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Schicksalsmoment in Indien

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Fünfzehn Jahre später. Inzwischen lebte ich mit meiner Familie in Deutschland. Ich hatte mich in meiner neuen Umgebung eingelebt, hatte dort meine Ausbildung in Krankenpflege gemacht und ein Studium in Psychologie und Religionspädagogik absolviert. Und ich war in einen Orden eingetreten – 1987, mit siebzehn Jahren.

Jetzt, 1999, war ich zu einer Konferenz nach Kottayam in Indien eingeladen, wo ich seit 1991 tätig war. Kottayam liegt im Bundesstaat Kerala im Südwesten Indiens und ist das Zentrum der syrisch-orthodoxen Christen von Kerala. Bereits im 4. Jahrhundert waren die ersten Christen in die Region gelangt. „Thomaschristen“ nennt man die Angehörigen der indischen christlichen Kirchen, die ihre Geschichte auf eine Erstmission durch den Apostel Thomas zurückführen. Dieser Apostel hatte im Jahr 53 Nordindien erreicht und war – einer späteren Legende zufolge – entlang der südwestlichen Küste Indiens, dem heutigen Kerala, bis nach Madras gereist, wo er von einem Speer tödlich getroffen wurde. Bis heute betrachten die alten christlichen Kirchen Indiens den Apostel Thomas als ihren Gründer und spirituellen Vater und bezeichnen sich als „Töchter des heiligen Thomas“.

Im Laufe der Jahrhunderte kam es – nach der gewaltsamen Katholisierung der indischen Christen durch die Portugiesen – zu verschiedenen Kirchenspaltungen, in deren Folge sich der nichtkatholische Teil der Thomaschristen der Syrisch-Orthodoxen Kirche von Antiochien annäherte. Die Christen haben Kottayam sehr geprägt, vor allem das Bildungswesen. So war das Priesterseminar der Malankara Orthodox-Syrischen Kirche das erste mit einer englischen Ausbildung in ganz Südindien. 1817 entstand hier die erste Highschool Keralas, vielleicht gar Indiens, drei Jahre später mit der „Baker Memorial Girls Highschool“ eine der ersten Mädchenschulen des Landes. Heute gilt Kottayam aufgrund der großen Zahl an überdurchschnittlich guten Bildungsinstitutionen als das akademische Zentrum Südindiens. Eine der zahlreichen Institutionen ist das „St. Ephrem Ecumenical Research Institute (SEERI)“, ein wissenschaftliches Zentrum für syrische Sprache und Kultur. Hier sollte ich mein Referat über die pädagogisch-psychologische Sicht auf die sieben Sakramente halten.

Das SEERI befindet sich auf dem Baker Hill, einem Hügel im Stadtzentrum. Es ist ein moderner, lichtdurchfluteter Backsteinbau mit drei Stockwerken und großzügigen Fenstern und Räumen. Doch hinter dem Institut sah die Welt ganz anders aus: Vierzehn Familien hausten hier, insgesamt zweiundachtzig Personen – darunter viele Kleinkinder, Ältere, Kranke – allesamt unter den ärmlichsten Bedingungen. Sie hatten kein Dach über dem Kopf, keine Kleider, nichts zu essen. Es regnete und der Monsun schüttete Wassermassen über ihre notdürftig aus Planen zusammengebastelten Behausungen. Verzweifelt versuchten die Menschen, die Planen so zu halten, dass das Wasser die Zelte nicht völlig überschwemmte. Ein sinnloses Unterfangen. Überall Pfützen, so groß wie Badewannen.

Und dann kam der Moment, der mein Leben maßgeblich verändern sollte. In einer der vielen Wasserlachen sah ich ein kleines Kind. Es war vielleicht eineinhalb Jahre alt. Es lag friedlich da und schlief. Ich beobachtete, wie die Eltern einen flachen Stein unter den Körper des Kindes schoben, damit es nicht mehr im Wasser liegen musste. Ganz vorsichtig und liebevoll gingen sie dabei vor, damit das Baby nicht aufwachte. Das war das Einzige, was sie für ihr Kind tun konnten.

Ich schaute dieses Kind und die hilflosen Eltern an und spürte sofort, dass dieser Moment einen Auftrag für mich enthielt. Was, so fragte ich Gott, was willst du mir mit diesem Anblick sagen? Verschiedene Verse aus der Bibel schossen mir durch den Kopf. Jesus sagt, in meinem Garten gibt es viel Arbeit, aber nur wenige Arbeiter. Jesus sagt, wenn du den Niedrigsten siehst, dann siehst du mich. Und Jesus sagt: „Was ihr getan habt einem unter diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan.“

Und genau danach wird er mich einmal fragen: Hast du das getan? Hungernden zu essen gegeben, Kranke besucht, Durstige getränkt, wie es in Matthäus 25,31-40 beschrieben ist?

Plötzlich fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Was hatte ich in meinem Leben eigentlich bisher geschafft? Ich hatte mich für ein Leben entschieden, das sich am Wort Gottes orientiert. Ich trug einen Schleier, auf den ein Weg eingestickt ist – eine Erinnerung daran, dass Leben in der Nachfolge Jesu heißt, die Welt hinter sich zu lassen und Jesus zu folgen, ohne Wenn und Aber. Aber dann hatte ich doch erst einmal nur meine Ausbildung im Blick gehabt. Ich war in die Krankenpflegeschule gegangen, danach an die Uni, und hatte zuletzt in einem Hospiz gearbeitet, wo ich mich monatlich über ein fürstliches Gehalt von 8000 DM freute. Doch konnte es das gewesen sein? War es das, was Gott mit mir vorhatte? Hatte er mir nicht die Fähigkeit und die Kraft gegeben, mich für die Schwächeren einzusetzen, ihnen zu helfen, ihnen Perspektiven aufzuzeigen? War das nicht wertvoller als Geld?

