Читать книгу Die Gefangene des Königs - Harry Voß - Страница 9
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5. Dezember
Zuhause erzählte Flo, was Lisa, Timo und er bei Herrn König erlebt hatten.
„Das ist wirklich seltsam“, sagte die Mutter anschließend. „Wenn ich nicht genau wüsste, dass Herr König allein in seinem Haus wohnt, würde ich sagen, da hat euch ein Kind aus dem Fenster zugewunken und dann ein Bild gemalt und aus dem Fenster geworfen. Dass Herr König allerdings meint, das alles sei nicht wahr, das macht die Sache wirklich rätselhaft.“ Sie zog die Augenbrauen hoch. „Wir reden nachher mit Papa noch mal drüber. Ja?“
Als der Vater von der Arbeit kam und Flo ihm am Esstisch seine Erlebnisse noch einmal schilderte, fand der das auch seltsam. „Ich denke, wir gehen mal rüber zu Herrn König und erzählen ihm, was du gesehen hast“, schlug er vor. „Vielleicht klärt sich ja alles ganz schnell auf, wenn wir ihn mal direkt fragen.“
„Noch was anderes sollten wir klären“, fiel Flo plötzlich ein. „Wieso lügt ihr mich im Advent immer an?“
Der Vater machte ein erschrockenes Gesicht. Und auch die Mutter, die neben dem Vater am Tisch saß, schnappt laut nach Luft. „Wo lügen wir dich denn an?“, fragte der Vater nach.
„Gibt es Gespenster?“, fragte Flo geradewegs heraus.
„Nein“, antwortete der Vater und wunderte sich immer noch.
„Gibt es Geister?“
Der Vater runzelte die Stirn. „Nein. Geister, die wie Gruselgespenster um Mitternacht kommen, gibt es nicht“, antwortete der Vater schließlich.
„Gibt es das Christkind?“
Der Vater stutzte kurz, dann huschte ein Schmunzeln über sein Gesicht, er schielte kurz zur Mutter rüber und schaute dann wieder Flo an. „Ach, das meinst du.“ Er beugte sich auf seinem Stuhl nach vorne und legte beide Unterarme auf dem Tisch ab. „Also, weißt du, Flo, wenn die Kinder kleiner sind, dann erzählt man ihnen gern, dass die Geschenke an Weihnachten von außen gebracht werden. Vom Christkind oder vom Weihnachtsmann. In anderen Ländern ist es Santa Claus, Jultomte oder Väterchen Frost. Es sind weihnachtliche Märchen, die irgendwie gut zu unserer weihnachtlichen Stimmung passen. Auch der Nikolaus, der obendrein noch kommt, trägt dazu bei, dass die Weihnachtszeit insgesamt einen geheimnisvollen, märchenhaften Glanz bekommt. Wir denken noch so gerne an die großen Augen, die du gemacht hast, als du zum ersten Mal vor dem geschmückten Weihnachtsbaum gestanden hast und wir dir die Geschenke überreicht haben, die dir das Christkind gebracht hat.“
„Aber dann habt ihr mich immer angelogen!“
Der Vater schaute die Mutter kurz an. Die musste ein Grinsen unterdrücken. „Sind Märchen eine Lüge?“, fragte der Vater. „Wenn wir dir ein Märchen vorlesen, zum Beispiel das vom Froschkönig, dann weißt du doch auch, dass diese Geschichte nicht in Wirklichkeit passiert ist. Jeder weiß, dass ein Frosch nicht reden und sich nicht in einen Prinzen verwandeln kann. Trotzdem gefällt dir die Geschichte.“
„Das ist aber was anderes. Wenn ihr mir eine Geschichte vorlest oder wir uns einen Film anschauen, dann weiß ich, dass das nicht in echt passiert ist. Ich erinnere mich sogar noch daran, dass ihr einmal, als mir ein Film zu spannend war, gesagt habt: ‚Das ist doch alles nur gespielt!‘ Wenn ihr aber sagt: ‚Das Christkind hat die Geschenke gebracht‘, dann sagt ihr nie: ‚Das ist nur gespielt.‘ Dann freut ihr euch darüber, wenn ich euch das als Kind glaube. Eigentlich legt ihr mich da rein.“
Jetzt schaltete sich die Mutter ein: „Na ja, wir haben natürlich gedacht, du hast inzwischen selbst herausgefunden, dass nicht das Christkind die Geschenke unter den Baum legt, sondern wir.“
„Ja, eigentlich habe ich das auch“, sagte Flo. „Und dabei habe ich mich immer für sehr schlau gehalten, weil ich von ganz allein darauf gekommen bin.“
Trotzdem fühlte sich Flo irgendwie betrogen. Woher sollte er denn jetzt wissen, wann seine Eltern ihm die Wahrheit sagten und wann sie ihm nur Märchen erzählten? Das würde er gerne noch genauer klären. Das Mädchen im Zimmer von Herrn König jedenfalls – das war ganz bestimmt kein Märchen. Und es wurde Zeit, dass sie herausfänden, wie das dort hingekommen war und was das zu bedeuten hatte.