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Flucht 1984, Zaz im Tur Abdin, Südosttürkei

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Niemand hatte an das Gewehr gedacht. Weder mein Vater noch ich. Das Gewehr trug ich immer bei mir, wenn ich nachts zu meinem Vater auf den Weinberg ging. Erst schützte es mich auf dem Weg durch die Dunkelheit, dann uns beide bei der Nachtwache. Doch in dieser Nacht, in der Nacht vom 14. auf den 15. September 1984, sollte ich nicht wie sonst auf den Weinberg kommen.

„Bleib heute zu Hause“, sagte mein Vater. „Du wirst hier mehr gebraucht.“ Er blickte kurz zum Haus, in dem meine Mutter gerade das Abendessen zubereitete. Meine älteste Schwester war mit ihrem Mann zu Besuch. Sie wohnten viele Kilometer entfernt, an der Grenze zum Irak, und kamen nicht oft zu uns. Zur Feier des Tages hatte mein Vater am Morgen zwei Hühner geschlachtet. Da mein Schwager nur Kurdisch und Ostsyrisch sprach, meine Mutter jedoch nur Aramäisch, sollte ich dableiben, um zu übersetzen.

„Und du?“, fragte ich.

„Ich werde gehen.“

Ich merkte, wie schwer es meinem Vater fiel, uns mit dem Besuch allein lassen zu müssen. Für jeden Fremden öffnen wir unser Haus, bewirten ihn mit unserem Brot und unseren Früchten, schenken ihm Wein und Säfte ein, tränken seine Pferde und richten ihm die Bettstatt her. Es ist diese selbstverständliche Gastfreundschaft, die man gern mit den Orientalen verbindet. Dabei haben die sie einst von uns gelernt. Und wir wiederum von Abraham, der selbstlos und ohne jede Absicht die Gäste Gottes empfing, großzügig bewirtete und beherbergte. Für meinen Vater als Christen ist Gastfreundschaft keine bloße Tugend, sondern ein tiefes Bedürfnis. Und ausgerechnet jetzt, wo seine älteste Tochter mit ihrem Mann gekommen war, musste er das Haus verlassen.

Er hatte keine Wahl. Die Trauben waren fast reif. Nur wenige Sonnenstrahlen brauchten sie noch, bis sie die richtige Süße und pralle Größe erreicht hätten und wir sie ernten könnten. Aus den Trauben machten wir Wein, Säfte und Sirup oder ließen sie zu Rosinen trocknen. Dreihundert Liter Wein produzierten wir im Jahr. Rosinen hatten wir oft tonnenweise, manchmal füllten die Säcke zwei ganze Räume, während sich in den Regalen der Weinkuchen stapelte. Den Weinkuchen stellten wir aus Sirup her, gossen dafür die dicke Soße über schweres Leinen, ließen die Masse in der Sonne gehen und falteten dann die getrockneten und elastischen Fladen in Dreiecke zusammen. Den ganzen Winter über hatten wir eine nahrhafte Süßigkeit – eine Art Weingummi, wenn man so will.

Bis heute lasse ich mir den Weinkuchen aus der Türkei mitbringen. Wenn ich ihn hier, fern der Heimat, auseinanderzupfe und mir der schwache Geruch, in dem neben der Frucht auch das frische Leinen zu ahnen ist, entgegenströmt, muss ich nur die Augen schließen und bin wieder in meinem Heimatdorf Zaz im Südosten der Türkei. Dann spaziere ich durch die fruchtbaren Weinberge, klettere durch die Kronen unserer achtundvierzig Mandelbäumchen, die so dicht beieinanderstehen, dass man sie nacheinander erreicht, ohne den Boden zu berühren, und gehe über unsere Felder, auf denen nahezu alles wächst, was man zum Leben braucht – Auberginen, Tomaten, Paprika, Melonen, Granatäpfel, Oliven, Getreide …

Wir hatten von allem reichlich. Doch wenn die Früchte reif wurden, mussten wir aufpassen, damit uns keiner so kurz vor der Ernte alles zunichtemachte. So wie es erst wenige Wochen vor dem Besuch meiner Schwester in unserem Dorf geschehen war.

