Читать книгу Ben und Lasse - Agenten ohne heiße Spur - Harry Voß - Страница 5
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ОглавлениеAm Montag hat sich noch immer keine Mutter gefunden, die mitkommen kann.
„Bis spätestens heute Nachmittag muss ich wissen, ob wir eine weibliche Begleitung haben“, sagt Herr Jung. „Sonst rufe ich in der Jugendherberge an und sage Bescheid, dass wir nicht kommen.“
Bea springt auf: „Nein, bitte nicht!“ Sie schaut einmal kurz durch die Klasse und zeigt dann mit ausgetrecktem Arm auf mich. „Was ist mit dir, Ben? Geht deine Mutter auch arbeiten?“
„Nein“, antworte ich. „Aber ich habe noch einen kleinen Bruder, auf den muss sie aufpassen.“
„Wie klein ist der?“, fragt Julian. „Ein Baby?“
Julian treffe ich jeden Morgen, wenn ich mit Lasse zusammen zur Schule gehe. Auf meinem Weg zur Schule komme ich an der Grundschule vorbei. Darum gehen wir die meiste Zeit des Weges gemeinsam. Und Julian geht auch denselben Weg.
„Du kennst doch meinen Bruder Lasse!“, gebe ich etwas fassungslos zurück. „Du siehst ihn jeden Morgen! Er geht in die erste Klasse!“
„Ach, der!“ Er nickt und versinkt wieder in seinem Reich der Träume.
„Ist das der mit der obercoolen Anstecknadel“, ruft Tobias laut, „mit der Aufschrift: ‚Agent Lasse Baumann‘?“
Gleich versinke ich im Erdboden. „Ja, der ist das.“
„Ach, der!“, fällt es jetzt auch Jonathan ein. „Als wir neulich alle nach dem Probe-Feueralarm auf dem Schulhof standen und unser Schulleiter uns einen Vortrag über richtiges Verhalten bei Katastrophen halten wollte – da kam dieser Trupp mit Kindergartenkindern im Gänsemarsch an unserem Schulhof vorbei. Und einer hat seine Arme hochgerissen und ganz laut gebrüllt: ‚Hallo, Ben! Hallo Ben! Da, seht ihr? Das ist mein Bruder Ben! Der, der sich gerade die Hände vors Gesicht hält!‘ 400 Schüler haben zuerst ihn, dann dich angestarrt. Ist dieser Junge dein Bruder Lasse?“
Ich muss mir wieder die Hände vors Gesicht halten. „Es waren keine Kindergartenkinder, sondern Erstklässler“, hauche ich. „Aber sonst war alles genau so, wie du es erzählt hast. Ja, das ist mein Bruder Lasse.“
„Der ist cool“, lacht Jonathan.
„Ich find den süß“, flötet Sarah.
„Ich auch!“, rufen noch ein paar Mädchen.
„Bring ihn doch mit“, gackert Christina.
„So weit kommt’s noch“, brumme ich.
Herr Jung schaltet sich ein: „Wenn er in seiner Klasse ein paar Tage Schulbefreiung bekommt, kann er von mir aus gerne mitfahren. Wenn wir damit unsere Klassenfahrt retten können, würde ich dem zustimmen.“ Er geht ein paar Schritte auf mich zu. „Sofern deine Mutter das erlaubt.“
Sofern ICH das erlaube, hätte ich am liebsten erwidert. Aber mich fragt ja hier keiner. Ich merke, wie mir der Schweiß ausbricht.
„Oh ja, das wäre süß!“, ruft Sarah wieder und faltet ihre Hände neben ihrer Wange, als hätte ihr gerade jemand einen riesengroßen Teddybären geschenkt.
„Dein Bruder ist echt cool!“, bestätigt Mimi.
Hab ich schon mal gesagt, dass ich Klassenfahrten hasse? Hab ich auch schon mal gesagt, dass ich es peinlich finde, wenn die eigene Mutter mit auf Klassenfahrt kommt? Und hab ich obendrein schon mal bemerkt, dass es so ziemlich das Schlimmste ist, was einem elfjährigen Geheimagenten passieren kann, wenn neben der Mutter auch noch der sechsjährige Bruder mit auf Klassenfahrt kommt?
