Читать книгу Abdullahs endliche Reise - Hasan Basri Erdem - Страница 15

Kapitel 3

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„Wach auf, mein Engel“, sagte Fatima leise zu Abdullah. Sie kam sich vor, als würde sie ihren Sohn mit ihren eigenen Händen dem Tod ausliefern. Aber sie durfte ihre Gefühle jetzt nicht zeigen. Sie musste stolz bleiben und die letzten Minuten auskosten, die sie mit ihrem Sohn verbringen durfte. Die Zeit war gekommen. Die Zeit des Abschieds, die Zeit der Trennung, die Zeit der Trauer, die Zeit der Leere.

„Ich bin wach, Mutter“, sagte Abdullah. „Ich konnte gar nicht schlafen. Ich hatte zwar meine Augen geschlossen, aber ich habe die ganze Zeit über nachgedacht.“

Sie blickte ihn mit feuchten Augen und einem traurigen Lächeln an und hörte ihm einfach nur zu.

„Ich dachte mir: Warum ich?“, fuhr er fort. „Es gibt immer noch Milliarden von Menschen auf der Welt, und ausgerechnet ich bin mit den übrigen Fünf dazu auserwählt worden, die ganze Menschheit zu retten? Warum ich, Mutter? Warum nicht ein anderer? Hast du eine Antwort auf diese Frage?“

Fatima wusste, dass sie jetzt gefordert war, denn sie spürte Abdullahs Unsicherheit. Es war zwar nur eine leichte Beklemmung, aber schon das allein konnte ausreichen, um die gesamte Mission zu gefährden.

Noch schlimmer wäre jedoch gewesen, wenn Abdullah deswegen von der Mission ausgeschlossen werden würde, denn Fatima war klar, dass ihr Sohn damit nicht leben können würde. Er wäre am Boden zerstört, dachte sie. Keiner kannte Abdullah so gut wie sie. Schließlich hatte sie ihn großgezogen.

„Mein Sohn, wir alle haben unser eigenes Schicksal, und das hat keiner selbst bestimmt“, meinte sie. „Ich muss zugeben, dass das Leben nicht immer gut zu uns war. Aber vergiss nicht, mein Engel: ‚Wer nicht sät, der erntet nichts. Was können wir mitnehmen, wenn unsere Taschen leer sind?‘ Als sie dich damals zu mir brachten, beauftragten sie mich unter anderem damit, dich den Islam zu lehren. Das war sogar der Grund, aus dem sie mich überhaupt als deine Ersatzmutter ausgewählt hatten. Dank meines Theologiestudiums war ich wie geschaffen für diese Aufgabe. „Ich habe dich also in all den Jahren systematisch alles gelehrt, was ich über den Islam weiß. Heute weißt du sogar noch viel mehr als ich. Aber dass dein Glaube dich im Stich lässt, das darfst du nicht zulassen.

„Wenn du der Auserwählte bist, dann gibt es bestimmt einen sehr guten Grund dafür. Du hast damit etwas in der Hand, das du mitnehmen kannst. Verstehst du, was ich damit meine?

„Irgendwann wirst du vor deinem Schöpfer stehen, und wenn er dich fragt, was du auf der Welt Gutes geleistet hast, dann kannst du das, was du mitgenommen hast, vorzeigen. Dann sagst du: ‚Hier, mein Schöpfer, ich habe mein Leben geopfert, damit andere Menschen weiterleben konnten.‘ Das ist sehr viel wert. Wer kann denn heutzutage noch so etwas mitnehmen?

„Erinnere dich daran, wie ich dir als kleines Kind aus dem Leben des verehrten Halid bin Velid vorgelesen habe, von dem ‚Seyfullah‘, also dem Schwert Allahs. Als Kommandant der islamischen Streitkräfte zog er in mehr als hundert Schlachten, und keine einzige davon hatte er verloren. Sein größter Wunsch aber war es, in einer dieser Schlachten den Märtyrertod zu finden.

„Doch der Prophet, Friede sei mit ihm, sagte: ‚Halid bin Velid ist wie das Schwert Allahs. Würde er im Krieg fallen, wäre das, als wenn Allahs Schwert bräche. Deswegen wird er nie den ersehnten Märtyrertod sterben können.‘

„Und so sagte dieser Kommandant kurz vor seinem Tode in Humus auf seinem Krankenbett: ‚Ich habe in unzähligen Schlachten gekämpft, an meinem Körper gibt es keine Stelle, an der ich nicht von einem Schwerthieb, von einem Pfeil oder einer Lanze getroffen und verwundet worden wäre. Ich sterbe jetzt friedlich in meinem Bett. Alle Feiglinge sollten sich ein Beispiel daran nehmen.‘

„Also, mein Sohn: Du ziehst jetzt in eine Schlacht, in eine heilige Schlacht. Die Zeiten, in denen Menschen für den Dschihad in den Krieg gezogen sind, sind vorbei, und du weißt, dass dein größter Dschihad gegen deinen eigenen Willen zu führen ist. Doch der größte Dschihad der Menschheit besteht im Moment darin, diese Mission erfolgreich abzuschließen. Du darfst jetzt nicht an dir zweifeln. Die Menschheit braucht dich, Abdullah.“

„Mutter, du weißt, dass ich kein Feigling bin“, entgegnete er. „Aber du hast natürlich Recht. Er ist nicht sinnlos, mein Auftrag. Das Ganze macht mir nur ein bisschen Angst. Ich habe Angst davor, zu versagen, und gleichzeitig bin ich sehr aufgeregt und neugierig auf das, was mich da draußen erwartet. Dazu kommt, dass ich noch heute die anderen Fünf kennenlernen werde.“

„Du wirst alles perfekt meistern, da mache ich mir keine Sorgen. Ich denke sogar, dass man dich zum Anführer der Mission machen wird“, meinte Fatima.

„Wie kannst du davon ausgehen, ohne dass du die anderen überhaupt kennst!“, rief Abdullah kopfschüttelnd aus. „Ach ja, ich vergaß! Du bist ja meine Mutter. Ich bin mir sicher, dass du dir sogar schon Gedanken darüber machst, ob unter den übrigen nicht ein hübsches Mädchen sein könnte, das zu mir passt. Oder irre ich mich etwa?“

„Na ja“, sagte Fatima, „ich müsste lügen, wenn ich sagen würde, dass mir so etwas nicht durch den Kopf gegangen wäre. Ich glaube aber kaum, dass da ein Mädchen dabei ist, das wirklich für meinen gutaussehenden Sohn taugt. Ich schaue mir nämlich immer alle hübschen Mädchen ganz genau an, aber eine passende habe ich nie gefunden.“

„Oh je, Mutter, ich sehe schon: Wenn ich hierbleiben würde, müsste ich wahrscheinlich mein ganzes Leben nur mit dir verbringen. Da gehe ich lieber freiwillig ins Weltall, denn es ist wahrscheinlicher, dass ich dort eine außerirdische Frau heiraten werde, als dass du ein Mädchen auf der Erde findest, von dem du meinst, es wäre gut genug für mich“, scherzte Abdullah. Fatima lachte auf. Für eine Sekunde vergaß sie alles um sich herum. Noch waren sie zusammen, und das war das Wichtigste.

Die beiden machten das Beste aus der Zeit, die ihnen verblieb. Fatima hatte tagelang die köstlichsten Dinge für ihren Sohn vorbereit und den Tisch reichlich gedeckt. Ein letztes Essen zu zweit.

„Hoffentlich kommen die nicht zu früh, um mich abzuholen“, meinte Abdullah. „Wenn ich gehe, bevor ich diese Köstlichkeiten aufgegessen habe, verputzt du alles selber und wirst mir noch pummeliger dabei.“

Fatima musste wieder lachen, aber es war ein trauriges Lachen. In einem war sie sich sicher: Wenn Abdullah gegangen war, dann würde sie ihr Leben lang nie wieder so lachen können.

Mutter und Sohn blickten einander lange an. Sie rührten die verlockenden Speisen vor ihnen kaum an. Normalerweise hätte Abdullah schon ganz alleine alles verdrückt, was auf dem Tisch stand. Aber heute hatte er keinen Appetit. Der reich gedeckte Tisch war nur der letzte Anlass, um beieinander zu sein.

Und dann war es plötzlich so weit. Es klingelte an der Haustür. Fatima tat so, als ob sie es nicht gehört hätte. Sie versuchte, ein neues Gespräch anzufangen, versuchte Zeit zu gewinnen und Abdullah noch etwas von ihrem selbstgemachten Nachtisch zu reichen. Aber er blickte zu Boden. Er konnte sie in diesem Moment nicht ansehen, konnte ihr nicht in die Augen schauen.

Die Türklingel ging immer heftiger, als ob das verflixte Ding versuchen würde, die beiden auseinanderzureißen. In ihren Ohren war es ein schreckliches Geräusch. So traurig hatte diese Klingel noch nie geläutet.

Aber schließlich stand Abdullah auf und sagte: „Mutter, ich muss aufmachen, sonst denken die noch, dass etwas passiert ist. Sei bitte nicht traurig. Wenn du die Mutter eines Helden sein willst, musst du stark sein.“

Er öffnete die Tür. Zwei schwarz gekleidete, groß gewachsene Männer standen davor.

„Sie werden erwartet, Abdullah“, sagte der eine. Abdullah nickte, bedeutete den Männern seine Tasche, die neben der Tür stand, und bat sie um ein paar Minuten. Die beiden nahmen das Gepäck auf und gingen zurück zum Transporter. Es handelte sich um den legendären schwarzen EMGRAND GE, der nur zu besonderen Zwecken aus der Garage geholt wurde. Im Fond des Wagens war nur ein einzelner Sitz eingebaut. So saß man dort wie auf einem Thron. Welche Ehre, dachte Abdullah und wandte sich zu seiner Mutter um. Er nahm ihre Hände in die seinen und legte sie auf seine Wangen.

„Mutter, vergiss mich nicht“, sagte er leise, während die Tränen, die seine Wangen herunterliefen, Fatimas Hände nässten. Sie weinte auch, die letzten Tränen, die sie noch hatte. Sie war erschöpft und hatte keine Kraft mehr, aber das durfte sie Abdullah nicht merken lassen. Mit letzter Kraft hielt sie sich auf den Beinen und sagte: „Geh, mein Sohn, geh mit Allah, denn er wird immer eine Brücke zwischen uns sein, und er allein wird uns im nächsten Leben wieder vereinen.“

„Inschallah“, sagte Abdullah und küsste die Hand seiner Mutter. Noch einmal bat er sie um das Versprechen, vor dem Schöpfer ihre Zufriedenheit als Mutter zu bezeugen, wenn die Zeit gekommen war, so wie es im Islam der Brauch ist. Sie antwortet: „Ich schwöre bei Allah, dass ich mit dir als Sohn sehr zufrieden war. Ich werde vor dem Schöpfer keine Rechte mehr geltend machen, mein Sohn.“

Daraufhin stieg Abdullah in den Transporter, ohne sich noch einmal nach seiner Mutter umzusehen. Der EMGRAND GE fuhr los und riss diese beiden Menschen, die sich so sehr liebten, für immer auseinander.