Drei junge Männer waren von der Armee zurückgekommen und das ganze Dorf feierte ihre unversehrte Heimkehr. Ein solches Ereignis ist bei uns immer Anlass für ausgelassene Freudenfeste. Werden Christen in die türkische Armee eingezogen, glauben ihre Angehörigen in der Regel nicht, dass sie sie jemals wiedersehen. Unter Tränen werden die Söhne verabschiedet. Nicht, weil ein Krieg ausbrechen und sie als Soldaten fallen könnten. Sondern weil sie den Krieg vom ersten Fahnenappell an haben – und zwar in der eigenen Kompanie. Vom ersten Tag an sind sie der Feind, das Opfer von Schikane, Misshandlung und Folter, sowohl seitens der Kameraden wie der Offiziere. Ich kenne die Geschichten von meinem Vater und meinen Brüdern. Es sind immer dieselben, auch wenn ein paar Jahrzehnte dazwischenliegen.

So fand sich mein Vater am Anfang seiner Armeezeit eines Abends nach dem Duschen achtzig Männern gegenüber, die ihn beschimpften und bespuckten, weil er als Christ nicht beschnitten war. Sie schrien ihn an, dass er sich beschneiden lassen und ein ordentlicher Muslim werden solle. Doch mein Vater blieb standhaft. „Ich bin bereit zu sterben, aber meinen Glauben wechsele ich nicht“, rief er, was die anderen nur noch mehr erregte. Die Spitzen der Soldatenstiefel bohrten sich in seinen Leib, der Speichel der Männer floss über seinen Körper. Mein Vater hat die Armeezeit überlebt, mein Bruder auch. Sie hatten Glück. So wie auch die drei jungen Männer aus unserem Dorf, für die das Fest ausgerichtet wurde.

In dieser glücklichen Nacht hatte niemand daran gedacht, auf den Feldern, wo die Wassermelonen gerade reiften, Wache zu halten. In dieser glücklichen Nacht fühlte man sich unverletzbar, sicher und außer Gefahr. Schließlich hatten die drei jungen Männer die Armeezeit überstanden. Das machte Hoffnung – und leichtsinnig.

Und in dieser Nacht kamen sie. Mit Messern, Säbeln und Dolchen machten sie sich über die Felder her, metzelten die Früchte nieder wie eine Armee böser Feinde. Gestohlen haben sie nichts, nur zerstört. Und das gründlich. Als die Familien am nächsten Morgen, noch müde vom Freudenfest der vergangenen Nacht, auf die Felder kamen, bot sich ihnen ein grausames Bild. Alles war rot vom Fleisch der Melonen, das aus den aufgeschlitzten Schalen quoll und sich über alle mehr als dreißig Felder ergoss. Keine einzige Frucht war ganz geblieben. Doch viel schmerzlicher als der Verlust der Ernte war die Angst vor der blinden Zerstörungswut, mit der sie die Früchte der Christen kaputt gemacht hatten. Denn diese galt nicht den Melonen. Sie galt den Menschen.

„Aber dann bist du allein auf dem Feld“, sagte ich zu meinem Vater. Der Gedanke beunruhigte mich so sehr, dass ich mich am liebsten seinem Wunsch widersetzt und ihn auf der Stelle begleitet hätte.

„Keine Sorge, Hatune“, antwortete mein Vater und wandte sich zum Gehen. Ich hielt ihn zurück, strich ihm über den Kopf, rieb meine Handfläche kurz an seinem Haaransatz und gab ihm dann einen schnellen Kuss auf die Stirn. So hatten wir uns immer verabschiedet, es war unser ganz eigenes Ritual. Dann machte er sich auf den Weg. An das Gewehr hatten wir beide nicht gedacht. Und so war mein Vater ausgerechnet in dieser Nacht ganz allein und ohne Waffe auf dem Weinberg.


