster. Zeitweilig beim Flughafengelände und beim großen Moor, was wesentlich „sicherer“ war und darum mehr Frohsinn brachte. Manchmal aber auch Dünnpfiff. Vor allem nach dem Genuss von halbunreifen Pflaumen. Von unseren Raubzügen brachten wir den Mädchen immer was mit. Nicht unbedingt aus Güte, eigentlich lieferten wir nur Beweisstücke unseres Mutes ab. Teilweise hatten wir hohe Zäune zu überwinden, und wenn wir dabei erwischt wurden und Reißaus nahmen, über Stock und Stein hasteten oder über Stacheldraht kletterten, zerrissen Triangel die Hose. Auch vor großen Hunden mussten wir uns in Acht nehmen. Einmal war ein Schäferhund auf Dieter losgegangen. In allerletzter Sekunde, nachdem er bereits am Arsch gepackt war, konnte er sich über einen Lattenzaun retten, sonst wäre bestimmt zerfleischt worden. Die Bisswunde in seiner rechten Pobacke sah merkwürdig aus. Deutlich erkennbar der Gebissabdruck, die Ränder der Löcher bläulich verfärbt und die beiden Reißzähne wesentlich tiefer ins Fleisch gedrungen. Dennoch sickert kaum Blut heraus, doch er jaulte vor Wahnsinnsschmerzen. Mit seinem Vater musste er zum Doktor, der ihm eine dieser gewaltigen Spritzen verpasste. Vor solchen Horrorspritzen hatte alle Kinder Schiss, genauso wie jeder eine Aversion vorm Zahnklempner hatte – bohren und Zähne ziehen sollte ja angeblich irrsinnig wehtun. „Er hat mir wieder so wehgetan!“, jammerte Mutter, wenn sie von einer Behandlung zurückkam, und setzte noch den ganzen Tag ein wehleidiges Gesicht auf. Dummerweise hatte ich nicht nur Mitleid, sondern es entwickelte sich auch eine Höllenangst in mir, dass ich eines Tages genauso darunter leiden müsse.
*
Die Kneipe entpuppte sich als wahrer Segen. An einem Montag, eigentlich der Ruhetag, blickte ich neugierig durch die offenstehende Kneipentür. Der Gestank von kaltem Zigarettenrauch und unangenehmer Biergeruch stiegen in meine Nase. Wie gefesselt stand ich da, sah der Wirtin beim Fußbodenwischen zu und bewunderte ihre Bewegungen – vielmehr das, was sich an ihr bewegte, bei jeder Armbewegung schaukelte. Schon öfters hatte ich sie beobachtet, heimlich durch eines der Fenster gelugt, wenn sie Bier zapfte, Schnapsgläser einfüllte oder Getränke an Tischen servierte. Hautenge und ganz dünne Pullover trug sie meistens, doch an diesem Tage eine tief ausgeschnittene Bluse. Eigenartigerweise verzichtete sie grundsätzlich auf einen Büstenhalter. Mutter hatte doch stets einen umgeschnallt, desgleichen meine Englischlehrerin und Heidi. Vielleicht brauchte die Wirtin keinen zu tragen, weil ihre Brüste noch größer waren als Mutters. Gegen die konnte wiederum Heidi nicht anstinken, obwohl sie sich permanent mit ihren Dingern brüstete. Warum sie damit angab, war mir nicht plausibel, die waren doch nur zum Stillen der Babys vorhanden. Vor nicht allzu langer Zeit hatte Heidi es noch selbst bestätigt und das mit maßloser Übertreibung: „Die haben wir Frauen, damit wir Säuglinge ernähren können.