Aber Abdullah blieb keine Zeit, seinen Gedanken nachzuhängen. Einer der Männer drehte sich zu ihm um und verkündete: „Es gibt eine kleine Planänderung. Professor Karimi hat angeordnet, Sie zum Militärflughafen zu fahren. Das Treffen wird in New York stattfinden.“

„Wieso müssen wir dann zum Militärflughafen?“ fragte Abdullah verwundert. „New York liegt doch näher als der Flughafen. Wieso fahren wir nicht gleich dorthin?“

„Ich meine New York, Abdullah, die echte, ursprüngliche Stadt New York“, entgegnete der Mann. Abdullah traute seinen Ohren kaum.

„Wie bitte? In den ehemaligen USA? Die Stadt gibt es noch?“, fragte er überrascht.

„Mehr können wir Ihnen im Moment nicht sagen, Abdullah“, meinte der Mann. „Näheres werden Sie erst im Flugzeug erfahren.“

Am Flughafen angekommen, wartete jedoch zunächst eine ganz andere Überraschung auf Abdullah. Die Bagdader Mitarbeiter von GLOBEX hatten sich geschlossen versammelt, um ihn zu verabschieden. All seine Ausbilder und Lehrer und all die Menschen, die ihn quasi großgezogen hatten, waren gekommen, um ihn ein letztes Mal zu sehen. Abdullah freute sich sehr, dass diese Leute, die ihm so nahestanden und ihn sein ganzes Leben lang begleitet hatten, diesen Weg auf sich genommen hatten. Allerdings konnte er sich nicht erklären, woher sie gewusst hatten, dass er heute und hier abfliegen würde. Schließlich war die ganze Sache TOP SECRET.

„Wie habt ihr das nur herausgefunden?“, machte er seiner Verwunderung Luft. Sie grinsten ihn an, und sein Informatiklehrer, Professor Dr. Juraj Kriwet, sagte: „Schließlich sind wir alle im selben Geschäft, Abdullah. Wir haben auch so unsere Tricks, um an Informationen ranzukommen. Oder hast du etwa gedacht, dass wir dich gehen lassen würden, ohne dich zu verabschieden?“

„Eigentlich habe ich mir schon insgeheim gewünscht, euch alle noch ein letztes Mal zu sehen“, gab Abdullah zu. „Aber ehrlich gesagt war ich auch froh, von dem ganzen Abschiednehmen verschont zu bleiben. Es ist einfach so, dass mir die Trennung von einem jeden von euch sehr schwer fällt. Wie soll ich da keine Emotionen zeigen? Aber einige von euch haben mich doch gelehrt, meine Gefühle im Zaum zu halten.“ Er seufzte tief. „Aber was soll ich sagen? Schon vorhin, als ich mich von meiner Mutter verabschiedete, gelang es mir nicht, meine Gefühle zu kontrollieren. Ich habe geweint.“

„Wir sind alle stolz auf dich“, entgegnete sein Kampfausbilder, ein alter Haudegen namens Weidenhausen, und legte ihm eine väterliche Hand auf die Schulter. „Du hast sogar in den schwierigsten Momenten immer Stärke gezeigt, mein Junge. Du hast immer allem standgehalten. Also sei mir jetzt bloß kein Weichei. Oder hast du etwa wieder die Hosen voll, so wie bei jedem Nahkampftraining gegen mich?“

Alle lachten, nur Abdullah nicht. Ihm war heute einfach nicht nach Lachen zumute. Also blieb er ernst und sagte: „Ich habe euch alle lieb und werde jeden einzelnen von euch vermissen. Ich habe nur einen Wunsch: Betet für mich, damit ich Erfolg habe und nicht alles umsonst war, was ihr mir beigebracht habt.

„Unsere Gebete sind mit dir“, sagten alle wie aus einem Mund.

„Und meine Gebete sind mit euch“, erwiderte Abdullah. Dann wandte er sich ab und begab sich langsam Richtung Schleuse, gefolgt von den beiden schwarz gekleideten Männern.

Am Ende des engen Korridors wartete ein älterer Mann mit einer auffällig dicken, schwarzen Hornbrille auf ihn. Er war groß gewachsen und sah in seinem weißen Anzug sehr gepflegt aus. Irgendwie kam der Mann Abdullah bekannt vor, obwohl er nicht hätte sagen können, warum.

Nun ja, ist ja eigentlich klar, dachte sich Abdullah. Mit den grauen Haaren und der dicken Brille sieht er ja irgendwie automatisch so aus, als wäre er in einer verantwortlicheren Position als die beiden Typen in Schwarz. Er wird sich mir schon vorstellen.

„Sei willkommen, Abdullah“, sagte da der Mann lächelnd und schüttelte Abdullahs Hand. „Ich bin Dr. Dale Gabriel. Ich arbeite für Professor Karimi. Um es genauer zu sagen, bin ich sein Assistent. Er hat mich gebeten, dich persönlich bei diesem Flug zu begleiten. Er wäre gerne selbst mitgekommen, aber andererseits verlässt er sehr ungern das Labor. Du weißt doch, wie wir alten Wissenschaftler so sind. Schließlich bist du ja inmitten einer Horde unseres Schlages aufgewachsen.“

„Freut mich, Sie kennenzulernen, Doktor“, entgegnete Abdullah. „Ich habe schon mein ganzes Leben lang von Professor Karimi gehört, aber ich hatte noch nie die Ehre, ihn persönlich kennenzulernen. Da wird es mir nicht schwerfallen, noch ein paar Stunden zu warten.“

„Ich verstehe schon“, sagte Dr. Gabriel, während er Abdullah von oben bis unten musterte. Es war, als würden seine Augen den jungen Mann durchleuchten.

„Du bist groß geworden“, fuhr er fort. Er lächelte immer noch. Man hätte es auch als ein Grinsen bezeichnen können. „Ich muss schon sagen, du hast dich genauso entwickelt, wie wir es erhofft hatten.“

Abdullah war ein sehr kluger junger Mann. Er brauchte nicht viel zu hören, um etwas zu begreifen. Doch in diesem Fall wollte er mehr herausbekommen und beschloss, nach Antworten zu graben. Er wollte sehen, ob es ihm nicht gelingen würde, mehr aus diesem mysteriösen Dr. Gabriel heraus zu kitzeln.

„Was meinen Sie damit? Haben Sie mich etwa schon einmal gesehen?“ fragte er, während sie sich gemeinsam Richtung Flugzeug begaben.

„Ja“, antwortete Dr. Gabriel auch prompt. „Professor Karimi und ich haben dich in der Tat schon des Öfteren besucht, Abdullah. Aber da warst du noch zu klein, um dich jetzt an uns zu erinnern. Du bist nicht zufällig hier, vergiss das nicht. Wir haben dich in den vergangenen Jahren nie aus den Augen gelassen. Du wurdest sogar immer wieder spontanen Prüfungen unterzogen, ohne dass du etwas davon gemerkt hättest.“

Dr. Gabriels Worte erschreckten Abdullah ein wenig. Er ließ sich aber nichts anmerken und spielte cool. Dem werde ich jetzt nicht den Gefallen tun und ihm noch weitere Fragen stellen, dachte er sich insgeheim. Er wird mir sowieso alles von sich aus erzählen, das spüre ich. Und nach dem, was ich in den letzten Jahren so alles über mich erfahren habe, kann mich sowieso nichts mehr überraschen.

Abdullahs plötzliches Schweigen führte dazu, dass sich Dr. Gabriel ihm noch einmal zuwandte. „Du hast dich genauso entwickelt, wie wir es uns vorgestellt hatten“, sagte er noch einmal.

Doch Abdullah reagierte wieder nicht. Sie waren inzwischen im Flugzeug angelangt. Bei der Maschine handelte es sich um den berühmt-berüchtigten Nurflügler NORTHROP F4, ein mit modernster Technologie ausgestattetes ferngesteuertes Flugobjekt.

Die ungewöhnliche Form des Flugzeugs war beachtlich. Im Vergleich zu der Militärversion war dieses GLOBEX-Modell größer und verfügte über einige luxuriöse Extras.

Das Flugobjekt sah so aus, als ob man die Fluggastkabine in die Flügel montiert hätte. Die Front war leicht gewölbt und komplett aus Glas. Die Sitze waren wiederum in Flugrichtung ausgerichtet, sodass man einen unbeschreiblichen Panoramablick genießen konnte. Auch in den Boden, unter den Füßen der Passagiere, waren zum Teil Glasplatten eingebaut. Man hatte also auch nach unten einen freien Blick. Abdullah hatte zwar schon von diesem Flugzeugtyp gehört, aber noch nie ein Modell aus der Nähe bewundern können, geschweige denn dass er in einem geflogen wäre.

Dr. Gabriel und Abdullah ließen sich in den luxuriösen, beigefarbenen Ledersitzen nieder. Sogleich ertönte aus den Lautsprechern ein Signalton, und eine freundliche Frauenstimme sagte: „Willkommen an Bord, meine Herren. Sie werden in genau neun Minuten und siebenundzwanzig Sekunden starten. Die reine Flugzeit nach New York beträgt zwei Stunden, einundvierzig Minuten und dreiunddreißig Sekunden.“

Abdullah tat weiterhin so, als ließe ihn die ganze Sache völlig unbeeindruckt. „Die Stewardess, nehme ich an“, sagte er lässig.

„Ich hoffe, du wirst es mir nicht übelnehmen, wenn ich nachher den Kaffee einschenke?“, entgegnete Dr. Gabriel mit einem weiteren Grinsen.

„Ich weiß, dass wir alleine sind“, gab Abdullah zu. „Aber ehrlich gesagt bereitet mir die Flugzeit ein wenig Kopfzerbrechen. In weniger als drei Stunden ans andere Ende der Welt? Das sind doch knapp zehntausend Kilometer, wenn ich mich nicht irre. Aber was soll‘s. Ich freue mich schon auf den Flug. Das wird bestimmt interessant.“

„Tja, die Technik macht‘s möglich, lieber Abdullah. Wegen des fehlenden Rumpfs ist die NORTHROP F4 gegenüber konventionellen Maschinen klar im Vorteil, was die Aerodynamik anbelangt. Dazu kommt, dass wir mit Hyperschallgeschwindigkeit fliegen können. Dank sei Gott, den neuen Antriebssystemen und der geringen Luftdichte! Die Letztere resultiert aus unserer ungewöhnlichen Flughöhe knapp unter der Atmosphäre, musst du wissen. Übrigens: Ich weiß, dass du körperlich fit bist, aber wenn du trotzdem etwas für deinen Magen nehmen willst, dann habe ich etwas dabei.“

„Ich denke, das wird nicht nötig sein“, meinte Abdullah. „Ich habe kaum etwas gegessen, und außerdem nehme ich an, dass bei so einer Geschwindigkeit die Scheiben abgedunkelt werden.“

„Da liegst du nicht falsch. Unsere Sauerstofftanks sind auch gefüllt, falls es dich interessiert. Aber lassen wir das alles jetzt. Ich habe wirklich wichtigere Dinge mit dir zu bereden. Schnall dich bitte an und hör mir gut zu.“

„Jetzt bin ich aber mal gespannt, was Sie zu erzählen haben“, entgegnete Abdullah. „Aber eines können Sie mir glauben: Egal, was Sie mir erzählen, mich kann nichts mehr überraschen.“

Aus Dr. Gabriels freundlichem Dauergrinsen wurde ein lautes Lachen. „Okay, dann machen wir es anders“, sagte er. „Du hast ja gehört, dass wir nur drei Stunden Zeit haben. Aber Professor Karimi hat mir aufgetragen, dich über einige Einzelheiten aufzuklären, bevor du mit ihm bekannt gemacht wirst. Denn glaub mir, Abdullah deine Reaktion auf die folgende Geschichte ist maßgeblich für die gesamte Mission.“

„Dann legen Sie mal los, bevor sie mich noch auf die Folter spannen“, gab Abdullah zurück. Dr. Gabriel ließ sich nicht lange bitten. Im selben Moment, da das Flugobjekt abhob, begann er mit seiner Geschichte, wobei er Abdullah tief in die Augen sah.

