Читать книгу Revolverhelden auf Klassenfahrt - Hartmut El Kurdi - Страница 6

Jetzt neu: Das Ego-Deppen-Ticket der DB

Оглавление

MEIN LIEBLINGSSPIEL IM KINDERGARTEN war: »Mein rechter, rechter Platz ist frei.« Weil man so – »Mein rechter, rechter Platz ist frei, ich wünsche mir die Sabine herbei« – Menschen, die man attraktiv oder gutriechend fand, zumindest kurzzeitig neben sich platzieren konnte. Um vielleicht ein wenig an ihnen zu schnuppern, auch im übertragenen Sinne. Bis sie von jemand anderem wieder weggewünscht wurden. An einen anderen »rechten Platz«. Das war dann jedes Mal ein kleiner, spitzer Trennungsschmerz ...

Manchmal gab es beim Spielen auch Streit – weniger darum, wer wo sitzen sollte, als um die Wortwahl. Gewisse Personen behaupteten, das Spiel hieße »Mein rechter, rechter Platz ist leer«. Und der sich reimende Spruch lautete dann: »Mein rechter, rechter Platz ist leer, ich wünsche mir den Matze her.« Matze oder Mathias hießen bei uns alle Jungs, die nicht Andreas oder Andi hießen. Oder Thomas. Nur ich hieß Hartmut, aber das ist ein anderes trauriges Thema.

Manche meiner Mitkinder waren durch den Streit, ob es nun »leer« oder »frei« heißt, so verwirrt, dass sie sich harmoniesüchtig an beide Seiten anbiederten: »Mein rechter, rechter Platz ist leer, ich wünsche mir den Matze herbei.«

Hmm … Ich glaube, damals entstand meine Aversion gegen reimlose Gedichte: Ob Geschenktext oder Hochkultur, Christiane Allert-Wybranitz, Günther Grass oder Durs Grünbein. Für mich alles der gleiche Schmonzes. Wenn man so etwas schon schreiben muss, warum kann man es dann nicht »rhythmisierte Kurzprosa« nennen? Wieso muss da »Gedicht« draufstehen?

Eine reimlose Gedichtform finde ich allerdings super: das Elfchen. Das Elfchen ist so eine Art Kinder-Haiku. Es besteht aus elf Wörtern: In der ersten Zeile steht ein einzelnes Wort, in der zweiten zwei Wörter, in der dritten drei, in der vierten vier und in der fünften … nein, nicht fünf, sondern wieder ein Solo-Wort. Sonst wäre es ja kein Elfchen, sondern ein Fünfzehnchen.

Elfchen werden gerne in Grundschulen geschrieben, »creative writing« auf ABC-Schützen-Niveau. Ich hab grade mal gegoogelt und sofort was gefunden, geschrieben von Schülern der Klasse 2a in Harheim/Frankfurt: »Rot / Die Rose / Hat spitze Stacheln / Ich piekse mich daran / Autsch!« Oder: » Rot / Das Rotkehlchen / Es legt Eier / Das Männchen passt auf / Familie!« Dagegen kann man doch weder ästhetisch noch inhaltlich etwas sagen. Vor allem das zweite Gedicht ist z.B. gendertechnisch weit fortschrittlicher als die bundesdeutsche Familienrealität.

Aber ich bin schon wieder abgeschweift. Also, warum erzähle ich hier von »Mein rechter, rechter Platz ist frei«? Weil dieses schöne Spiel tot ist. Tot und begraben. Denn es gibt in Deutschland keine freien Plätze mehr. Und niemand wünscht sich irgendjemanden neben sich. Weder rechts noch links. Zumindest nicht in Bussen, U-Bahnen oder Zügen der Deutschen Bahn. Betritt man zum Beispiel einen beliebigen ICE-Waggon, stellt man fest: Alle Plätze sind besetzt, egal, wie viele Fahrgäste sich darin befinden, egal, wie viele zusätzlich einsteigen.

Denn auf den eigentlich freien Plätzen neben den Individualreisenden türmt sich Zeug: Tüten, Taschen, Koffer, Zeitungen, Bücher, Tupperdosen, Wasserflaschen, Unterhaltungselektronik, Mäntel, Jacken, Reptilien ... Und die ignoranten Sitzplatzinhaber tun so, als bemerkten sie die Sitzplatzsuchenden nicht. Oft muss man sie auf den Kopf hauen oder ihnen unsanft die mp3-Hörer aus den Ohren zutzeln, damit die Frage: »Ist der Platz frei?« überhaupt einen Adressaten beziehungsweise Empfänger findet.

Neulich sah ich jemanden, der auf dem Platz neben sich einen mittelgroßen schwarzen Plastikwürfel abgestellt hatte. Für einen orthopädischen Bandscheibenblock aus dem Sanitätshaus zu klein, für ein Kinderspielzeug zu groß. Es war klar: Dies war ein einzig zu diesem Zweck entworfener und hergestellter Platznebensichblockierer. Im Manufaktum-Katalog wahrscheinlich auch in »Erle Natur« oder »Bakelit« zu bestellen.

Denn das fällt auf: Oft ist es die akademische Laptop- und Tablet-Mittelschicht, die anderen die Sitzplätze zumüllt. Statt einfach 1. Klasse zu fahren, wenn sie es denn geräumiger und leerer haben wollen. So geschäftig, wie die tun, müsste es dazu doch reichen.

Aber vielleicht ist das ganze Phänomen auch nur ein von mir unbemerkt gebliebenes Spar-Angebot der Bahn: das günstige »Ego-Deppen-Ticket – einen Platz bezahlen, zwei blockieren!« Zumindest würde das zum geis­teskranken Gesamtkonzept der Bahn passen, dessen innere Logik man nur noch verstehen kann, wenn man sich von der äußeren Logik dieser Welt verabschiedet. Für immer.

Revolverhelden auf Klassenfahrt

Подняться наверх