“ Da konnte ich doch nur lachen, von wegen w i r Frauen! Die war nicht ganz dicht. Grade erst achtzehn geworden, war sie seither schrullig drauf. Sie ging auch wunderlich, wackelte wie eine Ente mit dem Hintern, und wenn sie ins Kino oder zum Tanzen ging, stolzierte sie nur noch hochhackig aus dem Haus. Besonders lachhaft, wenn sie vorm Spiegel einen Schmollmund übte. Manchmal setzte sie zusätzlich einen müden Blick dabei auf, als würde sie augenblicklich einschlafen, oder klimperte mit schwarzgetuschten Wimpern, als habe sie ein nervöses Nervenleiden. Mir konnte sie jedenfalls nichts vormachen. Die wichtigsten Erkennungsmerkmale, wie Mutter und die Wirtin sie herzeigen konnten, fehlten ihr bei Weitem. Das wusste ich daher, weil ich einige Tage zuvor in die Küche geplatzt kam, sie völlig überraschte, sie hatte vergessen, die Tür abzuschließen, als sie nur mit Höschen bekleidet ihre Achseln seifte. Vor lauter Schreck ließ sie das Seifenstück fallen und verschränkte sofort die Arme über ihre Heiligtümer. Trotzdem hatte ich sie gesehen. Echte Lacher, an denen jeder Säugling verzweifeln würde. Zu meinem Glück, wie sonst hätte ich bis über mein drittes Lebensjahr hinaus mit Muttermilch ernährt werden können, konnte ich mich an ganz besonders großen Schnullern erfreuen. Bei passenden Gelegenheiten zog Heidi mich gerne damit auf, stänkerte „Milchbubi“ oder „Säugetier“. Was konnte ich denn dafür? Und überhaupt, jahrelanges Stillen schaffen andere Mütter doch nicht. Hatte Mutter es nur fertiggebracht, weil es nichts zu essen gab und sie es musste, wie sie es allumfassend darstellte? Nicht glauben konnte ich das, zudem war es unlogisch, meine Geschwister hatten schließlich auch nicht jahrelang Muttermilch verkonsumiert. Sollte es einen ganz anderen Grund gegeben haben? Warum betonte Mutter eigentlich oft, aber nur, wenn sie allein mit mir war, dass ich ihr Ein und Alles bin? Wieso waren wir es nicht allesamt? Hat Mutterliebe etwa was mit Größe und Alter zu tun? Je kleiner, desto lieber?
All das war mir durch den Kopf gegangen, bis die Wirtin mich und mein Staunen bemerkte. Sie lächelte, als wüsste sie genau, warum ich staunte. Sie stellte den Schrubber beiseite, wischte die nassen Hände auf den hinteren Rundungen trocken, kam zu mir und fragte, ob ich Lust und Zeit habe, etwas für sie einzukaufen, und versprach im gleichen Atemzug eine Belohnung. Spontan stimmte ich zu: „Na klar, das mache ich doch gerne.“ Sie schrieb ihre Wünsche auf einen Zettel, eine ellenlange Latte. Währenddessen betrachtete ich unauffällig die wuchtigen Nährquellen, die mäßig bedeckt und unmittelbar vor meinen Augen baumelten. Warum plötzlich mein Bauch knurrte, ein übermächtiges Hungergefühl einsetzte, begriff ich nicht, denn vor einer Stunde hatte ich Knäckebrot gefrühstückt. Noch weniger konnte ich verstehen, worauf ich ungeheuren Appetit bekam. Die Wirtin hatte die verräterischen Geräusche vernommen. „Hast du noch gar nichts gegessen, Schätzchen, soll ich dir schnell ein belegtes Brot machen?“ Unangenehm war mir das. „Ich … nein, ich habe keinen Hunger … wirklich nicht, überhaupt keinen, danke.“ Eine glatte Lüge! „Hast du denn Durst, möchtest du etwas trinken, frische Milch vielleicht?“ Ich erschrak! „Lie … lieber nicht … ich meine … lieber erst, wenn ich eingekauft habe“, stotterte ich, spürte, dass ich errötete. Verwundert sah sie mich an, fragte aber nicht weiter. Aus einer eigentümlichen Geldbörse zottelte sie einen abgegriffenen Zwanziger, den sie mir zusammen mit dem Zettel in die Hand drückte, und holte noch zwei Einkaufsnetze aus der Küche.