„Was man dir an deinem achtzehnten Geburtstag offenbarte, ist die Wahrheit“, erklärte er geheimnisvoll, „und das gilt auch für das, was dir deine Ersatzmutter, die liebe Fatima, noch vor deiner Aufklärungsschulung erzählte. Aber es ist nicht die ganze Wahrheit, und einige Einzelheiten verhalten sich vielleicht auch ein wenig anders, als du glaubst.“

„Also noch mehr Lügen“, unterbrach ihn Abdullah. Er wirkte ganz lässig, während er sich ganz entspannt im Sessel zurücklehnte. „Wie sollen wir denn nach so vielen Lügengeschichten überhaupt noch zusammenarbeiten? Oder ist das wieder einer von diesen Psychotests?“

„Bitte unterbrich mich nicht“, gab Dr. Gabriel zurück. „Was die Lügen angeht, magst du Recht haben, aber die ganze Sache lebt nun einmal von der Geheimhaltung. Das wirst du eines Tages verstehen. Den anderen Fünf, die du ja heute noch kennenlernen wirst, erging es auch nicht anders. Ihnen allen wurde fast dasselbe Schicksal zuteil wie dir. Fast.

„Also nochmal: Hör mir bitte zu, ohne mich zu unterbrechen. Es wird dir nicht alles gefallen, was ich dir zu sagen habe, aber du musst es erfahren und verarbeiten, bevor du den Professor triffst.“

Er räusperte sich und fuhr in bedeutungsvollen Tonfall fort: „Deine Eltern sind nicht im Krieg gefallen, wie man es dir erzählt hat.. Nein, die wahre Geschichte beginnt ganz anders:

„Professor Karimi war damals nur der Leiter des Labors SALOMON 8 in Bagdad, wo du ja auch ausgebildet wurdest. Mich hatte er gerade zu seinem persönlichen Assistenten gemacht, und deine Eltern waren seine wichtigsten Wissenschaftler. Sie waren wirklich von außergewöhnlicher Bedeutung für die GLOBEX Konföderation und leiteten ein Projekt namens ACTIVUS.

„Dein Vater hatte nach jahrelangen Forschungen herausgefunden, dass die Gesteine, die damals Millionen von Menschenleben gefordert und die gesamte USA unbewohnbar gemacht hatten und die uns überhaupt das Leben auf unserem blauen Planeten nach und nach zur Hölle machten – dass diese Steine auch gleichzeitig unsere letzte Hoffnung sind. Die erforschten Proben aus diesen radioaktiven Meteoriten hatten nämlich eine Eigenschaft des Gesteins ans Licht gebracht, die eines Tages unsere Rettung sein könnte.

„Einfach gesagt: Dein Vater war ein Genie. Er hatte es geschafft, durch ein extrem kompliziertes Verfahren eine pulverartige, nicht radioaktive Substanz herzustellen, die er ACTIVUS X nannte. Sie fungierte nämlich in Verbindung mit bestimmten Elementen als Superaktivator. Das heißt, sie verursacht eine um mehrere tausend Prozent erhöhte Reaktion der jeweiligen Eigenschaft eines beliebigen Elements oder Stoffes. In Verbindung mit Eisen war es zum Beispiel fast unzerstörbar, in Verbindung mit Wasserstoff und Kohlenstoff entstand eine derartige elastische Masse, dass wir daraus Spinnenseide ähnliche Fäden gewannen, die tausendmal fester waren als Stahl. In Anreicherung mit Uran würde ACTIVUS X eine so heftige Reaktion auslösen, dass nur eine einzige Nuklearbombe mit einer Mikrogrammmenge des angereicherten Urans ganze Länder zerstören könnte. Und als wir das Activus X schließlich mit Silizium, Bor und Lithium verbanden, erhielten wir eine unerschöpfliche Energiequelle, die uns schier zum Staunen brachte.

„Nun waren noch keine acht Wochen seit der Entdeckung der Substanz vergangen, und wir alle schufteten jeden Tag bis tief in die Nacht hinein. Aus Sicherheitsgründen konnten wir keine zusätzlichen Wissenschaftler einsetzen, die die Nachtschichten hätten übernehmen können.

„Dein Vater war wie besessen. Er arbeitete fast zwanzig Stunden am Tag, bis zur Erschöpfung. Dass die neuen Entdeckungen auch gefährliche Nebeneffekte mit sich brachten, war ihm natürlich klar. Zum Beispiel fanden wir heraus, dass sich Eisen nach der Versetzung mit ACTIVUS X nicht mehr formen ließ und schwerer war. Plastik wurde dagegen sehr leicht entzündlich, und die unerschöpfliche Energie aus unserer neu entdeckten Energiequelle konnten wir zu diesem Zeitpunkt noch nicht bändigen.

„Professor Karimi hatte deswegen strengstens verfügt, dass im Falle bestimmter gefährlicher Elementen nicht einmal mit Mikrogrammmengen experimentiert werden durfte. Aber trotzdem wollten wir alle so schnell wie möglich Ergebnisse sehen, nicht nur dein Vater. Schließlich hatten wir wieder Hoffnung geschöpft, und nur wir Handvoll Menschen wussten von dieser Sensation. Aber das war vielleicht auch gut so. Denn wenn diese Substanz je in die falschen Hände geraten würde, könnte es leicht so weit kommen, dass die Welt noch vor dem erwarteten Ende zerstört und die gesamte Menschheit mit einem Schlag ausradiert werden würde.

„Wir mussten also eine Entscheidung treffen. Entweder teilten wir unseren Fund der GLOBEX-Leitung mit und nahmen das Risiko in Kauf, dass etwas nach draußen durchsickern würde. Oder wir mussten die Sache für uns behalten, bis wir genügend Erkenntnisse gesammelt und die Substanz unter Kontrolle gebracht hatten.

„Bei einer unserer internen wöchentlichen Besprechung stimmten wir über diese Frage ab. Deine Eltern und Professor Karimi wollten erst einmal abwarten und unsere Analysen vertiefen. Sie befürchteten, dass die GLOBEX-Leitung nach der Bekanntgabe unserer Resultate andere Forscher hinzuziehen würde, und glaube mir, kein Wissenschaftler hat es gern, wenn jemand anderer an seinen Entdeckungen herumexperimentiert. Öffentlich würde das zwar keiner zugeben, aber es ist trotzdem so.

„Meiner Wenigkeit und unser fünftes Teammitglied waren aber anderer Ansicht als die übrigen drei. Wir meinten, dass es hier nicht um den Erfolg von GLOBEX gehe, sondern um die Existenz der ganzen Menschheit. Und wenn GLOBEX uns weitere Spezialisten zur Verfügung stellen würde, dann müssten wir doch eigentlich froh darüber sein.

„Professor Karimi war und ist ein vernünftiger Mann. Er hatte sich zwar auf die Seite deiner Eltern gestellt, weil er ehrlich der Meinung war, dass wir die Substanz zunächst in aller Ruhe analysieren sollten. Doch andererseits wäre es eine egoistische Entscheidung gewesen, diesen weltbewegenden Befund zu verschweigen. Schließlich waren bereits über acht Wochen vergangen – das hatte ich ja schon erwähnt – und die Resultate, die wir bis dato im Stundentakt erzielt hatten, hätten uns jedes für sich einen Nobelpreis eingebracht. Aber trotzdem lief die ganze Sache unserer Meinung nach nicht schnell genug.

„Schließlich verkündete Professor Karimi: ‚Liebe Freunde, ich glaube uns bleibt keine andere Wahl. Unser Labor hier ist eigentlich gar nicht sicher genug. Wir sollten den Befund melden und dafür sorgen, dass so schnell wie möglich Forschungen in alle Richtungen in die Wege geleitet werden, und zwar in einem moderneren Hochsicherheitslabor. Ich kann es nicht mehr verantworten, dieses Geheimnis auch nur noch einen Tag zu verschweigen, denn wie ihr wisst, läuft uns die Zeit davon. Soll doch die GLOBEX-Leitung die Last von meinen Schultern nehmen und entscheiden, wie wir weiter verfahren. Ihr wisst, wie gern ich unsere Entdeckung der Öffentlichkeit vorstellen würde, um den Menschen auf diesem einst so wunderschönen Planeten wieder Hoffnung zu geben. Aber ich kann es leider nicht.‘

„Die Unsicherheit des Professors entging deinem Vater nicht. Er hob dem Kopf, blickte in die Runde und begann ganz leise zu sprechen: ‚Ich muss euch etwas beichten, Kollegen.‘

„Wir spitzten natürlich sofort gespannt die Ohren. Dein Vater fuhr fort: ‚Ich bedauere es, aber ich habe bereits insgeheim viele weitere Untersuchungen mit der Substanz durchgeführt.‘

„Auf seine Worte hin herrschte Totenstille im Raum. Er hatte uns alle völlig überrascht. Selbst deine Mutter hatte nichts davon gewusst. ‚Wie konntest du das tun?‘, sagten ihre Blicke.

„Aber dein Vater sprach unbeirrt weiter: ‚Ich bin mir voll und ganz darüber im Klaren, dass das, was ich getan habe, selbstsüchtig und riskant war. Ich habe dadurch das ganze Projekt und alle Menschen hier im Labor in Gefahr gebracht. Aber vielleicht könnt ihr mir verzeihen, wenn ihr hört, was ich alles herausgefunden habe. Meine Untersuchungen haben nämlich ergeben, dass ACTIVUS X noch andere Eigenschaften hat als die, welche wir bis jetzt ermitteln konnten.‘

„Alle hörten wir ihm ungläubig und völlig geschockt zu. Aber meine wahre Sorge galt in diesem Moment hauptsächlich dem Professor. Er wechselte mit jedem Wort deines Vaters die Farbe und schien kurz davor zu sein, zu explodieren. Trotzdem fuhr dein Vater unbeeindruckt fort: ‚„Ich bin kurz davor, zu beweisen, dass dieses mysteriöse ACTIVUS X eine unglaubliche heilende Wirkung hat. Zum ersten Mal hegte ich eine solche Vermutung, als ich die Substanz einer Versuchsratte injizierte, und das Tier überhaupt keine Reaktion darauf zeigte. Das war doch höchst erstaunlich!

