Читать книгу Ben und Lasse - Agenten ohne heiße Spur - Harry Voß - Страница 4

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Ich hasse Klassenfahrten. Drei Tage und zwei Nächte mit einem Haufen von Fünftklässlern in irgendeine Jugendherberge fahren, in der es stinkt und in der die Betten quietschen. Die anderen im Zimmer schnarchen und pupsen die ganze Nacht, man kann nicht in Ruhe aufs Klo gehen und zum Frühstück gibt es nur Käse, Wurst und ekelhafte gelbe Marmelade. Was, bitte, soll ich da?

Herr Jung, unser Klassenlehrer, hat gesagt, das ist ganz wichtig. Es stärkt unsere Klassengemeinschaft und wir erleben schöne Dinge. Toll. Unsere Klassengemeinschaft können wir auch zu Hause stärken, indem wir statt Mathe und Englisch zu machen, lieber mal zusammen einen Film gucken, Computer zocken oder von mir aus auch irgendwas Nettes draußen auf dem Schulhof spielen. Und schöne Dinge kann ich auch zu Hause erleben. Aber Herr Jung bleibt dabei: Wir fahren am kommenden Mittwoch in ein heruntergekommenes Backsteinhaus, das hat er uns schon ganz stolz auf Bildern gezeigt. Das Haus liegt irgendwo mitten im Wald, wo es noch nicht mal eine Stadt gibt, in der man ein bisschen in den Läden nach DVDs oder Computerspielen stöbern könnte. „Natur erleben“, nennt Herr Jung das. Sollte ich jemals Lehrer werden, dann würde ich mich vorher erkundigen, was Schüler wirklich wollen. Wollen Kinder Natur erleben? Nein. Wollen sie Computer spielen und Filme gucken? Ja.

Zum Glück werde ich kein Lehrer. Ich werde niemals mit wild gewordenen Schülern in ein einsames Haus fahren und das als „Naturerlebnis“ anpreisen. Ich weiß nämlich schon, was ich einmal werden will, wenn ich groß bin: Ich werde Polizist. Mein Vater ist auch Polizist. Und ich bin jetzt schon geübt darin, Verbrechen aufzuklären. Als ich im Winter mal in der Schule aufs Klo musste, war in der Zelle, in die ich sonst immer gehe, die Klobrille kaputt und fette Fußspuren von verdreckten Winterschuhen waren oben drauf. Ich bin also zur Nachbarzelle gegangen. Dabei habe ich Torben aus unserer Klasse breit grinsend am Waschbecken stehen sehen. Ich hab sofort zu seinen Schuhen geschaut und mit einem Blick erfasst, dass diese fetten Winterstiefel zu den Spuren auf der Klobrille passen könnten. „Heb mal deine Schuhe hoch“, habe ich ihn aufgefordert. Er hat das auch ganz brav gemacht und immer noch gegrinst. Und siehe da: Dieses Profil unter den Schuhen hat gepasst. „Du warst das!“, hab ich gesagt. Torben hat frech gelacht und ist rausgegangen. Kurz darauf kam eine Durchsage in der ganzen Schule: Der Schuldirektor hat gesagt, bei einer der Toiletten sei die Klobrille zerbrochen. Jemand sei darauf gestiegen. So was sei eine Sauerei und der Schuldige solle sich sofort melden. Und wer etwas gesehen hätte, solle das bei der Schulleitung melden. Da hab ich sofort zu Torben geschaut. Und er hat nicht mehr gegrinst. In der Pause ist er auf mich zugekommen: „Du hast doch nichts gesehen, oder?“ – „Gesehen nicht, aber ich hab kombiniert“, habe ich geantwortet. Ich habe ihm versprochen, ihn nicht zu verpetzen. Aber ich hab ihn gewarnt, er soll vorsichtig sein, denn ich krieg alles raus. Seitdem hat er einigermaßen Respekt vor mir. Na gut, ich gebe zu, ein schlimmes Verbrechen ist das nicht gewesen. Kein Mord oder so. Aber ich weiß, ich trage meinen Titel zu Recht: Ich bin Agent Benjamin Baumann. Und wenn ich mal Polizist bin, dann haben die Verbrecher nichts mehr zu lachen. Nicht nur die Klobrillen-Zerbrecher, sondern auch die Diebe, Mörder und anderen Halunken.

„Es gibt da noch ein Problem“, sagt Herr Jung heute, am Freitag, kurz vor dem ersehnten Wochenende, als wir wieder über die Klassenfahrt sprechen. „Frau Specht, die Mutter von Leonie, ist krank geworden. Sie wollte als weibliche Begleitperson mitkommen. Sie hat mich gestern angerufen und gesagt, dass sie bis nächste Woche nicht wieder gesund genug ist, um mitzufahren. Wir brauchen aber auch eine Frau, die uns begleitet. Das ist von der Schulleitung so vorgesehen. Darum fragt bitte mal zu Hause nach, ob eine der Mütter sich kurzfristig überlegen könnte mitzukommen. Sie müsste auch nichts dafür bezahlen.“

Um ein Haar hätte ich laut losgelacht. Was soll denn das für ein Anreiz für Mütter sein? Sie brauchen nichts zu bezahlen? Ha! Das wäre ja auch noch schöner! Er hätte noch eine Belohnung für die Mutter ankündigen müssen, die es wagt, mit unserer Klasse für drei Tage wegzufahren! Stattdessen muss sie „nichts bezahlen“! Wie gnädig! Ein bisschen wächst in mir die Hoffnung, dass die Klassenfahrt vielleicht ausfällt, wenn sich niemand findet.