Nachdem ich alles besorgt hatte, in mehreren Geschäften musste ich mich geduldig anstellen und schwer schleppen, bekam ich ein dickes Lob: „Das hast du wirklich sehr gut gemacht, mein Junge.“ Dazu ein zärtlicher Handstreif über mein Haar, was mich sehr verlegen machte, und obendrein fünfzig Pfennig. Darüber freute ich mich am meisten, davon konnte ich endlich einmal in die „Flohkiste“ gehen, ein Kino am Ende der Parallelstraße. Unschlüssig überlegte ich, ob ich gleich wieder verschwinde oder noch was Wichtiges frage, suchte in ihren hübschen Augen nach einer Antwort.
„Du schaust mich so komisch an, hast du eine Frage auf dem Herzen?“
„Haben Sie eigentlich Kinder?“
„Warum möchtest du das denn wissen?“
„Och, nur so, weil Sie so nett zu mir sind.“ Ehrlich durfte ich es auf keinen Fall beantworten!
Ihr Lächeln verflog. Und sie verzog das Gesicht, als würde sie gleich zu weinen beginnen. Oh nein, hatte ich etwa was Falsches gesagt? Scheinbar hatte ich mich geirrt. Denn mit einem Mal nahm sie mich in die Arme und drückte meinen Kopf gegen ihre weichen Brüste. Traumhaft! Das Glücksgefühl hielt leider nur kurz an, denn Tränen tropften auf meine Haare. Sie weinte tatsächlich!
„Warum weinen Sie?“, fragte ich beklommen, schielte peinlich berührt nach oben.
Da presste sie mich noch stärker an sich. Ein Beben schüttelte meinen Kopf und sie schluchzte erbärmlich. Trotz der dicken Isolierung spürte ich kräftiges Herzklopfen.
„Ich hatte auch mal einen ganz lieben Jungen …“, seufzte sie auf. „Er war ungefähr genauso groß wie du, auch so goldig blond.“
Damit löste sie sich von mir, wischte mit den Händen über ihre Augen, nahm ein Geschirrtuch zu Hilfe, trocknete die Wangen.
„Wie heißt du eigentlich?“
„Ich bin Harry.“ Erneut füllten sich ihre Augen mit Tränen.
„Harry … auch ein schöner Name, meiner hieß Michael.“
„Hat er denn jetzt einen anderen Namen?“
Nun hatte ich wohl wirklich etwas ganz Dummes gesagt. Wie von Schmerz gepeinigt heulte sie auf, setzte sich auf einen Barhocker, verschränkte die Arme und vergrub ihr Gesicht darin, weinte noch kläglicher, als es Mutter konnte. Als ich dann akustisch kaum noch verständlich vernahm, was ihr mächtig zu schaffen machte, liefen mir kalte Schauer über den Rücken.
„Mein lieber Junge … Michael ist … er ist ums Leben gekommen … bei einem Luftangriff … es war mein Verschulden … war betrunken in jener Nacht … ich habe meinen geliebten Sohn nicht rechtzeitig in Sicherheit gebracht … drüben in den Luftschutzbunker … eine Splitterbombe hat … er ist von einem Splitter getroffen worden … seine kleine Lunge zerfetzt … er ist in meinen Armen verbluhutet … er konnte nichts mehr sahaaagen … wollte er aber doch … huhuu … hat mich nur noch … huhuu … mit grohohoossen Augen angeschaut … ganz furchtbar vorwurfsvoll … huhuhu … “
Mir wurde schlecht. „Das tut mir wirklich leid“, konnte ich mir nur noch abringen, sie umarmen und trösten traute ich mich nicht. Völlig durcheinander sah ich zu, dass ich Land gewann.