Schon im 14. Jahrhundert vor Christus war das Land, auf dem wir lebten, von unseren Vorfahren besiedelt: den Aramäern. Noch heute sprechen wir Aramäisch, die Sprache Jesu. Aramäer waren es auch, welche die erste christliche Gemeinde außerhalb Palästinas gründeten – in Antiochien, der drittgrößten Stadt der Antike, in die damals vor gut zweitausend Jahren Juden und Apostel aus Palästina vor der Christenverfolgung Zuflucht fanden. Aus der urchristlichen Gemeinde entwickelte sich die erste Kirche der Welt: die Syrisch-Orthodoxe Kirche von Antiochien. Sie war Mutter und Ursprung aller östlichen und westlichen Kirchen. In Antiochien war auch zum ersten Mal in der Geschichte von „Christen“ die Rede. „Christianoi“ nannte man die Anhänger dieser neuen Gemeinde. Von Antiochien aus, dem heutigen Antakya in der Türkei, verbreitete sich das Christentum schließlich in der ganzen Welt.

Das Zentrum der Syrisch-Orthodoxen Kirche von Antiochien lag jedoch gut sechshundert Kilometer weiter östlich in Mesopotamien: in den Dörfern des Tur Abdin, dem Kalksteingebirge im heutigen Südosten der Türkei, meiner Heimat. Bereits im 1. Jahrhundert wurden die hiesigen Aramäer von den Aposteln Thomas und Thaddäus zum Christentum bekehrt. „Syrer“ nannten sich die aramäischen Christen fortan, um sich von ihren heidnischen Brüdern zu unterscheiden. Bis heute bezeichnen wir uns so, auch wenn dies mit Blick auf das heutige Syrien zuweilen für Irritationen sorgt. Zahlreiche Kirchen und rund achtzig Klöster entstanden in den Orten des Tur Abdin, die große Gelehrte und Mönche hervorbrachten. „Berg der Knechte Gottes“ heißt Tur Abdin übersetzt. Manche sagen auch wegen der ungewöhnlichen Dichte an sakralen Bauten „Berg Athos des Ostens“.

Allein vier Kirchen hatte schon Zaz, das Dorf, in dem ich geboren wurde. „Mor Dimet“ ist die älteste. Erhaben thront die wehrhafte Anlage auf dem Berg und ist schon von Weitem zu sehen, wenn man sich dem Ort nähert. Vor der Christianisierung wurde das burgähnliche Gebäude erst als Sonnentempel genutzt, dann als Militärstützpunkt der Assyrer. Doch schon ab dem Jahr 192 war es eine christliche Kirche. Anfang des 4. Jahrhunderts, im Jahr 312, kam der Evangelist St. Johannes von Kfone in unser Dorf und taufte in dem kleinen Weiher 3333 Menschen. Ihre Nachfahren – einige von ihnen leben nun in Heidelberg – nennen sich bis heute Zazoye, „aus Zaz stammend“.

Doch die Christen im Tur Abdin hatten es von Anfang an schwer. Immer wieder gerieten sie zwischen die Fronten und wurden verfolgt. Vom 4. bis zum 7. Jahrhundert bildete der Gebirgszug die Grenze zwischen Oströmern und den Sassaniden. Später kamen die Perser. Und mit ihnen der Islam. Zu Beginn glaubten die Syrer noch, Gott habe den Islam geschickt, um sie von den Oströmern zu erlösen. Doch nach den Christenverfolgungen der Römer kamen jetzt die Missionszüge der Muslime. Die Christen wurden gezwungen zu konvertieren – wenn auch nicht immer mit Gewalt, so doch mit zahlreichen Verboten und Schikanen, deren Missachtung mit dem Tod bestraft wurde. In den Städten durfte ein christliches Haus keine zehn Zentimeter höher sein als die Häuser der Muslime. In dieser Zeit verschwanden die Kirchtürme aus den Städten. Christen mussten bei der Feldarbeit Balkenkreuze tragen und sich anders als die Muslime kleiden, damit jeder schon von Weitem die „Ketzer“ erkannte. Christen durften auch nicht auf Pferde steigen. Als einer einst dennoch beim Reiten entdeckt und von Muslimen verfolgt wurde, ritt er auf ein Kloster zu, in der Hoffnung, dort dem Tod zu entkommen. „Macht die Tore auf“, rief er. Dem Reiter wurde Einlass gewährt. Doch sein Vergehen sollte alle Mönche und Schwestern des Klosters das Leben kosten.