„Ich will nicht, dass die Klassenfahrt ausfällt!“, ruft Christina. „Ich hab mich schon so darauf gefreut!“

„Ich auch!“, pflichtet Hilko ihr bei. Auch die anderen murren und maulen.

„Das wollen wir alle nicht“, beruhigt Herr Jung die Klasse. „Dann fragt doch bitte eure Mütter übers Wochenende, ob sie nicht ein paar Tage mit unserer Klasse verbringen möchten.“

Ich muss mich sehr zurückhalten, um nicht laut durch die Klasse zu rufen: „Es stimmt nicht, dass alle wegfahren wollen! Ich zum Beispiel bleibe gerne hier!“ Aber so langsam überfällt mich der Verdacht, dass ich der einzige bin, der nicht so gern auf Klassenfahrten fährt.

„Meine Mutter kann sowieso nicht“, stöhnt Christina. „Die muss arbeiten.“

„Meine auch nicht“, klagt Deborah, „ich habe noch fünf Geschwister zu Hause, auf die sie aufpassen muss.“

Fünf Minuten später hat Beatrix, unsere Klassensprecherin, eine Liste angefertigt, in der alle Namen unserer Klasse untereinander geschrieben stehen. Sie gibt die Liste durch die Reihen. Jeder soll ein Kreuzchen hinter seinen Namen setzen, wenn er meint, dass seine Mutter vielleicht Zeit und Lust hätte. Als die Stunde zu Ende und die Liste wieder bei Bea ist, hat niemand ein Kreuzchen gemacht. Ein gutes Zeichen, finde ich.

Zu Hause beim Mittagessen ist Mama bereits informiert. Beas Mutter ist gleichzeitig die Elternpflegschafts… bla, bla … also die Klassensprecherin der Eltern sozusagen. Und die hat schon eine Mail an alle Eltern geschrieben. Sie selbst kann auch nicht, schreibt sie, weil sie berufstätig ist und so schnell keinen Urlaub bekommt. Aber bestimmt kann doch eine der anderen Mütter, und sicher wollen doch alle, dass die Klassenfahrt stattfindet, weil es doch so sehr die Klassengemeinschaft stärkt und man so schöne Dinge erleben kann.

„Das wäre ja wirklich schade, wenn das ausfallen würde“, fasst Mama ihren Bericht über die Mail zusammen. „Was ist denn mit der Mutter von Hilko? Die ist doch immer froh, wenn sie mal von zu Hause weg kommt.“

„Keine Ahnung.“ Ich habe nicht wirklich Lust, mir über andere Mütter Gedanken zu machen. Wenn die Klassenfahrt ausfällt, können wir ja nächste Woche stattdessen einen Film gucken und Spiele auf dem Schulhof spielen.

Da schaltet sich mein kleiner Bruder Lasse ein: „Mama, du kannst doch mitfahren!“

Mama lächelt. „Und wer soll so lange auf dich aufpassen?“

„Papa!“

„Und während er auf der Arbeit ist?“

„Da pass ich auf mich selbst auf!“ Lasse grinst übers ganze Gesicht.

Hab ich schon erzählt, dass ich einen kleinen Bruder habe? ­Lasse. Sechs Jahre, erste Klasse. An sich ganz lieb und lustig, aber manchmal etwas vorlaut und nervig. Wie kleine Brüder nun mal so sind. Ich bin schon elf Jahre und gehe in die fünfte Klasse. Ich hab das leichte Leben der Grundschule schon hinter mir. In der weiterführenden Schule fängt der Ernst des Lebens an. Das weiß Lasse natürlich noch nicht. Innerlich muss ich lachen, wenn ich mir vorstelle, wie sich mein Bruder hier zu Hause selbst versorgt: Gummibärchen-Suppe kochen, das ganze Wohnzimmer mit Legosteinen auslegen und die komplette DVD-Box „Biene Maja“ hintereinanderweg anschauen. Und dabei sind die Backen vollgestopft mit Eis und Schokolade. Lustig. Wie gesagt: Innerlich lache ich. Äußerlich natürlich nicht. Ich hoffe stark, dass Mama diese Idee nicht ernsthaft weiterverfolgt. Was gibt es Peinlicheres, als wenn die eigene Mutter mit auf Klassenfahrt fährt? Am Ende macht sie morgens noch mein Bett und achtet beim Essen darauf, dass ich genug Salat esse und brav meinen Teller leer mache. Nein, danke.