*
Am Sonntagvormittag zur Jugendvorstellung war ich in eine lange Warteschlange eingebunden, bevor ich an der Kasse eine Eintrittskarte kaufen konnte und danach das Halbdunkel des Vorführsaales betreten durfte. Drinnen war der Bär los. Kleine wie große Kinder kreischten wie wild geworden durcheinander und manche bewarfen sich mit Bonbons. Papierschwalben flogen, zwei Jungs rangelten um den Platz neben dem eines kecken Mädchens, und ein Rüpel verschoss Pappkrampen mit einem Katapult. Einige von den anwesenden Jugendlichen kannte ich von der Schule aus der Parallelklasse, zwei größere vom Spielplatz. In der vierten Reihe bekam ich einen einigermaßen guten Platz, direkt neben einem Vater mit Zwillingsmädchen. Die hatten den gleichen Haarschnitt und trugen einheitliche Kleider, und beide gaben keinerlei Muckse von sich.
Es gab einen lauten Gong und gleichzeitig verdunkelte es sich und der weinrote Samtvorhang zog sich auf. Viele klatschten begeistert in die Hände und trampelten mit den Füßen auf dem Holzfußboden, bis die ersten Bilder über die breite Leinwand flimmerten. Zunächst gab es einen Trickfilm in Farbe und dann die tönende Wochenschau in Schwarzweiß. Danach schleppte sich der schwere Vorhang wieder zu und die Wandleuchten hellten auf. Hereinspaziert kam eine junge Frau mit Bauchladen, bot Eis und Süßigkeiten an. Manche Kinder schienen die Taschen voller Geld zu haben, die konnten sich etwas kaufen und bekamen sogar noch Wechselgeld heraus. Der Vater neben mir kaufte drei Eis, noch eine Stange saure Drops und eine große Tüte mit in Glanzpapier gewickeltes Konfekt. Und dann begannen die drei zu lutschen, zu schmatzen und zu knistern, dass ich mir am liebsten die Ohren zugehalten hätte.
Noch einmal gongte es, nun dreimal und in verschiedenen Tönen. Endlich begann der Hauptfilm, ein spannender Western. Apachen überfielen und massakrierten einen Trupp Reitersoldaten der Südstaaten; eine Postkutsche wurde von maskierten Banditen verfolgt und ausgeraubt; Cowboys trieben eine riesige Rinderherde durch die Steppe; ein Sheriff, der flaschenweise Whisky soff, prügelte sich im Salon mit einem fuchsteufelswilden Mexikaner; ein ganz in Schwarz gekleidete Revolverheld duellierte sich auf der staubigen Straße mit einem Rancher. Hübsche Damen spielten auch mit. Tolle Kleider trugen die, ganz bunte und hinten geschnürt, solche hatte ich noch nie gesehen. Ein Zuhause hatten die nicht, wohnten über dem Salon in pompösen Plüschzimmern. Die hübscheste war die Freundin vom Sheriff, und wenn er sie auf ihrem Zimmer besuchte, musste sie ihm zuerst seine Stiefel ausziehen. Warum er trotz flimmernder Hitze lange Unterhosen trug, begriff ich nicht. Ebenso wenig, dass die junge Dame noch einen Schlafanzug mit Rüschen und Schleifen unter ihrem Kleid trug. Auch ganz komische Strümpfe hatte sie an, sahen aus wie schwarze Netze, hafteten ohne Halter an den Oberschenkeln.
Gebannt starrte ich auf Geschehnisse, von denen ich bis dahin nur in einem vergilbten Karl-May-Buch gelesen und manchmal nächtelang geträumt hatte. Für mich stellte ich fest: Lesen war im Vergleich zu einem realistischen Kinofilm – wie ich glaubte – absolut Asche. Viel geschmökert hatte ich noch nicht, nur die Geschichten von Karl May, einige Märchenbücher und Emil und die Detektive, denn es gab nur wenige Bücher bei uns Zuhause. Mehr als tausend sind in den letzten Kriegstagen verbrannt. Es war überhaupt alles in Schutt und Asche gelegt, als mitten in der Nacht einige Luftminen die an einem Fleet gelegenen Häuser trafen. Nur das nackte Leben konnte Mutter noch sichern, Hals über Kopf in allerletzter Minute in den Luftschutzkeller des Wohnhauses fliehen – Mutter und Heidi nur im Nachthemd, Rolf im Pyjama und ich in feuchter Windel.