Lasse empfängt mich schon an der Haustür, als ich mittags nach Hause komme. „Frau Aust hat gesagt, sie macht eine Ausnahme! Eigentlich geht das ja nicht, denn da könnte ja jeder kommen, aber weil du sonst nicht auf Klassenfahrt mitfahren kannst und weil du vor Glück Purzelbäume schlägst, wenn ich mitkomme – darum hat sie es erlaubt. Klasse, was?“
„Ganz klasse, Lasse.“ Ich dränge mich an ihm vorbei zur Haustür rein. Hab ich Fieber oder ist es die Aussicht auf eine Klassenfahrt mit Lasse im Gepäck, die mir am ganzen Körper den Schweiß ausbrechen lässt?
Mama erklärt beim Mittagessen: Sie hat schon mit Papa gesprochen und er ist einverstanden. Sie hat auch mit Frau Aust gesprochen und ihr die Situation erklärt. Die hat ihr gesagt, dass Lasse so ein aufgeweckter Junge sei und so gut im Unterricht mitmache, dass es gar nicht schlimm ist, wenn er in so einem Ausnahmefall mal für drei Tage fehle. Mama wird nachher mit Herrn Jung telefonieren. Und dann ist die Klassenfahrt gerettet. Danke, Leute. Ganz rücksichtsvoll.
„Oh Mann, ich freu mich schon!“ Lasse hüpft wie ein Frosch um den Esstisch.
Mama schaut mich von der Seite an, legt ihren Kopf schief und lächelt: „Oder findest du das doof?“
Prima gemacht. Ganz toll eingefädelt! Zuerst sprecht ihr alles ab – mit den Lehrern, mit Papa, mit Lasse – und wenn alles geklärt ist, wird zu allerletzt derjenige gefragt, um dessen Klassenfahrt es überhaupt geht! Was soll ich denn jetzt noch antworten? Ich bin so sauer, ich würde am liebsten irgendwas durch das Zimmer werfen. Mein Kinn zittert. Ich kneife meine Augen zu. Ich muss feste schlucken. Dann sage ich: „Nein, alles in Ordnung.“ Und bevor ich hier vor meinem kleinen Bruder anfange zu heulen, stampfe ich wütend in mein Zimmer und knalle die Tür zu.
So sind Erwachsene. Zumindest ist es das, was ich bis jetzt über sie herausgefunden habe. Sie sind so besorgt um ihre Kinder. Aber wenn es darum geht, für die Schule oder sonst irgendwo eine Situation zu retten, dann tun sie alles dafür, damit alle glücklich und zufrieden sind. Und dann fragen sie überhaupt nicht mehr, ob es den Kindern gut damit geht. Dann gehen sie davon aus, dass die Kinder sowieso alles in Ordnung finden, was die Erwachsenen beschließen. Alle Kinder lieben Klassenfahrten. Logisch. Also fahren wir doch mal eben alle zusammen weg. Alle Kinder mögen es, wenn die Mutter mitfährt. Und bestimmt mögen es alle Kinder, wenn die kleinen Brüder mitkommen. Also muss man gar nicht fragen. Nö. Einfach planen. Und am Schluss dann noch kurz: „Nicht wahr, das ist doch in Ordnung so für dich?“ Nee, Leute. Nicht mit mir.
Bald darauf klopft es an meiner Zimmertür. Ich sitze mit verschränkten Armen auf meinem Schreibtischstuhl und schaue aus dem Fenster.
Mama kommt rein.
Lasse steht hinter ihr: „Was hat Ben? Mama, was hat Ben?“
„Geh in dein Zimmer, Lasse“, sagt Mama leise und schiebt ihn ein bisschen zurück. „Ich muss mal mit ihm reden.“
„Was hat Ben, Mama?“
„Geh jetzt.“ Mama schließt die Tür vor seiner Nase. Lasse ist draußen.
Ich schaue immer noch zum Fenster raus.
Mama steht neben mir und hat ihre Hände vor dem Schoß aufeinander gelegt. „Ich wollte euch doch nur helfen“, sagt sie vorsichtig.
„Danke für die Hilfe“, brumme ich.