„ ‚Also injizierte ich die Ratte mit dem tödlichsten Gift, das wir vorrätig haben, nämlich Botulinumtoxin. Die Ratte hätte innerhalb von Sekunden tot umfallen müssen, aber wisst ihr, was? Das Tier lebt immer noch.

„ ‚Aber das Beste ist: Die Blutproben, die ich der Ratte entnommen habe, weisen überhaupt keine Spuren des hochdosierten Giftes auf. Es hat sich in Luft aufgelöst.‘

„Dein Vater war wie im Rausch, während er redete, und das verwunderte mich nicht. Schließlich musste er uns erklären, warum er sich so untragbar verhalten hatte, und uns alle umstimmen. Ohne auch nur einen Moment innezuhalten, fuhr er mit seiner Erzählung fort: „Ich machte weiter und injizierte die Versuchsratte mit den tödlichsten Viren. Ja, ich ging wieder heimlich nachts in das Sicherheitslabor und experimentierte mit Marburg, Ebola, Hanta und Lassa, und wieder zeigte die Ratte keine Reaktion. Die Viren waren weder in ihrem Blut und noch in ihrem Kot nachweisbar.‘

„ ‚Und das Sicherheitssystem hast du wohl umgangen, indem du deiner Frau die ID-Karte geklaut hast, nicht wahr?‘, fiel ich ein. Ich konnte mich keinen Moment mehr zurückhalten.

„Aber dein Vater ignorierte mich und erzählte immer weiter, wie er, trunken von seinen Entdeckungen, noch mit anderen Versuchstieren experimentiert hatte, und zwar erfolgreich.

„Er hatte sich geradezu in Ekstase geredet. Auf einmal jedoch wurde seine Stimme wieder leiser, und es schien ihm schwerzufallen, uns noch in die Augen zu sehen.

„ ‚Dann habe ich die Grenze komplett überschritten‘, sagte er. ‚Ich tat etwas Unfassbares, etwas, das ich mir selber nie im Leben zugetraut hätte.‘

„Wir wurden ganz still. Wir konnten unsere Blicke gar nicht von ihm abwenden. Ich kann mich erinnern, dass ich vergeblich versuchte, mir auszumalen, was er denn noch Schlimmeres hätte anrichten können als das, was er bereits getan hatte. Mir fiel ehrlich gesagt gar nichts ein. Und als er dann gestand, dass er sich eines Nachts in die Uniklinik geschlichen und einen todkranken Patienten mit dem ACTIVUS X injiziert hatte, war es vorbei. Es platzte uns der Kragen. Vor allem der sonst so ruhige Professor Karimi war gar nicht mehr zu bändigen. Er war kurz davor, deinen Vater zu ohrfeigen.

„ ‚Du Scharlatan‘, sagte er immer und immer wieder, ‚du bist nichts als ein Scharlatan. Du bist eine Schande für uns!‘

„ ‚Wie konnte ich das nicht sehen?‘, murmelte derweilen deine Mutter, als würde sie zu sich selbst sprechen. Sie hatte den Kopf gesenkt, wie aus Scham für das, was dein Vater getan hatte. Verkrampft hielt sie mit beiden Händen ihren Bauch. Sie war im sechsten Monat schwanger. Mit dir.

„Wir anderen gingen natürlich dazwischen und versuchten, den Professor zu beruhigen. Er war außer sich vor Wut und beschimpfte immer noch deinen Vater. Dieser versuchte, sich zu verteidigen, und sagte: ‚Professor, ich weiß ja, dass mein Handeln nicht pflichtbewusst war, und außerdem ungewissenhaft und unverantwortlich.‘

„ ‚Das war nicht ungewissenhaft und unverantwortlich, das war unmenschlich‘, erwiderte der Professor. ‚Was du getan hast, ist einfach ungeheuerlich. Einen Menschen noch vor der vorklinischen Phase als Versuchskaninchen zu missbrauchen! Das wird Konsequenzen haben, dass du dich da ja nicht täuschst! Du wirst den Rest deines Lebens im Gefängnis verbringen, dafür sorge ich schon.‘

„ ‚Nun hören Sie mir doch noch kurz zu, Professor‘, flehte dein Vater. ‚Lassen Sie mich doch bitte ausreden. Der Vorfall ist inzwischen drei Wochen her, und der Patient ist gesund und munter. Er hatte sich mit dem tödlichen bolivianischen Machupo-Virus infiziert. Man nennt es auch den schwarzen Typhus. Ihm war nicht zu helfen. Er war in einer bemitleidenswerten Lage, und das ganze Krankenhaus stand bereits unter Quarantäne. Ich muss zugeben, dass es das noch einfacher für mich machte, an ihn ranzukommen. Schließlich trauten sich nicht mehr viele in seine Nähe.

„ ‚Nun, wie auch immer. Eigentlich hätte es mit dem Mann schon vor Wochen ein qualvolles Ende nehmen müssen. Und doch wurde er vorgestern vor den Augen der verwunderten Ärzte aus dem Krankenhaus entlassen. Und das, meine Freunde, ist der Grund, aus dem ich noch ein bisschen Zeit gewinnen wollte. Bevor ich mit der Wahrheit rausrücken muss, meine ich. Ich brauche noch mehr Resultate.‘

„ ‚Was, du brauchst noch mehr Versuchskaninchen?‘, erwiderte der Professor empört.

„ ‚Nein, ich möchte nur noch meinen letzten Versuch abwarten“, entgegnete dein Vater. ‚Ich habe vor einer Woche einen Schimpansen mit einer beachtlichen Dosis H21 injiziert. Wie ihr alle wisst, beschleunigt H21 den Alterungsprozess der Zellen um ein Vielfaches. Danach habe ich dem Tier ACTIVUS X verabreicht. Ich erwartete, nun eine weitere Beschleunigung des Alterungsprozesses beobachten zu können. Eigentlich müsste das Tier jetzt bereits Alterungserscheinungen zeigen, aber es sitzt immer noch gemütlich in seinem Käfig, und alle Messwerte sind völlig normal.‘

„Es herrschte eine kurze Stille, denn das war wirklich ungeheuerlich. Aber dann sagte Professor Karimi plötzlich: ‚Und wenn schon. Das ist nicht unsere Aufgabe. Versuchst du etwa, hier Gott zu spielen? Einen todkranken Mann lässt du wiederauferstehen, und mit einem Nadelstich sorgst du dafür, dass Affen nicht mehr altern! Na und? Wenn das Activus X solche Eigenschaften besitzt, wie du es hier herausposaunst, dann hätten wir das mit der Zeit schon herausgefunden. Aber wir suchen doch hier nicht nach der Unsterblichkeit oder nach einem Mittel für die ewige Jugend. Wir suchen nach alternativen Lebensräumen für die Menschheit und nach Hilfsmitteln, die es uns ermöglichen können, solche zu schaffen. Selbst wenn wir unsterblich wären, was hilft uns das denn? Unser Problem ist nicht, dass die Menschen auf der Welt sterben, unser Problem ist es, dass der Planet stirbt.‘

„Da erwiderte dein Vater: ‚Aber Professor, genau diese Zeit, von der Sie sprechen, macht uns doch zu schaffen. Wir haben sie gar nicht. Wir können nun mal keine zwanzig Jahre mehr warten, bis Phase 3 erreicht ist, um dann den Menschen mit unseren Entdeckungen zu helfen.

„ ‚Übrigens habe ich niemals behauptet, hier den heiligen Gral gefunden zu haben. Aber meine Entdeckung könnte uns dabei helfen, resistente Menschen zu erschaffen, die nach alternativen Lebensräumen suchen können.

„ ‚Aber nichtsdestotrotz: Ich muss mich für mein Verhalten entschuldigen, bei euch allen, aber am meisten bei meiner Frau, die wirklich von all dem nichts wusste. Es tut mir leid. Doch ich wollte genau diese Diskussionen, die wir hier jetzt führen, vermeiden.

„ ‚Ich habe vorhergesehen, dass es dazu kommen würde, und ich sage euch eines: Wenn wir jetzt die Alarmglocken läuten und der Zentrale von unseren Entdeckungen berichten, dann setzen sie uns alle vor die Tür, sobald sie uns nicht mehr brauchen. Unsere jahrelangen Forschungen wären dann umsonst, und ACTIVUS X wäre nicht mehr in unseren Händen. Wir hätten keine Kontrolle mehr, und die Substanz könnte für sehr schlimme Dinge missbraucht werden. Ich wage es nicht einmal auszusprechen.‘

„ ‚Ich bezweifle, dass irgendein anderer je so weit gegangen wäre wie du und mehr Schaden angerichtet hätte‘, gab Professor Karimi zurück. ‚Du hast nicht nur das Vertrauen missbraucht, das wir in dich gesetzt haben, du hast auch unsere jahrelange Freundschaft missbraucht. Ich glaube nicht, dass ich dir je wieder vertrauen kann. ‚Und du, Abigail?‘, wandte er sich an deine Mutter. ‚Hast du wirklich nichts davon gewusst? Er ist schließlich dein Ehemann.‘

„Sie sagte sofort: ‚Ich schwöre, Professor, ich wusste von nichts. Er hat zwar die letzten Wochen viele Nächte durchgearbeitet, aber aufgrund meiner Schwangerschaft war ich die ganze Zeit mit mir selbst beschäftigt. Und ich war ja auch die letzten Wochen kaum noch im Labor.‘

„ ‚Ich verstehe“, meinte Professor Karimi. Dann sah er sich in der Runde um und fragte: ‚Was sollen wir jetzt bloß tun?‘

„Wir wechselten alle ratlose Blicke. Schließlich ergriff ich das Wort und meinte: ‚Unter diesen Umständen können wir auf keinen Fall die kompletten Informationen an die Zentrale weitergeben. Fakt ist: Wenn wir erzählen, was passiert ist, setzen die uns alle vor die Tür. Dann können wir unsere Kittel wortwörtlich an den Nagel hängen. Und zwar für immer.

„ ‚Als Erstes müssen wir also all diese Versuche abbrechen und neu koordinieren. Und das bedeutet, dass du fürs Erste außen vor bleibst‘, sagte ich zu deinem Vater gewandt. ‚Dann müssen wir diesen Patienten ausfindig machen und ihn hier im Labor untersuchen. Vielleicht ist er bereits eine tickende Zeitbombe. Erst, wenn wir das erledigt haben, können wir uns überlegen, wie wir der GLOBEX-Leitung weismachen, dass wir durch einen glücklichen Zufall auf ACTIVUS X gestoßen sind. Das mit den Versuchen bleibt vorerst unser Geheimnis. Wenn wir Glück haben, dann wird man uns sogar als Helden feiern.‘

„Der Professor sah mich an und nickte. ‚Ja, genauso machen wir es‘, sagte er. ‚Ich habe dich nicht um sonst zu meinem Assistenten gemacht.‘

„Dein Vater reagierte natürlich mit gemischten Gefühlen auf die ganze Sache. Einerseits war er erleichtert, aber anderseits auch traurig, dass er mit der Angelegenheit nichts mehr zu tun haben würde. Doch er wehrte sich nicht mehr. Schüchtern versuchte er, die Hand deiner Mutter in die seine zu nehmen, aber sie wies ihn ab.“

„Entschuldigung, darf ich an dieser Stelle mal kurz unterbrechen?“ sagte da Abdullah. „Mir ist etwas aufgefallen. Sie sprechen immer wieder von einer mysteriösen fünften Person im Raum, Dr. Gabriel, aber Sie erzählen nichts über sie. Also, es gibt da das Wissenschaftlerpaar, das sie als meine Eltern bezeichnen, den Professor, Sie und diesen fünften Mann. Wer war er? Hatte denn dieser Fünfte gar nichts zu der ganzen Sache zu sagen?“

„Gratuliere, du hast sehr gut aufgepasst“, grinste Dr. Gabriel. „Aber leider bin ich nicht befugt, dir etwas darüber zu sagen. Du kannst ja den Professor fragen. Vielleicht erzählt er dir mehr über diese mysteriöse Person.“

Diese Worte machten Abdullah nur noch neugieriger. „Das werde ich machen, da können sie Gift drauf nehmen“, verkündete er.