*
Früh war ein strenger Winter hereingebrochen. Bereits in der dritten Adventswoche war der Mühlenteich zugefroren. Auch ich wäre gerne Schlittschuh gelaufen, doch ich hatte keine Kufen. Neuerdings traten viele Erwachsene mit diesen kompletten Schlittschuhstiefeln auf, an denen Kufen gleich anmontiert sind. Einige Jugendliche besaßen schon diese neuen Eishockeystiefel und manche sogar Profischläger. Wie zehn nackte Hühner gaben die damit an, und wenn der baumlange Oberangeber seinen echten Puck mitbrachte, benahmen sie sich wie eine Horde bekloppter. Kreuz und quer jagten sie über die Eisfläche, nahmen auf niemand Rücksicht, trieben den Puck hin und her, schlugen sich absichtlich die Schläger zwischen die Beine, schubsten, rempelten und fuhren sich gegenseitig über den Haufen. Eines konnte man dem Angeber neidlos anerkennen, der konnte weitaus besser bremsen und somit viel schneller zum Stehen kommen als alle anderen. Eine tiefe Halbkreisrille ratschte er dabei ins Eis, wobei sich eine Eiskristallwolke bildete. Wie er das machte, beobachtete ich ganz genau, das wollte ich auch mal irgendwann hinkriegen. Vorerst konnte ich aber nur auf einer in Ufernähe angelegten Glitsche schlittern. Spiegelblank war die und verlangte einigen Mut und Ledersohlen ab, wenn man das Ende der schmalen und sehr langen Eisfläche erreichen wollte. Das schafften nur wenige. Ein langer Anlauf war Voraussetzung, schon dabei konnte man arg aufs Steißbein knallen, und wenn man über die Glätte sauste und währenddessen das Gleichgewicht verlor, dann kam es zu manchen Stürzen, die nicht immer glimpflich verliefen. Nahezu täglich wurde der Krankenwagen gerufen. Leider auch die Feuerwehr, wenn sich einer zu nahe an das für Enten und Schwäne offengehaltene Wasser herangewagt hatte. Weil die Eisdecke dorthin immer dünner wurde und naturgemäß irgendwo nicht mehr tragfähig sei, das sollte eigentlich jeder wissen. Leichtsinnige mussten es natürlich unbedingt ausprobieren, wo genau der Grenzbereich überschritten war. Pechvögel spürten es schnell und die meisten davon konnten gerettet werden. Einmal haben Feuerwehrmänner zwei Tage nach einem versunkenen Mann gefischt. Die halbe Eisdecke wurde dabei aufgebrochen, bevor die Wasserleiche gefunden war.
Hatte ich ein Schwein! Die Wirtin, für die ich seit einiger Zeit regelmäßig einkaufen durfte, dreimal in der Woche, damit verdiente ich eine Mark fünfzig, hatte auf ihrem Dachboden beim Aufräumen ein Paar rostige Kufen entdeckt und mir geschenkt. Nur den wichtigen Schlüssel zum Andrehen konnte sie nicht finden. Das war kein Problem, Geld dafür hatte ich, doch der passende Vierkant war überall ausverkauft. Die Hacken lief ich mir ab, bis weit in andere Stadtteile hinein, bis ich in einem Fahrradgeschäft den richtigen entdeckte. Den Rost entfernte ich weitgehend mit feinem Schmirgelpapier, und dann konnte es losgehen mit dem Eislaufen. Ingrid wollte mich begleiten, mir zuschauen beim Lernen, aber das wollte ich nicht – sie sollte doch nicht sehen, falls ich dauernd auf die Schnauze fliege. Auch sie konnte noch nicht Schlittschuhlaufen, was ihr aber nicht die Bohne etwas ausmachte. Sportlich war sie sowieso keine Kanone und ehrgeizig ebenso wenig. Besonders schlimm war es gar nicht mit dem auf die Nase fliegen, nur ein paarmal glimpflich, und nach zwei Übungstagen konnte ich mich schon einigermaßen sicher auf den Beinen halten. Bremsen gelang mir noch nicht richtig. Wenn Not am Mann war, ließ ich mich einfach auf den Hosenboden fallen und ritzte mit angezogenen Beinen die Enden der Kufen ins Eis. Ging prima.