„Wenn sich bis heute Nachmittag keine Mutter gefunden hätte, dann wäre eure Klassenfahrt ausgefallen. Alle anderen scheinen überhaupt nicht zu können. Dass Lasse mitkommt, ist eine Notlösung. Aber ich dachte, es ist besser, als dass es ausfällt, oder?“
Ich antworte lieber nicht.
Mama seufzt. Dann sagt sie: „Es ist ja nicht so, dass es mir zu Hause langweilig wäre und ich unbedingt mit auf eure Klassenfahrt kommen wollte. Ich habe hier genug zu tun. Aber alle freuen sich schon so. Und da dachte ich, ich tu euch den Gefallen. Warum bist du denn plötzlich so ärgerlich darüber?“
Weil ich als Letztes gefragt werde, denke ich. Weil Mütter und Brüder auf einer Klassenfahrt peinlich sind. Aber ich sage nichts.
„Eine andere Mutter scheint sich ja nicht zu finden“, fährt Mama fort. Sie beugt sich leicht nach vorne und versucht, mir ins Gesicht zu sehen. „Oder wäre dir lieber gewesen, die Klassenfahrt fällt aus?“
Das war das richtige Stichwort. Ich merke, wie sich Wasser in meinen Augen sammelt. Jetzt nicht heulen, denke ich. Ich ziehe meine Augenbrauen zusammen und schaue noch angestrengter nach draußen.
Mama scheint das aufzufallen: „Möchtest du denn gar nicht auf die Klassenfahrt?“
Mein Kinn zittert. Meine Nase läuft ein bisschen. Aber sonst hab ich mich im Griff.
„Ist denn irgendwas passiert? Habt ihr Streit?“
Ich schüttle den Kopf. Nein, das ist es wirklich nicht. Streit haben wir nicht.
„Hast du Angst?“
Ich will schon wieder den Kopf schütteln, aber dann muss ich doch erst mal darüber nachdenken. Hab ich Angst? Ich wüsste nicht wovor. Aber irgendwie fühlt sich das Wort Angst richtig an. Das passt jetzt zu mir. Also zucke ich mit den Schultern.
„Denkst du, dass du mit den anderen nicht zurechtkommst?“, tastet sich Mama weiter vor.
Ich schüttle wieder den Kopf.
„Hast du Angst vor Heimweh?“
Puh. Heimweh ist ein krasses Wort. Wenn Lasse und ich in den Ferien bei Oma schlafen, denke ich nachts stundenlang an Mama und Papa, bevor ich einschlafe. So lange, bis es wehtut. Weh im Bauch. Weh im Herzen. Weh im Kopf. Aber ich weine nicht. Ich will nicht, dass Oma sich Sorgen macht. Als wir in der Grundschule schon mal für eine Nacht in so eine blöde Jugendherberge gefahren sind, hab ich auch ganz lange im Bett wach gelegen und es hat wehgetan. Aber ich habe erst geweint, als ich mir sicher war, dass alle anderen geschlafen haben. Ich denke nie so viel an Mama und Papa, wie wenn ich woanders schlafe. Ist das Heimweh? Wieder zucke ich mit den Schultern.
„Ach, Ben.“ Mama geht in die Hocke und dreht den Schreibtischstuhl so, dass sie mein Gesicht sehen kann. „Warum sagst du das denn nicht?“ Sie macht ein sorgenvolles Gesicht. „Freust du dich denn nicht, wenn ihr mal ein paar Tage rauskommt und ein paar Abenteuer woanders erlebt?“
Richtig geraten, Mama. Ich schüttle den Kopf. Ich ziehe die Nase hoch.