Dr. Gabriel grinste wieder. „Darf ich mit meiner Geschichte fortfahren?“

„Nur zu“, sagte Abdullah, und Dr. Gabriel erzählte weiter: „Wir trieben also den angeblich todkranken Patienten auf, der das ACTIVUS X in sich trug, und untersuchten ihn von Kopf bis Fuß. Die ganze Sache ging über mehrere Wochen.

„Freiwillig gemeldet hatte sich der Mann natürlich nicht, weil er ja von der ganzen Sache nichts wusste. Aber wir ließen ihn in dem Glauben, einen guten Deal mit einem Pharmaunternehmen gemacht zu haben, und so war er zu unserem Glück sehr kooperationsbereit.

„Die Untersuchungsergebnisse erwiesen sich als wahrhaft phänomenal. Das Ganze war wirklich ein Durchbruch, genau wie dein Vater gesagt hatte. Der Patient hatte sich tatsächlich mit dem tödlichen Machupo-Virus angesteckt. Drei verschiedene Ärzte hatten die Krankheit bei ihm diagnostiziert. Nachdem dein Vater ihm aber das ACTIVUS X verabreicht hatte, war wirklich keine Spur mehr von dem Virus festzustellen.

„Alle Werte des Patienten waren normal, bis auf eine winzige Kleinigkeit. Es war nämlich so, dass sich seine Zellen nicht mehr regenerierten. Sie starben aber auch nicht ab. Das bedeutete, dass der Mann nie altern würde. Wir hielten es sogar für möglich, dass er sich nicht einmal dann verändert haben würde, wenn er eines Tages über einhundert Jahre alt sein würde.

„Allerdings reichten unsere Erkenntnisse nicht wirklich aus, um solche Schlussfolgerungen mit Sicherheit zu ziehen, geschweige denn auf mehr zu hoffen. Wir hätten Jahre lang forschen müssen, um gesicherte Aussagen treffen zu können.

„Wir wussten zum Beispiel nicht, wie das Gehirn des Patienten, seine Sinnesorgane oder seine Knochen und inneren Organe im Laufe der Jahre reagieren würden.

„Und was war mit seiner psychischen Konstitution? Würde ein Mensch je mit so etwas klar kommen? Schließlich wurden wir nicht dazu erschaffen, ewig zu leben, zumindest nicht mit diesen Körpern und auf diesem Planeten.

„Das alles waren offene Fragen für uns, und sie mussten es auch bleiben. Dennoch machten wir mit dem ahnungslosen Patienten weitere Versuche. Bei einigen der Tests zeigte der Mann nicht die Reaktion, die wir erhofft hatten. So reagierte er auf ätzende Gase ganz normal menschlich, und selbst die kleinsten Schnittwunden mussten genäht oder verschweißt werden, weil er keine neuen Zellen bilden konnte. Das wiederum hieß, dass der Patient nach einer lebensgefährlichen Schnittverletzung oder durch das Einatmen tödlicher Gase genauso sterben würde wie jeder andere Mensch auch.

„Das, was wir bis zu diesem Zeitpunkt herausgefunden hatten, hätte einst gereicht, um Medizin, Biologie, Physik und Chemie neu zu definieren. Aber wir lebten in einer anderen Welt als früher. Wir forschten nicht, um tödliche Krankheiten zu besiegen oder Medikamente zu deren Bekämpfung zu erfinden. Wir forschten, um zu überleben. Tag für Tag spürten wir die schwere Last, die auf unseren Schultern ruhte. Das Schicksal der ganzen Menschheit!

„Einige Zeit später fanden wir einen Weg, der GLOBEX-Führung endlich unsere Erkenntnisse vorzustellen, mit dem wir alle leben konnten. Und sehr zu unserer Verblüffung waren sie nicht überrascht von alldem. Denn das SALOMON Labor in Mumbai, Indien, hatte bereits Monate zuvor ähnliche Befunde an GLOBEX weitergeleitet. Die Sache war geheim gehalten worden, und man hatte mit weiteren Spezialisten in der Zentrale, dem TOP SECRET SALOMON 1 Labor in New York, weitergeforscht.“

„Ich dachte immer, das SALOMON 1 wäre ein Mythos und SALOMON 2 in Moskau wäre die Zentrale“, unterbrach Abdullah Dr. Gabriel.

„Ja, das glauben alle, weil GLOBEX es so möchte. Der Öffentlichkeit erzählte man immer, dass das Labor in New York die jüngsten Katastrophen nicht heil überstanden hätte, aber das in unzutreffend.

„Oh, das SALOMON 1 ist wahrlich etwas Besonderes! Es wurde damals wie ein Bunker errichtet, und zwar vierhundert Meter unter der Erde, robuster, als man sich das vorstellen kann, und mit modernster Technologie ausgestattet. Es hat sogar einen eigenen Kernreaktor mit einzigartig ausgeklügelten Schleusen und ein Aufzugsystem einschließlich eines Belüftungssystems, für das der Sauerstoff aus dem Erdinneren gewonnen wird. Darüber hinaus verfügt SALOMON 1 über ein abgeschlossenes Versorgungssystem. Der ehemalige Salzstock, der direkt neben dem Labor liegt, wurde ausgehöhlt und dann mit Wasservorräten und Proviant befüllt, sodass eine Stadt mit dreißigtausend Einwohnern mehrere Jahre lang versorgt werden könnte.

„Deswegen hat das SALOMON 1 all die Katastrophen unbeschadet überstanden. Dass das Labor immer noch existiert, wissen aber nicht mal die Regierungschefs der beteiligten Staaten. Die zweitausend Wissenschaftler, die dort leben, haben einen Eid abgelegt. Sie haben nichts anderes im Sinn als die Forschung, die sie betreiben. Ich kenne einige, die seit Jahren nicht an der Oberfläche waren. SALOMON 1 ist das modernste Labor, das die Menschheit je gesehen hat.“

„Oder nicht gesehen hat, meinen Sie wohl“, fiel Abdullah ein. „Wieso habe ich nur das komische Gefühl, dass wir dorthin unterwegs sind?“

„Andernfalls könnte ich dir ja kaum davon erzählen“, erwiderte Dr. Gabriel.

„Dann verraten Sie mir bitte noch mehr“, bat Abdullah ganz aufgeregt. „Erzählen Sie mir mehr über das Labor, Doktor.“

„Nicht so hastig“, entgegnete der Gefragte grinsend. „Du wirst SALOMON 1 noch früh genug sehen. Dann kannst du dir selbst ein Bild davon machen. Außerdem habe ich meine kleine Geschichte gar nicht beendet. Oder bist du etwa gar nicht neugierig, was mit deinen Eltern passiert ist?“

Abdullah beruhigte sich wieder und lehnte sich in dem gemütlichen, weichen Ledersitz zurück. „Ich bin ganz Ohr, Doktor“, sagte er, und Gabriel fuhr mit seiner Erzählung fort: „Also, nachdem wir unsere Testergebnisse und alle Befunde an die GLOBEX-Zentrale weitergeleitet hatten, ließ man uns Fünf noch am selben Tag nach New York bringen. Unsere Forschungen mit dem Gestein ergänzten sich mit den Erkenntnissen des indischen Teams. Wir hatten das ACTIVUS X, unser Wunderpulver, das die Eigenschaften der verschiedenen Elemente ins Maximale erhöhte, während man in der Zentrale einen anderen Weg gegangen war.

„Doch auch dort hatte man phänomenale Ergebnisse erzielt. Die ansässigen Forscher hatten nämlich eine aus dem Gestein gewonnene Flüssigkeit mit Erde vermischt, und alles, was auf diesem Erdboden wuchs oder darin lebte, veränderte sich dramatisch. Das galt sowohl für Pflanzen als auch für Tiere. Auf diesem Boden gedieh Flora, wie man sie noch niemals gesehen hatte. Die Versuchstiere, die von diesen Pflanzen fraßen, wurden immun gegen jegliche Krankheiten, genau wie bei unserem ACTIVUS X.

„Bei allen Experimenten landeten wir dieselben Erfolge. Jeder Versuch war ein Volltreffer. Komischerweise waren die Tiere verrückt nach diesen Pflanzen. Sie schienen ihnen sehr zu schmecken. Das Unglaublichste an der Sache aber war, dass sie, egal wie viel sie fraßen, keine Exkremente ausschieden. So etwas hatten wir noch nie zuvor gesehen.

„Aber das ist noch nicht alles. Es bildeten sich auch neue Ungezieferarten, die wir nicht einordnen konnten. Die Sicherheitsvorkehrungen wurden maximiert. Es herrschte auf jeder Ebene des Labors Alarmstufe Rot. Das machte uns die Arbeit natürlich nicht gerade leichter. Schließlich musste jeder Versuch von mehreren der beteiligten Kollegen abgesegnet werden.

„Nichtsdestotrotz waren wir alle voller Tatendrang. Wir fühlten uns wie Kinder, die im Sommer einen Jahrmarkt besuchen dürfen, auf dem alle Fahrgeschäfte umsonst sind. Wir arbeiteten und arbeiteten, bis wir nicht mehr konnten.

„Doch von all den wissenschaftlichen Aspekten ganz abgesehen, führte die ganze Sache dazu, dass wir Leute aus Bagdad die Taten deines Vaters ruhig hinnehmen mussten. Professor Karimi hatte zwar unter einem Vorwand sein Veto gegen die Beteiligung deines Vaters eingelegt, aber die GLOBEX Leitung bestand vehement darauf.