Rodeln war auch eine super Sache. Am besten im Park gegenüber dem Universitätskrankenhaus. Dort gab es einen breiten und steilen Abhang, gut fünfzig Meter hinab, auf dem Schlitten eine rasante Fahrt draufbekamen. Einen Eigenen hatte ich nicht. Aber Dieter. Mitfahren durfte ich, im Sitzen hintereinander, oder übereinander auf dem Rücken liegend, wobei er grundsätzlich unter mir lag und steuerte. Ab und zu durfte ich allein den Hang hinuntersausen, was selbstredend schneidiger war. Auf dem Bauch liegend wurde mit den Fußspitzen gesteuert, was zwangsläufig zulasten meiner Schuhe ging. Darüber konnte sich Mutter empören, und ganz besonders intensiv, als einmal die ganze Sohle abgerissen war. Stubenarrest! Ein wenig war mir ihre Rage verständlich, schließlich handelte es sich um meine einzig warmen Schuhe. Besonders flott ging es hinab, wenn der Abhang vereist war. Dann musste man am Ende des Hanges höllisch aufpassen, denn im Übergangsbereich zur Waagerechten gab es eine verdammt tückische Bodenwelle. Die gefährliche Stelle konnte natürlich auch umfahren werden, das bevorzugten Mädels und Weicheier. Zu zweit auf dem Schlitten über die Bodenwelle war ebenfalls möglich, denn Dieter war ein Draufgänger. Abheben und einige Meter überbrücken war regulär einkalkuliert und umkippen oder stürzen an der Tagesordnung, aber ganz bestimmt nicht jenes, was er mit mir in der Abenddämmerung an Luftakrobatik fabrizierte. Halsbrecherisch schnell unterwegs, fing der Schlitten auf halber Strecke höchst bedenklich an zu schlingern und kurz vor der brenzligen Gefahrenstelle verlor Dieter gänzlich die Kontrolle über die Fahrtrichtung. Ausgerechnet quer knallten die Schlittenkufen gegen den höchsten Punkt des Buckels. Es gab einen gewaltigen Schlag und einen Höhenflug sondergleichen, was oben und unten vergessen ließ. Der Schlitten trennte sich von Dieter und ich mich von ihm, und zur Freude aller Schaulustigen: drei knallharte Einschläge in die knochenharte Wiese, ein wahnsinniger Schmerz vom Steiß bis zur Schädeldecke und in schönsten Farben Sterne sehen. Zudem ein total zerbrochener Schlitten und kichernde Mädchen. Ich hörte höhnisches Geläster, ein idiotisches Lachen und eine dämliche Frage: „Hast du dir wehgetan?“ Das wusste ich doch noch gar nicht! Dieter wollte mir aufhelfen. Ich schlug seine Hand aus und fuhr aus der Haut: „Du blöder Hund, wir hätten uns das Genick brechen können!“ Er grinste und schätzte: „Haben wir aber nicht.“ Um sicher zu gehen, fühlte ich überall nach. Scheinbar hatte ich nur einige Prellungen davongetragen. Dieter humpelte zum Schlitten, klemmte das Bruchstück unterm Arm, kam zu mir zurück und stellte mit einem weinenden und einem lachenden Auge eine problematische Frage: „Sind wir weiterhin Freunde?“ Was sollte ich sagen, darauf gab es doch nur eine passende Antwort: „Klar, sind wir das noch, du Hornochse, ich liebe dich doch!“ Umstehende Mädchen gackerten und Jungs buhten und machten eindeutige Handbewegungen. Wir sahen zu, dass wir fortkamen. Zuhause gab es einen gewaltigen Aufstand wegen meiner zerrissenen Joppe. Stubenarrest!