„Aber warum denn nicht?“
Warum, warum? Ich weiß es doch selbst nicht! Wie soll man einer Mama erklären, warum man nicht weg will? Ist es so schlimm, wenn einer lieber zu Hause ist, wo er sich auskennt? Als ich den Mund öffne, um was zu sagen, merke ich, dass er voller Rotz und Schleim ist. Ich muss erst mal schlucken und räuspern. Dann versuche ich es: „Ich will einfach nicht. Ich kenn mich da nicht aus. Ich weiß nicht, was da kommt. Ich weiß nicht, ob es mir da gefällt. Ich hab Angst, dass die anderen die ganze Zeit fröhlich sind und ich immer nur nach Hause will. Ich will nicht mit den anderen in einem Zimmer schlafen. Beim letzten Mal wollte ich schlafen und die anderen haben noch ganz lange gequatscht. Dann war ich am nächsten Tag müde und schlecht gelaunt, aber niemand hat das bemerkt. Ich hatte Bauchschmerzen und wollte immer nur ins Bett. Aber wir haben immer irgendwas unternommen.“ Ich atme einmal tief ein und aus. Jetzt ist es raus. Der Hals ist wieder frei. Ich wische mir einen feuchten Streifen von der Wange.
„Aber du hast doch nachher erzählt, dass es schön war?“
„Ja, es war ja auch schön.“
Klar, dass Erwachsene das nicht kapieren. Es war schön, aber zwischendurch war es auch schwer. Beides. Das scheinen Erwachsene nicht zu kennen.
Mama streicht mir über den Arm. „Ach, du armer Kerl. Das wusste ich gar nicht.“ Sie schaut mich noch mal mit ihrem lieben Mama-Lächeln an. „Soll ich denn lieber wieder absagen?“
„Nein.“ Ich ziehe die Nase hoch und schüttle den Kopf. So langsam geht es mir wieder besser. „Die anderen freuen sich ja so. Und ich krieg es schon irgendwie hin. Es wird bestimmt schön.“ Ich schaue Mama an und versuche zu lächeln. „Und es stärkt ja auch die Klassengemeinschaft und wir erleben schöne Dinge.“
Mama lacht. „Genau.“ Dann zieht sie die Augenbrauen hoch. „Und was ist mit Lasse? Ist es denn in Ordnung, wenn er mitkommt?“
Ich seufze. „Geht ja wohl nicht anders. Aber ich fand auch doof, dass ihr mich nie gefragt habt, ob ich damit einverstanden bin. Mit Papa hast du gesprochen, mit Herrn Jung, mit Lasses Lehrerin – aber nicht mit mir.“
„Das stimmt. Da hast du recht. Das war ziemlich dumm von uns.“ Mama presst schuldbewusst ihre Lippen zusammen. „Ich hab gedacht, du freust dich richtig doll auf die Klassenfahrt. Darum wollte ich dir und der ganzen Klasse helfen. Aber ich hätte dich natürlich zuerst fragen müssen.“ Sie zieht wieder die Augenbrauen hoch. „Das tut mir leid.“
Das tut gut, wenn Erwachsene sich entschuldigen. Jetzt kann ich auch Mama wieder anschauen, ohne dass mir die Tränen kommen. „Aber wehe, Lasse schläft mit mir in einem Zimmer!“
Mama lacht wieder. „Nein, keine Angst. Der schläft natürlich bei mir im Zimmer. Und wenn ihr Großen was unter euch machen wollt, dann kann ich mit Lasse was spielen oder ein bisschen spazieren gehen.“
Meine Zimmertür donnert auf, Lasse stürzt herein und kommt bis direkt vor meinen Schreibtisch: „Nicht spazieren gehen, Mama! Wir wollen doch die Klassengemeinschaft stärken und schöne Dinge erleben! Nicht wahr, Ben?“
Am liebsten wäre ich ausgerastet, weil Lasse offensichtlich das ganze Gespräch an der Tür belauscht hat. Und jetzt sieht er auch noch mein verheultes Gesicht. Aber weil er mich so lieb anstrahlt, kann ich nicht schimpfen. Irgendwie ist er ja auch süß, der Kleine. Obwohl mir vorhin noch zum Heulen zumute war, muss ich jetzt lachen. „Lasse, es ist meine Klassengemeinschaft. Die musst du nicht stärken. Okay?“
Lasse grinst breit. „Okay, Boss. Wir teilen uns auf: Du stärkst die Klassengemeinschaft, und ich löse alle Kriminalfälle, die sich dort ergeben.“
„Klingt vernünftig, Agent Lasse.“ Endlich kann ich wieder befreit aufatmen. Na gut, dann kann die Klassenfahrt von mir aus jetzt kommen.