Mama lacht und wuschelt Lasse mit der Hand über den Kopf. „Das könnte dir so passen.“

Lasse streckt seine Gabel in die Luft: „Ich hab eine noch bessere Idee: Ich komme mit!“

Fast verschlucke ich mich, als ich das höre. Ja, wirklich. Lasses Ideen werden immer besser! Die einzige Steigerung der Peinlichkeit, dass die eigene Mutter mit auf Klassenfahrt fährt, wäre die, dass auch noch mein kleiner Erstklässler-Bruder mitkommt! Dagegen sind gelbe Marmeladenmatsche und quietschende Betten ja überhaupt nichts!

Lasse wendet sich an mich: „Ben, würde dir das auch gefallen, wenn ich mitkäme?“

„Ja, klar, Lasse. Ich würde vor Glück Purzelbäume schlagen.“

„Wirklich?“, strahlt Lasse. „Ich auch!“ Er klopft Mama auf den Unterarm. „Siehst du, Mama, Ben würde das auch gefallen! Der ganzen Klasse von Ben würde das gut gefallen! Und ich möchte sooo gerne mal die großen Kinder in Bens Klasse kennenlernen! Und ich möchte auch die Klassengemeinschaft stärken! Und ich möchte schöne Dinge erleben! Ja, darf ich mitfahren? Jaaaa?“ Er klimpert mit den Augen und schiebt seine Unterlippe so weit nach vorne, dass man ein Glas darauf abstellen könnte. „Bitte, bitte.“

Wieder lacht Mama. „Du kleiner Quatschkopf. Du musst doch selbst zur Schule. Da kannst du doch nicht einfach ein paar Tage fehlen.“

„Klar kann ich das! Ich kann doch schon alles lesen und schreiben! Und rechnen kann ich schon bis mindestens zehn. Viel mehr muss man im ersten Schuljahr nicht können, hab ich recht? Also, eigentlich geh ich ja sowieso nur in die Schule, damit Frau Aust sich nicht langweilt. Die anderen reden so wenig im Unterricht – wenn ich mich nicht andauernd melden und Geschichten von zu Hause erzählen würde, würden wir nur herumsitzen und aufgemalte Äpfel im Rechenbuch zählen.“

Jetzt werde ich doch ein bisschen hellhörig. „Was erzählst du denn für Geschichten von zu Hause?“, frage ich.

„Ach, was wir alles so Lustiges erleben. Wie du, Ben, zum Beispiel letzte Woche im Bad ausgerutscht bist und beim Hinfallen noch den Handtuchhalter mit runtergerissen hast. Das war voll witzig! Alle Kinder in meiner Klasse haben sich halb tot gelacht, als ich das erzählt habe!“

Mir klappt der Mund auf. „Das erzählst du im Unterricht???“

„Ja, ich erzähle noch mehr. Wir haben es immer total lustig bei uns. Natürlich nur wegen mir, weil ich die Geschichten erzähle. Und wegen dir, weil du die Hauptperson in meinen Geschichten bist! Die anderen wollen dich unbedingt mal kennenlernen, haben sie gesagt!“

„Ich glaube, du spinnst! Ich verbiete dir, den anderen zu erzählen, wie mir blöde Sachen passieren!“

„Ach, ich erzähl ja nicht nur die blöden Sachen. Ich hab auch erzählt, dass wir beide Agenten sind und Verbrecher jagen. Und dass du mir zu Weihnachten diese tolle Anstecknadel gebastelt hast! Ich hab die Brosche herumgehen lassen und alle Kinder haben gestaunt, als sie sie gesehen haben!“

„Was hast du??!!“ Ich stelle mir gerade vor, wie jedes Kind in Lasses Klasse dieses peinliche Teil aus Goldpapier in seinen verschwitzten Erstklässler-Händchen hält. Dieses Ding hab ich mal aus lauter Not, weil ich wirklich nicht wusste, was ich meinem Bruder zu Weihnachten schenken sollte, fünf Minuten vor der Bescherung gebastelt. Einfach ein paar Glitzersteinchen auf ein Goldpapier-Ei geklebt und „Agent Lasse Baumann“ drauf geschrieben. Lasse hat sich tierisch gefreut. Aber wenn ich gewusst hätte, dass er das überall herumzeigt und dabei erklärt, dass ich es gebastelt habe, dann hätte ich mir mehr Mühe gegeben. Wenn am Ende sogar die Lehrerin dieses Ding in die Hand bekommen und dabei gehört hat, dass ich schon in der fünften Klasse bin, dann wird sie sich fragen: Wie kann einer in die fünfte Klasse gehen und immer noch so ausschneiden wie im Kindergarten? Oh Mann. Dieser Junge blamiert mich sogar, wenn ich nicht dabei bin. Wenn der jetzt auch noch mit auf Klassenfahrt kommt, dann kann ich mich in der ganzen Schule nicht mehr blicken lassen.

Ben und Lasse - Agenten ohne heiße Spur

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