Im Herbst stiegen bunte Drachen auf an jenem Ort. Drachenbau war ziemlich kompliziert, wenn der Drachen dicke Pausbacken im Wind haben soll. Auch ich hatte mühselig einen gebastelt, größer als ich, einen knallroten mit einem Schwanz aus verschiedenfarbigen Resten von übrig gebliebenem Drachenpapier meiner Freunde. Lange konnte ich mich nicht daran erfreuen, die ganze Arbeit war schnell für die Katz. Als an einem sehr windigen Tag der Drachen mit mächtig aufgeplusterten Backen rasend schnell die höchstmögliche Höhe erreichte, riss die Drachenleine und mein ganzer Stolz segelte auf Nimmerwiedersehen davon.
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Vater kam auf dem letzten Drücker nach Hause, nur zwei Tage vor Heiligabend mit der Taxe vorgefahren, braungebrannt und in neuer Uniform. Auf graumelierten Haaren eine todschicke Schirmmütze keck nach hinten geschoben, edel polierte Goldknöpfe an der Uniformjacke und ein weiterer Goldstreifen auf den Schulterklappen und Ärmeln, das Erkennungssymbol eines ersten Offiziers, zu dem er inzwischen befördert wurde, verantwortlich für Navigation und Ruder. Übergroß war die Wiedersehensfreude. Pfingsten konnte er nicht heimkommen, hatte in New Orleans zehn Wochen in einem Spital zugebracht. Nach seiner Gesundung musste er zwangsläufig bei einer anderen Reederei anheuern und noch lange auf einen für ihn bestimmten Ozeanriesen warten. Sehr krank war er nicht, unter einem sogenannten offenen Bein hatte er gelitten. Woher das kam, wusste keiner ganz genau. Vermutlich von einem tropischen Insekt verursacht, hatten sich die amerikanischen Ärzte aus den Fingern gesogen. Sozusagen als Versuchskaninchen musste Vater mehrere Behandlungsmethoden über sich ergehen lassen, bevor die faustgroße Wunde vollständig verheilt war. Dennoch sah die Stelle abscheulich aus: bläulich schuppig, teils matt und stellenweise glänzend. Jeden dritten Tag sollte Vater das Bein weiterhin versorgen, Zinksalbe auftragen und den Verband erneuern, was er naturgemäß nicht heimlich vornahm, sondern in aller Offenheit in der Küche. Mich schauderte es, wenn ich den bunten Fleck zu Gesicht bekam. Nun hätte ich mich immer abwenden können, doch ich war auch wissbegierig und erhoffte allemal ein Wunder, dass der Fleck vielleicht verschwunden war.
Heiligabend gab etwas Phänomenales: Ein amerikanischer Militärjeep stand für mich unterm Tannenbaum. So einen hatte ich schon einmal in einem Film gesehen und bewundert. Grobe Stollenreifen aus echtem Gummi hatte die naturgetreue Nachbildung, sogar ein abnehmbares Reserverad und einen Benzinkanister am Heck. Eine schwingende Funkantenne fehlte ebenso wenig wie ein Ami-Stern auf der Motorhaube, und ganz besonders wichtig, auf den Türen stand in weißen Lettern „Militärpolice“. Vor lauter Glück konnte ich mich kaum wieder einkriegen und strahlte wahrscheinlich wie ein Schneekönig. Mindestens eine Stunde lang fuhr ich den kleinen Jeep mit einer Hand den Flur rauf und runter, währenddessen ich brummende Motorgeräusche und quietschende Reifen imitierte. Bis Mutter genervt war!