„Nun ja, ehrlich gesagt war es schon so, dass wir Bagdader Wissenschaftler angesichts dieser einmaligen Gelegenheit, in so einem Labor der Superlative arbeiten zu dürfen, ein wenig vergesslicher wurden, als wir es unter normalen Umständen gewesen wären. Es war ja auch so, dass wir dank deines Vaters an vorderster Front an der Rettung der Menschheit beteiligt waren. Doch was mich angeht, muss ich sagen, dass sich meine Gefühle für ihn eigentlich nicht geändert hatten. Ich hatte es deinem Vater zwar nie ins Gesicht gesagt, aber in meinen Augen war er tief gesunken. Für mich stand er auf einer Ebene mit den Wissenschaftlern, die damals in den Konzentrationslagern des Zweiten Weltkriegs Experimente an lebendigen Gefangenen durchgeführt hatten. Nur der Forschung wegen hatten wir täglichen Kontakt und arbeiteten wieder miteinander

„Übrigens wollte dein Vater nicht, dass du in einem Labor auf die Welt kamst. Deswegegen stritt er sich jeden Tag mit deiner Mutter, die wiederum von dort nicht weg wollte. Ich vermute ja, dass sie deinen Vater nicht alleine lassen wollte. Aber sie erklärte uns immer, dass sie die Forschung solange weiterführen wollte, wie es nur ging.

„Nun, ab jetzt wird die Geschichte ein wenig dramatisch. Sollen wir kurz mal eine Pause machen, Abdullah?“, fragte Dr. Gabriel. „Kann ich dir vielleicht etwas zu trinken anbieten?“

„Ich habe keinerlei emotionale Bindung zu diesen Menschen“, sagte Abdullah ungerührt. „Ich denke, das, was Sie mir zu erzählen haben, kann ich auch ohne ein Glas Wasser schlucken.“

„Wie du willst. Dann fahre ich fort“, meinte Dr. Gabriel. „Im Endeffekt musste dein Vater nachgeben. Du kamst sowieso schon kurze Zeit später auf die Welt. Deine Geburt verlief sehr problematisch, denn auch deine Mutter hatte uns etwas verschwiegen. Ich glaube, das liegt bei euch in der Familie.

„Wie dem auch sei, sie war bei einem ihrer Experimente unvorsichtig gewesen. Eigentlich ließen wir sie nur im Bereich der Gentechnologie forschen, um sie nicht der Gefahr von Unfällen mit Viren, Giften und gefährlichen Stoffen auszusetzen.

„Weißt du, deine Mutter suchte nach dem Warum. Warum veränderten sich die Zellen nach der Verabreichung von ACTIVUS X nicht? Sie hatte eine entsprechende Versuchsreihe gestartet und war gerade dabei, einer Ratte eine Ampulle Protoonkogene zu spritzen. Dieser Stoff reguliert die Mutation der Zellen. Doch gerade als sie der Ratte die Injektion verabreicht hatte und die Nadel herausziehen wollte, biss das Versuchstier sie in die Hand.

„Deiner Mutter schwante Schlimmes. Im Normalfall hätte der Biss vielleicht nichts angerichtet, aber sie war hochschwanger. Sie untersuchte sich selbst und fand heraus, dass etwas nicht stimmte. Aber was konnte sie jetzt tun? Sie wollte deinen Vater nicht beunruhigen.

„Heimlich forschte sie weiter und führte Experimente mit schwangeren Versuchstieren durch, bis sich zu ihrem Schrecken herausstellte, dass die Tiere, denen sie erst Protoonkogene und dann unser neues Wundermittel verabreichte, ihren Nachwuchs verloren, während sie selbst überlebten. Diejenigen Tiere, die nur Protoonkogene erhielten und kein Gegenmittel, überlebten die schwere Geburt dagegen nicht. Aber ihr Nachwuchs kam vorerst gesund auf die Welt.

„Diese Resultate waren natürlich ein Schock für deine Mutter, denn wie sie deinen Vater kannte, würde er ihr das ACTIVUS X verabreichen, um sie am Leben zu erhalten. Und genau davor hatte sie mehr Angst als vor ihrem eigenen Tod.

„Deine Mutter war eine gläubige Frau. Also wollte sie weder so etwas wie unsterblich sein noch hätte sie damit leben können, ihr ungeborenes Baby zu verlieren. Ich nehme an, dass das auch der wahre Grund dafür war, warum sie bis zu der Entbindung im Labor bleiben wollte.

„Ohne zu ahnen, welche Folgen das für ihr ungeborenes Baby haben würde, verschwieg sie die Sache, bis die Wehen einsetzten. Erst im Kreißsaal erzählte sie uns ihre schreckliche Geschichte. Dein Vater war außer sich. Er war festentschlossen, ihr irgendwie zu helfen, doch sie hatte nicht mehr viel Zeit.

„Deiner Mutter allerdings ging es der Situation entsprechend gut. Schließlich war sie der Überzeugung, dass sie mit ihrem Tod ihrem einzigen Sohn das Leben retten würde. Mit leiser Stimme sagte sie: ‚Lasst mich bitte mit meinem Mann allein.‘

„Mit Tränen in den Augen verließen wir den Raum. Deine Mutter hatte einen letzten Wunsch an deinen Vater: Sie wollte auf keinen Fall mit ACTIVUS X injiziert werden.

„Das soll sie jedenfalls gesagt haben: ‚Egal, was passiert. Wenn mein Schicksal es so will, dann soll es so kommen, und wenn mein Baby auf dieser zukunftslosen Welt keinen einzigen Tag mit seiner Mama erleben darf, dann ist das auch sein Schicksal.‘

„Unter Tränen soll dein Vater ihr versprochen haben, dass er nie wieder einem Menschen ACTIVUS X verabreichen würde. Sie starb, noch bevor du geboren wurdest. Die Ärzte holten dich per Kaiserschnitt aus dem leblosen Körper deiner Mutter.

„Für deinen Vater brach an diesem Tag die Welt zusammen. Wir alle waren erschüttert, aber er war ein psychisches Wrack. Wir ließen ihn eine Weile allein. Aber ehrlich gesagt hatten wir Angst, dass er sich was antun könnte. Freundschaft hin, gewissenloses Verhalten her, die Wahrheit sah schlicht so aus, dass sich die Menschheit den Verlust eines zweiten Wissenschaftlers nicht leisten konnte. Und er war ja auch noch unser wichtigster Mann im Labor. Ganz davon abgesehen, gab es ja jetzt auch noch dich. Solltest du denn innerhalb kürzester Zeit zur Vollwaise werden?

„Nein, das wollte auch dein Vater nicht. Die kurze Auszeit zur Erholung und Trauer, die ihm gewährt wurde, tat ihm gut. Sein Zustand besserte sich, und schon nach kurzer Zeit nahm er dich zum ersten Mal auf seinen Arm.

„Aber dennoch waren wir nicht glücklich. Als wir dich nämlich näher untersuchten, ging für deinen Vater zum zweiten Mal die Welt unter. – Deine Chromosomen waren anormal, Abdullah. Dein Körper produzierte Protein in Überschuss. Schuld daran waren die Protoonkogene, die deine DNA verändert hatten. Womöglich hattest du nur noch wenige Tage zu leben.

„Ich weiß noch, wie mich dein Vater damals ansah. ‚Was habe ich nur Böses getan, um so bestraft zu werden?‘, sagte er ‚Soll ich jetzt auch noch zusehen, wie mein Baby in meinem Armen dahinschwindet?‘

„Ich antwortete: ‚Ich kann nur vermuten, welche Schmerzen du gerade empfindest. Es muss dir ja das Herz zerreißen. Aber was können wir tun, um deinen Sohn am Leben zu erhalten?‘

„Er erwiderte: ‚Ich habe es ihr versprochen. Sonst würde ich keine Sekunde zögern, ihn zu behandeln.‘

„Ich blickte ihn an. Er sah elend aus. Ich glaube, dein Tod wäre auch der seine gewesen.

„ ‚Was haben wir denn zu verlieren?‘, entriss es mir da plötzlich. ‚Wenn wir ihn jetzt nicht behandeln, wird er sterben. Wir brauchen einfach mehr Zeit, und um Zeit zu gewinnen, müssen wir ihn behandeln. Außerdem siehst du doch, wie die Forschung voranschreitet und wie weit wir mit unseren Erkenntnissen schon sind. Bis jetzt haben wir nichts Negatives herausgefunden.‘

„Dein Vater überlegte nicht lange. ‚Du hast recht‘, sagte er. ‚Ich werde diesen Fehler nicht ein zweites Mal machen. Ich muss ihn am Leben erhalten, egal wie. Selbst wenn ich es ihr versprochen habe.‘

„ ‚Allerdings gibt es ein paar Probleme‘, gab ich zu bedenken. ‚Falls wir überhaupt so weit kommen, ihn zu behandeln, können wir trotzdem nicht vorhersagen, ob wir Erfolg haben werden. Das muss dir klar sein. Du weiß ja, dass wir die letzten Tests noch nicht abgeschlossen haben. Vor allem die gentechnischen Resultate liegen uns noch nicht vor.‘

„Ich erinnerte ihn außerdem daran, dass ich mir die Forschungsergebnisse deiner Mutter angesehen hatte. Kurz vor ihrem Tod hatte sie bei neugeborenen Versuchstieren ganz hervorragende Resultate erzielt.

„Diese Tierbabys, die mit ACTIVUS X behandelt worden waren, entwickelten sich bis zu ihrem Idealgewicht und Fortpflanzungsalter prächtig. Aber darüber hinaus hatten wir noch keine Forschungsergebnisse zur Hand. „Natürlich waren diese Daten eigentlich nicht ausreichend, um einen menschlichen Säugling zu behandeln. Aber wir hatten keine andere Wahl. Dieser Ansicht war auch dein Vater.

„ ‚Lass uns schnell handeln‘, sagte er zu mir. ‚Wir haben nicht mehr viel Zeit.‘

„Ich kann mich noch gut erinnern, wie die Augen deines Vaters in diesem Moment strahlten, und ich dachte mir: ‚Vor ein paar Wochen erst hat dieser Mann seine geliebte Frau verloren, und dann musste er auch noch erfahren, dass sein kleines Baby das Schicksal seiner Mutter teilen wird. Aber auf einmal wirkt er wie aus einem bösen Traum erwacht.‘

„Dein Vater wollte wirklich alles Menschenmögliche tun, um dein Leben zu retten. Nur, wie gesagt war man in der Zentrale vorsichtiger bei dem Umgang mit Gefahrenstoffen, als wir das in unserem Labor in Bagdad gewesen waren. Damit so eine Menge von der Substanz, wie wir sie für deine Behandlung benötigten, überhaupt aus dem elektronischen Safe entnommen werden konnte, waren die IDs von mindestens fünf Mitarbeitern notwendig.

„Nun wusste dein Vater die ID deiner Mutter, und sie war noch aktiv. Damit hatten wir also schon drei. Zwei fehlten aber noch. Nun, wir waren uns sicher, dass es nicht weiter schwer werden würde, unsere mysteriöse fünfte Person zu überzeugen. Aber wie sollten wir es dem Professor beibringen, dass wir seine Hilfe wollten, um ein Baby mit einem unerforschten Medikament zu behandeln?

„Außerdem waren wir uns nicht ganz über unser Vorgehen einig. Sollten wir das ACTIVUS X als Heilmittel einsetzen, das wir bereits eigenhändig bei einem Menschen angewendet hatten? Die entsprechenden Untersuchungen mit dem Probanden liefen bei uns im Labor ja noch immer weiter. Oder sollten wir lieber das ASA 01 nehmen, wie die Inder ihr Allheilmittel voller Hoffnung getauft hatten?