Es war ein Schicksalsmoment. In dieser Situation gab ich Jesus ein Versprechen: „Ich werde nicht mehr für Geld arbeiten, solange es irgend möglich ist. Und ich lege mein Leben ganz in deine Hände. Ich schenke es dir und stelle es dir ganz zur Verfügung. Aber ich habe eine Bedingung. Du musst mich begleiten. Ich bin ein Mensch, ich bin kein Engel. Ich brauche deine Begleitung.“

Ich beschloss also spontan, in Indien zu bleiben. In einem der ärmsten Länder der Erde. Über 300 Millionen Menschen leben hier in absoluter Armut, das sind 25 Prozent der Gesamtbevölkerung und gut ein Drittel der weltweit Armen insgesamt.

Ich stornierte den Rückflug, kündigte meinen Job und bevollmächtigte meine Schwester, mein ganzes Erspartes nach Indien zu transferieren. Von dem Geld kaufte ich Schuhe für die Familien hinter dem Institut. Für alle 84 Menschen. Nie werde ich vergessen, wie mich die Beschenkten anstarrten, als sie die Schuhe in Händen hielten. Erst wussten sie gar nicht, was sie damit anfangen sollten. Ich musste ihnen vormachen, wie man sich Schuhe anzieht. Ich musste ihnen zeigen, dass sie an die Füße gehören und nicht etwa unter die Achseln, wo sie sich viele mittels der Schnürsenkel hinplatziert hatten.


Mit dieser Schuh-Aktion begann 1999 meine karitative Arbeit in Indien. In den folgenden Monaten baute ich vor Ort ein Team aus Helfern auf und sammelte Spenden. Von dem Geld ließ ich Häuser, Brunnen, Schulen bauen und versorgte all jene mit Lebensmitteln, denen es aus gesundheitlichen oder altersbedingten Gründen nicht möglich war, für sich selbst zu sorgen.

Was damals klein begann, ist bis heute zu einer internationalen Organisation herangewachsen, die Sektionen in Europa, dem Mittleren Osten, Asien und den USA unterhält. Seit 2005 ist die Stiftung Schwester Hatune – Helfende Hände für die Armen in Deutschland und Indien registriert und international anerkannt. Die indische Regierung hat sie im selben Jahr ausgezeichnet als diejenige Stiftung, die die Lebensverhältnisse der Armen am besten kennt und deren Hilfe wirklich effektiv ist.

Im Jahr finanzieren wir den Bau von 500 Häusern und ebenso vielen Brunnen. 2000 Familien werden monatlich mit Nahrungsmittelsäcken versorgt. 300 Waisenkinder erhalten Unterkunft und Nahrung, 1300 Schülerinnen eine Schulbildung. Und wir sind in vielen weiteren Bereichen tätig, von denen dieses Buch berichtet.

Der Schlüssel zum Erfolg der Sister Hatune Foundation, wie die Stiftung auf Englisch heißt: Die Spender wissen, dass ihr Geld garantiert bei den Bedürftigen ankommt und nicht in irgendwelchen dunklen Kanälen versickert. Von Anfang an bemühte ich mich, für größtmögliche Transparenz zu sorgen. Die Spender sollen genau erfahren, was mit ihrem Geld passiert. Sie können es sogar selbst bestimmen, wenn sie wollen. Wer zum Beispiel fünf Euro (250 Rupien) überweist, kann damit eine ganze Familie einen Monat lang ernähren. Sechs Euro kostet die Einkleidung eines Kindes mit einer Schuluniform, für 120 Euro kann es ein Jahr lang zur Schule gehen und an der Schulspeisung teilnehmen. Eine Nähmaschine für eine Familie, die sich damit ihren Lebensunterhalt verdienen kann, gibt es für 60 Euro. Einen Leprapatienten kann man mit 50 Euro monatlich unterstützen. Wer mehr spenden möchte, kann sogar ein ganzes Haus oder einen Brunnen finanzieren: 450 Euro kostet die Stiftung ein Haus (der Restbetrag – etwa 1350 Euro – wird durch den Staat, regionale Institutionen und private Gönner finanziert), 500 Euro ein Brunnen. Und die Transparenz ist auch für die Empfänger gegeben: Jedes Haus, jeder Brunnen wird mit dem Namen des Spenders versehen.

Neben der Versorgung mit dem Nötigsten – einem Dach über dem Kopf, Trinkwasser und Nahrung – liegt mir die Ausbildung der Kinder besonders am Herzen. Sieben Schulen habe ich in Kerala bisher eröffnet. 1300 Mädchen lernen dort – alle aus Familien, die sich die Schuluniform ohne Unterstützung nicht leisten und somit ihre Kinder nicht zur Schule schicken könnten. Hilfe zur Selbsthilfe ist mein Anliegen. Wie ein altes asiatisches Sprichwort schon sagt: Es ist immer besser, den Menschen zu zeigen, wie man den Fisch fängt, als ihnen den Fisch auf den Tisch zu legen.

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