Auch fürs „Christkind“ hatte Vater etwas Besonderes mitgebracht: Ein Zauberbild aus irrsinnig vielen Schmetterlingsflügeln in Südafrika gefertigt. In einem exotischen Rahmen von einer hauchdünnen Glasscheibe geschützt, stellte es Eingeborene auf einem Palmstrand dar, im Hintergrund ein farbenprächtiges Abendrot mit untergehender Sonne über der Wasserlinie, und wenn man es gegen das Licht drehte, veränderten sich schillernde Regenbogenfarben. Jammerschade, dass Ralf es noch nicht sehen konnte. Obwohl er am Heiligen Abend auch Geburtstag hat, hatte er sich bereits am Vortag abgesetzt, wollte über die Weihnachtstage bei seiner neuen Flamme übernachten. Irgendeine Miss oder Schönheitskönigin, die auch schon Miete für eine eigene Wohnung aufbringen konnte. Bei einer Boxveranstaltung hatte Ralf sie kennengelernt. Kein Wunder, dass sie ihm hinterherlief. Schließlich war schon berühmt geworden, Hamburger Vizemeister im Halbschwergewicht und deshalb für die deutsche Auswahlmannschaft qualifiziert. In der Ostzone und in Warschau hat er dann antreten müssen, doch die wesentlich schwereren Ostblockboxer haben ihn immer verkloppt. Sichtlich niedergeschlagen, aber nie knock-out gegangen, kam er von den Kämpfen mit blauen Veilchen, aufgeplatzten Augenbrauen und dicker Oberlippe zurück. Einmal mit gebrochenem Nasenbein, das ein tierischer Russe zerschmettert hat. Speziell trainiert war der, auf nur wenige Gramm unter Schwergewicht, hingegen Ralf das Mittelgewicht geringfügig überschritt. Wie sehr er sich auch mit Zusatztraining und Waldläufen anstrengte, konnte er die für ihn bessere Gewichtsklasse nicht halten und andererseits kein Gewicht zulegen. Er hätte ständig viel mehr Rindfleisch verschlingen müssen, doch dafür mangelte es an Geld. Trotz Vaters höherer Heuer konnte Mutter nicht noch mehr Fleisch für ihn einkaufen, alle Lebensmittel und die Wohnungsmiete sowie Strom- und Gaskosten waren teurer geworden. Ralf selbst verdiente nur wenige Kröten im Monat, er war noch im letzten Lehrjahr, davon musste er seine Sportausrüstung finanzieren, Vereinsbeiträge entrichten, Fahrgeld zur Arbeit erübrigen und in seinem Vereinslokal auch ab und zu eine Runde Bier schmeißen. Heidi war ganz erbaut über seine ständigen Abwesenheiten. Dann konnte sie im Geschwisterzimmer dschalten und walten wie sie wollte. Manchmal stank es aus dem Zimmer penetrant nach Terpentin, wenn sie ihre Fingernägel lackierte. Dauernd pusselte sie mit einer Nagelschere und einer Feile an ihren Krallen herum. Vor einem Tanzabend auch an den Fußnägeln, die sie dann ebenfalls rot bemalte.
Für Heidi hatte Vater ein Flakon Parfum aus dem Orient auf den Gabentisch gelegt. Wenn sie es benutzte, dann miefte die ganze Wohnung nach dem süßlichen Zeugs, dass einem schlecht werden konnte. Da schnüffelte ich dann doch lieber das frühlingsfrische Tosca meiner Mutter. Was Vater wohl für sie mitgebracht hatte?
Warum zeigte sie es nicht her? Es konnte doch nicht sein, dass Vater überhaupt nichts mehr sie erübrigte. Oder etwa doch? Denkbar war es, aber andererseits war er schon immer ein Heimlichtuer und verschwiegener Leisetreter und hatte sehr wahrscheinlich noch irgendwas in petto. Und was, außer Stricksocken von Heidi, eine Krawatte von Ralf und ein von mir kunstvoll gemaltes Hafenbild für seine Kajüte, hatte er von Mutter bekommen? Davon war ebenfalls nichts zu sehen und es wurde auch nicht darüber gesprochen. Es war irgendwie bedrückend für mich.