„Das waren also die Herausforderungen, mit denen wir uns auseinandersetzen mussten. Dein Vater sagte zu mir: ‚Sprich du mit dem Professor ich rede mit‘ … nun ja, mit unserer mysteriösen Person eben.

„Ich war aber der Meinung, dass es besser wäre, wenn er selbst mit dem Professor reden würde. Schließlich war auch ich angesichts seiner Verzweiflung weich geworden und war bereit, mich auf eine Stufe mit ihm zu begeben und das wissenschaftliche Ethos zu verletzen. Ich war mir durchaus nicht sicher, dass es dem Professor nicht genauso ergehen würde.

„Dein Vater gab nach und willigte ein. Er ging also zu Professor Karimi. Nach einer Weile kamen die zwei zu mir ins Labor. Dein Vater wirkte wie versteinert, und beide sagten kein Wort. Ich ließ mich aber davon nicht beirren, denn ich war bei meinem Gespräch mit der fünften Person erfolgreich gewesen.

„ ‚Ich habe die vierte ID‘, verkündete ich deshalb. ‚Wie sehen Sie die Sache, Professor?“

„Der Professor blieb auch weiterhin stumm, aber er nickte kurz mit dem Kopf, wie zur Bestätigung, dass er sich auf die Sache eingelassen hatte. Ehrlich gesagt verwunderte mich das sehr, aber ich war natürlich auch erleichtert.

„Also gingen wir zu viert zum elektronischen Safe und gaben unsere IDs ein. Als dein Vater die ID deiner Mutter eintippte, weinte er.

„Wir entschieden uns schließlich für ASA 01 und entnahmen die nötigte Menge aus dem Safe. Das war übrigens keine leichte Entscheidung für uns. Das ACTIVUS X war schließlich unsere eigene Entdeckung, und wir hatten Tag und Nacht mit großem Erfolg damit gearbeitet. Aber das Problem war, dass es direkt aus dem Gestein gewonnen wurde und die radioaktive Strahlung durch ein sehr kompliziertes und sehr teures Verfahren künstlich entfernt oder, wie es im Fachjargon heißt, dekontaminiert werden musste. Daher dachten wir, dass es für ein schwaches Baby zu hochdosiert wäre. Das ASA 01 war wenigstens auf pflanzlicher Basis, und die Versuche mit den Tieren stimmten uns sehr zuversichtlich. Deswegen entschieden wir uns letzten Endes gegen unsere eigene Entdeckung.

„Nachdem wir uns also das Heilmittel besorgt hatten, zog ich es auf einen geeigneten Injektor und setzte die Nadel bei dir an. Also war ich es, Abdullah, ich persönlich, der dich mit dem Mittel injizierte.

Dr. Gabriel schwieg einen Moment und seufzte schwer. Dann sagte er: „Das alles kommt mir so vor, als wäre es gestern passiert, aber in Wahrheit ist es dreiundzwanzig Jahre her. Das ist eine sehr, sehr lange Zeit, Abdullah.“

Wieder hielt Gabriel inne. Sein nachdenkliches Schweigen währte jedoch nicht lange, denn das laute Händeklatschen Abdullahs riss ihn aus seinen tiefschürfenden Gedanken.

Ja, Abdullah war aufgestanden und klatschte. Er klatschte so, wie früher die Menschen im Theater zu klatschen pflegten oder wenn Athleten in riesigen Stadien ihre Künste präsentierten und die Zuschauer begeisterten.

„Setzt dich bitte wieder hin und schnall dich an“, sagte Dr. Gabriel leicht irritiert. „Bei unserer Geschwindigkeit kann es leicht passieren, dass du uns mit solchen Sperenzchen beide in Gefahr bringst.“

Abdullah setzte sich ganz langsam wieder hin. Dabei blickte er Dr. Gabriel tief in die Augen und sagte: „Sehr gut, Doktor, wirklich sehr gut. Wer hat sich denn diese Geschichte ausgedacht? Sie? Professor Karimi? Oder haben Sie in Ihrem tollen Labor auch noch eine Abteilung, die Drehbücher schreibt?“ Er schüttelte den Kopf. „Was wollt ihr eigentlich mit diesen Lügengeschichten erreichen? Ist das wieder so ein Psychoexperiment? Ich finde das langsam wirklich nicht mehr lustig. Wenn Sie denken, ich wäre für die Mission ungeeignet oder dass ich vielleicht irgendeine geistige Macke hätte, dann sagen Sie es mir doch einfach. Schicken Sie doch jemand anderen hoch! Ich weiß wirklich nicht, was Sie sich von der ganzen Sache versprechen. Erwarten Sie von mir, dass ich in Tränen ausbreche oder dass ich wütend werde und um mich schlage? Oder wollen Sie, dass ich seelenruhig alles hinnehme, ohne überhaupt eine Reaktion zu zeigen? Ist es das, worauf Sie aus sind? Verraten Sie mir das bitte.“

„Nein, nein, um Gotteswillen!“, rief Dr. Gabriel erschrocken aus. „Hör bitte zu, Abdullah, alles, was ich dir erzählt habe, ist die reine Wahrheit, bis ins kleinste Detail. Bitte glaube mir. Außerdem gibt es ja einen einfachen Weg, herauszufinden, ob ich gelogen habe oder nicht.“

„Wie das denn?“

„Wann warst du denn das letzte Mal krank?“, fragte Dr. Gabriel, und Abdullah stockte der Atem. Von einem Moment auf den anderen war sein Puls auf hundertachtzig.

„Wie, was, was für eine Krankheit?“, stotterte er. Doch dann hielt er inne und überlegte einen Moment.

„Ich kann mich nicht erinnern, je krank gewesen zu sein“, sagte er schließlich leise. „Also, meine Mutter wurde ständig krank, aber ich?“

„Und hast du dir jemals was gebrochen?“, fragte Dr. Gabriel weiter.

„Ich glaube schon. Als ich klein war, hatte ich mal einen Gips, hier an meiner rechten Hand.“

Da lachte Dr. Gabriel. „Das war kein Gips. Es war eine schlimme Schnittwunde, die du dir beim Spielen zugezogen hattest. Fatima hatte deinen Arm fixiert, damit der spezielle Hautklebestoff besser angreifen konnte. Du warst damals ein sehr lebhaftes und auch ein sehr unartiges Kind. Kein Wunder, du warst ja erst acht Jahre alt. Aber du hast Fatima ganz schön auf Trapp gehalten.

„Doch Fakt ist, dass du nie irgendwelche Knochenbrüche hattest, Abdullah. Deine Knochen sind nämlich extrem hart. Sie sind zwar nicht unzerbrechlich, aber doch viel widerstandsfähiger als bei uns Normalsterblichen. Kannst du dich vielleicht daran erinnern, wie vorsichtig die Ärzte immer mit dir umgingen, wenn sie bei dir kleine Schnitt- oder Schürfwunden zu behandeln hatten?

„Weißt du, die Protoonkogene, die in Verbindung mit ASA01 durch deine Adern fließen, macht dich nicht unsterblich, aber diese Substanz schützt dich vor tödlichen Viren und Krankheiten, ja sogar vor vielen Giftstoffen. Sie macht dich damit zu etwas Besonderem. Aber glaub mir, wir haben nichtsdestotrotz alles versucht, um dein Blut von dieser Substanz zu reinigen. Doch es ist uns leider nicht gelungen.“

Abdullah war wie vor den Kopf gestoßen. Der sonst so coole, taffe junge Mann wusste nicht mehr, was er sagen sollte. Es war ihm nie in den Sinn gekommen, sich zu fragen, warum er nie in seinem Leben krank gewesen war.

„Wie ist das nur möglich?“, murmelte er. „Kann es denn sein? Ist das alles wirklich wahr, was Sie mir da erzählt haben, Doktor? Diese Geschichte mit meiner Mutter … Und wie und wo ist denn dann mein Vater gestorben?“

Dr. Gabriel schien auf diese Reaktion vorbereitet gewesen zu sein. „Abdullah, das ist genau der Punkt, zu dem ich eigentlich kommen wollte“, sagte er sofort. „Dein Vater ist noch am Leben. Er ist nicht tot.“

Abdullah runzelte die Stirn. Er war fix und fertig, mit seinen Nerven total am Ende. Durch jahrelanges Training hatte er gelernt, mit den schwierigsten mentalen Herausforderungen umzugehen, aber was ihm da aufgetischt wurde, sprengte jegliche Vorstellungskraft.

Es war zu schwer. Wie sollte denn je ein Mensch in so kurzer Zeit so viel Schockierendes über sich erfahren und dabei ruhig bleiben, fragte er sich im Stillen. Aber Dr. Gabriel redete unverdrossen weiter: „Dein Vater arbeitet noch immer im Labor. Tag und Nacht. Er hat es nie richtig überwunden, dich und deine Mutter verloren zu haben.“

„Was heißt hier ‚verloren zu haben‘“, erwiderte Abdullah. „Wieso hat er mich denn weggegeben, wenn er noch lebt? Warum hat er mich nicht wenigstens besucht? Was ist das für ein Mensch, mein Vater?“

„Sei nicht so hart mit ihm, Abdullah“, sagte Dr. Gabriel. „Er hat dich nicht freiwillig weggegeben. Er hatte keine andere Wahl.“

„Wie meinen Sie das, Doktor?“, fragte Abdullah naiv.

„Ich weiß gar nicht, wie ich dir das sagen soll. Aber ich versuch es einfach mal. Weißt du noch, wie ich dir erzählt habe, dass dein Vater zu Professor Karimi gegangen war, um ihn zu überzeugen, das Einverständnis zu deiner Behandlung zu geben? Und seine ID natürlich auch?“

„Ja“, sagte Abdullah, „ich erinnere mich. Sie sagten, sie kamen gemeinsam zu Ihnen ins Labor und hätten kein Wort gesprochen.“

„Ja, genau. Weißt du, als der Professor erfuhr, dass auch du sterben würdest, hat er deinen Vater einen Deal vorgeschlagen. Er erklärte sich bereit, etwas so Unverantwortliches zu tun, etwas, das gegen alle seine Prinzipien verstieß. Aber als Gegenleistung verlangte er wiederum etwas Unmögliches von deinem Vater: Er wollte dich.“

„Was!“, rief Abdullah aus. „Er wollte mich? Warum? Was wollte er denn mit mir anfangen? Ich war doch schließlich noch ein Baby!“

„Lass mich bitte ausreden“, sagte Dr. Gabriel. „Es ist so: Der Professor und dein Vater sollen eine sehr heftige Auseinandersetzung gehabt haben. Professor Karimi ist ein sehr gläubiger Mensch. Ja, er ist ein überzeugter Wissenschaftler, aber eben dennoch sehr gläubig. Er ist Moslem, genau wie du.

„Eigentlich kann er keiner Fliege etwas zuleide tun. Ja, er ist nicht einmal in der Lage, einem Versuchstier eine Nadel anzusetzen, um irgendwelche Experimente durchzuführen. Er hat auch eine ganz eigensinnige Weltanschauung, wenn es um solche Dinge wie Leben und Tod geht.

„Nun gut. Er soll also zu deinem Vater gesagt haben, dass ihm die ganze Sache zwar schrecklich leidtun würde, aber im Grunde genommen sei es dein Schicksal, wenn du so jung sterben müsstest.

„ ‚Der Tod‘, predigte er uns immer. ‚Es kommt darauf an, wie man diese Dinge betrachtet. Der Tod ist nichts Schlimmes oder Böses. Man verdrängt ihn nur zu sehr und ist zu überrascht, wenn man selbst betroffen ist. Aber wer hat es denn bis jetzt geschafft, unendlich zu leben? Die Pharaonen, Kaiser oder Könige? Oder kennt ihr vielleicht irgendwelche Wissenschaftler, denen es gelungen ist, eine Formel gegen den Tod zu finden? Der Tod gehört zum Leben, genau so sehr wie die Geburt.‘

„Das sagte Professor Karimi immer wieder. Dein Vater ist kein gläubiger Mensch und war es auch nie, und der Verlust von dir und deiner Mutter hat ihm auch nicht gerade dabei geholfen, einer zu werden. Aber in seiner Not, als ein Vater, der um sein Kind fürchtete, hat er den Professor angefleht und soll sogar vor ihm auf die Knie gegangen sein. Angeblich versicherte er ihm, dass er alles tun würde, ganz egal, was der Professor von ihm verlangen würde. Hauptsache, du würdest weiterleben.

„Der Professor soll sehr lange überlegt haben, bis er mit seiner Forderung herausrückte. Ihm war ja bewusst, dass du nur ein Baby warst. Aber er wusste auch, dass du nach dieser Spritze kein normales Baby mehr sein würdest. Es war klar, dass man dich dein ganzes Leben lang genauester Beobachtung unterziehen würde müssen, aber mit deinem Vater in der Nähe wäre ihm das viel zu gefährlich gewesen. Daher sein Vorschlag. Dein Vater soll keine Sekunde lang überlegt und dankend eingewilligt haben. Er hatte ja leider keine andere Wahl. Der Vorschlag des Professors bedeutete, dass du weiterleben würdest, wenn auch nicht bei ihm, und das musste ihm genügen.“

Abdullah konnte seine Gefühle nicht mehr im Zaum halten. Erbost sagte er: „Und so einem verrückten Menschen hat man das Schicksal der ganzen Menschheit anvertraut? Das klingt doch alles wirklich wie ein schlechter Scherz! Eines haben Sie erreicht: Die Vorstellung, den Professor zu treffen, ist mir auf einmal zur Qual geworden. Ich möchte diesen Menschen, der mich vaterlos aufwachsen ließ, gar nicht begegnen. Ich bin auch ein gläubiger Mensch, ich glaube auch an das Schicksal, aber wie der Professor gehandelt hat, das ist beispiellos. Es ist einfach unmenschlich.“

In diesem Moment wurde Abdullah von einer Ansage durch die Lautsprecher unterbrochen: „Das Flugzeug setzt in Kürze zur Landung an. Bitte bleiben Sie zu Ihrer Sicherheit angeschnallt, bis die Maschine in neun Minuten und fünfundvierzig Sekunden am Spaceport S1 angedockt hat“, verkündete dieselbe freundliche Frauenstimme wie vor dem Start.

Dr. Gabriel räusperte sich. „Wie du gehört hast, haben wir nicht mehr viel Zeit. Heute ist ein sehr wichtiger Tag für dich und für uns alle, ja, sogar für die ganze Menschheit. Du wirst heute einige Menschen treffen, die du vorher nie gesehen hast, aber deren Leben schon immer mit dem deinen verknüpft war: deinen Vater, der sein Leben für dich und für die Forschung geopfert und dich und deine Mutter nie vergessen hat. Die anderen Fünf, die dasselbe Schicksal teilen wie du. Und schließlich den Professor.

„Er ist wahrscheinlich der klügste Kopf im Universum und im Moment der Chef und Leiter von SALOMON 1. Ich bin mir sicher, dass er dir noch einmal persönlich und unter vier Augen erklären wird, warum er damals eine Entscheidung getroffen hat, die dir jetzt und heute so unmenschlich vorkommt. Aber der Professor ist kein schlechter Mensch, Abdullah. Das wirst du verstehen, wenn du ihn näher kennenlernst. Es mag sein, dass er ein wenig verrückt ist, aber das gilt nun mal für alle guten Wissenschaftler.

„Viele meinen, er sei ein Exzentriker. Aber in meinen Augen ist er ein Genie, ohne Frage. Und wenn du ihn persönlich triffst, dann stell ihm alle Fragen, die dich beschäftigen. Er wird dir offen antworten.“

Abdullah meinte trocken: „Wenn ich Sie so reden höre, habe ich das Gefühl, dass Sie eher sein Lobbyist sind als sein Assistent.“

Dr. Gabriel lächelte. „Manchmal denke ich, dass ich am ehesten sein Laufbursche bin. Aber das macht mir nichts aus. Ich arbeite gern für ihn. Weißt du, Abdullah, Menschen wie wir, die an vorderster Front kämpfen, machen sich nichts daraus, wo genau sie eingesetzt werden. Hauptsache ist, dass man dabei ist. Dafür bin ich meinem Gott sehr dankbar.“

„Aber was ist denn jetzt mit diesem mysteriösen fünften Mann?“, fragte Abdullah unvermittelt. „Können Sie es mir nicht verraten? Schließlich haben Sie mir ja alles andere auch schon erzählt.“

„Ich sagte bereits, dass ich nicht befugt bin, dir über diese Person Auskunft zu geben“, entgegnete Dr. Gabriel bestimmt. „Das musst du schon den Professor fragen.“

Inzwischen war das Flugzeug gelandet und Dr. Gabriel bezeigte Abdullah, sich fertigzumachen. „Wir sind in einem dekontaminierten Bereich“, erklärte er. „Aber wir müssen trotzdem vorsichtig sein und diese Anzüge überziehen, bevor wir die Schleuse passieren. Wir sind direkt über dem Labor.“

„Wie haben Sie es nur geschafft, so eine große Fläche zu dekontaminieren, Doktor?“, fragte Abdullah. „Das müsste doch nach Ihrem Fachjargon Dekon-Fl heißen, oder irre ich mich?“

Dr. Gabriel lächelte. „Stimmt genau, Abdullah. Ich vergesse immer, dass du ebenfalls ein hervorragender Wissenschaftler bist, bitte verzeih mir. Also, wir haben Jahre dafür gebraucht. Wirklich anstrengende, lange Jahre.

„Mit Stolz kann ich sagen, dass wir inzwischen ein dreißig km² großes Areal strahlungsfrei bekommen haben. Wir haben dazu regenschwere Wolken über uns mit künstlichen Kristallisationskeimen versetzt, die wir zuvor mit ASA01 angereichert hatten.

„Den Rest der Arbeit haben wir dann Mutter Natur überlassen. Gott sei Dank haben wir es außerdem erreicht, dass hier zumindest in einem Radius von fünfzig km² keine Meteoriten mehr einschlagen.“

„Wie haben Sie das denn geschafft? Ich meine das mit den Meteoriten? Bestimmt nicht wieder durch ein kompliziertes und teures Verfahren, oder etwa doch?“

Dr. Gabriel warf Abdullah einen kurzen Blick zu. „Ach so, du meinst das ironisch?“, sagte er leicht verwirrt. „Na ja, wie auch immer. Wir haben starke Laserkanonen installiert, die alle möglichen Gefahren aus dem Weltall gleich nach Eintritt in die Atmosphäre neutralisieren.“

Genau in diesem Moment wurden die abgedunkelten Scheiben des Flugzeugs wieder klar und gaben die Sicht auf einen paradiesischen Anblick frei.

„Aber wie du siehst, hat sich der ganze Aufwand gelohnt“, kommentierte Dr. Gabriel stolz. „Siehst du diese Vegetation? Herrlich! Diese Farben! Diese Pflanzen! Das muss man einfach gesehen haben. Da kannst du dir selbst ein Bild davon machen, wie wichtig das Labor und die Menschen, die hier leben, der GLOBEX-Leitung sind. Wir haben keine Kosten gescheut, um diesen wunderbaren Ort hier zu erschaffen. Hier im Labor sind wir vor jeder radioaktiven Strahlung sicher, und das war schon immer so. Aber wir haben es als unsere Pflicht angesehen, auch die Umgebung zu entstrahlen.“

Abdullah blickte aus dem Fenster. „In der Tat, es ist wirklich beeindruckend. Aber ich habe im Moment andere Dinge im Kopf, als mich für diese außergewöhnliche Landschaft zu begeistern. Außerdem frage ich mich schon: Wozu der ganze Aufwand? Wäre es nicht einfacher gewesen, das hiesige Labor aufzugeben und irgendwo anders ein komplett neues aufzubauen?

„Ich verstehe, dass du verärgert bist Abdullah“, sagte Dr. Gabriel. „Aber bitte warte ab, bis du alles mit eigenen Augen gesehen hast. Und was SALOMON 1 angeht … Ach, wenn es doch so einfach wäre, es aufzugeben!

„Glaube mir, Abdullah, dieses Labor hier ist mit keinem anderen zu vergleichen. Von hier wegzugehen, hätte uns noch einmal zwanzig bis dreißig Jahre zurückgeworfen, und das hätte verheerende Folgen für die ganze Menschheit gehabt.

„Was wir aber aufgegeben haben, das ist der Rest dieses Landes. Da ist leider vorerst nichts mehr zu machen. Die USA, so wie du sie aus den Geschichtsbüchern kennst, wird es in absehbarer Zeit nicht mehr geben.

„Selbst wenn wir davon ausgehen, dass von heute an kein Gestein mehr vom Himmel fällt, dann würde es Jahrtausende dauern, bis sich der Boden wieder erholt hat und wieder nachhaltiges Leben möglich ist – jedenfalls wenn wir gar nichts unternehmen. Aber wer weiß? Vielleicht werden wir es ja doch noch angehen, die Gegend hier bewohnbar zu machen, wenn wir erst einmal einen Weg gefunden haben, den Planeten zu retten, nicht wahr?“

„Was meint denn unser allwissender Professor dazu?“, sagte Abdullah.

„Oh! Der hat da in der Tat eine ganz andere Sichtweise. Er meint, dass wir Wissenschaftler sind und keine Weltuntergangszenaristen. Wir forschen bis zuletzt weiter, bis es nicht mehr geht. Wenn wir alles Erdenkliche und Menschenmögliche getan haben, um voranzukommen, dann werden wir am Ende auch mit einem reinen Gewissen sterben. Du bist Moslem, Abdullah. Ich habe angenommen, du würdest auch so denken. Der Professor erzählt uns immer wieder von eurem Propheten. Dieser soll einmal gesagt haben: ‚Wenn ihr seht, dass die Welt untergeht, und ihr habt einen Baum zu pflanzen und noch genug Zeit, es zu tun, dann tut es.“

Abdullah entgegnete: „Ja wahrlich, das ist ein schöner Hadith. Das kenne ich tatsächlich.“

Die beiden zogen sich die Schutzanzüge an und passierten die letzte Schleuse zum Labor.

„Nur noch eine letzte Tür, Abdullah“, sagte Dr. Gabriel. „ Bist du bereit?“

Abdullahs endliche Reise

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