Zweihundert Jahre dauerte diese Schikane, viele Christen gaben in jener Zeit auf und konvertierten. Die Islamisierung der Türkei war bekanntlich sehr erfolgreich. Wie ein Wunder scheint es da, dass sich im Tur Abdin über die Jahrhunderte bis heute überhaupt noch christliche Dörfer halten konnten. Der Grund ist vor allem in der Geografie zu sehen. Der Tur Abdin ist ein gebirgiges Land und etwas mühsam zu erreichen und zu durchqueren. Hier gab es weder bedeutende Großstädte noch wichtige Handelswege. Die Islamisten sahen daher wenig Sinn darin, sich auf den beschwerlichen Weg zu machen und die Dorfbewohner hier mit harter Hand zu missionieren.

Ihren Frieden fanden die 382 christlichen Dörfer des Tur Abdin deswegen jedoch noch lange nicht. Kein Jahrzehnt verging ohne Plünderungen, Morde, Entführungen und Vergewaltigungen. Im frühen 18. Jahrhundert zum Beispiel zogen Prinz Bidin aus Amida (später Diyarbalm) und Prinz Schemdin aus dem kurdischen Gazira im Tur Abdin ein und richteten ein ungeheures Blutbad an. Bidin, so schreibt der Priester Johannon aus Beth Sbirino im Jahr 1711, „tötete jeden Menschen, den er traf. Im Dorf Bote zertrümmerte er den Altar der Mor-Aphrem-Kirche und zerstörte das ganze Dorf. Im Dorf Zaz gab er Befehl, die Mor-Dimet-Kirche in Trümmer zu legen. Er zerstörte auch andere Dörfer und Kirchen und zerstreute Familien und Sippen. Von Midun bis Botan steckte er alles in Brand. Bei diesem bitteren Schicksalsschlag wurden selbst Kleinkinder, Kinder und Frauen umgebracht. Und so wüteten sie fünfzig Tage lang, in denen sie plünderten und mordeten.“

Rund hundert Jahre später plünderte und mordete Mohammad Pascha, bekannt als Prinz Kur des großen kurdischen Dorfes Rawanduz, im Tur Abdin. Bischof Gewarigs aus Azech beschreibt in einem Gedicht die Ermordung der Kinder und jungen Männer, des Priesters Simon, des Diakons Ebed Mschiho, des in den Wissenschaften und in der Geschichte bewanderten Diakons Murad und des Diakons Behnam. Der Kurden-Prinz „führte Krieg gegen die Christen, tötete die Männer mit dem Schwert, nahm Tausende gefangen, ließ die göttlichen Melodien in den Kirchen und Klöstern verstummen.“

Vor allem gegen Ende des 19. und dann im 20. Jahrhundert kam es zu Massakern durch die osmanische Armee und kurdische Banden, deren grausamer Höhepunkt das Jahr 1915, das sogenannte Jahr des Schwertes, war. Zwei Millionen Christen wurden in diesem Völkermord in der Türkei vernichtet: 1,5 Millionen Armenier, 500 000 Syro-Aramäer. Im Tur Abdin sind ganze Dörfer entvölkert worden. Auch Zaz, mein Dorf, hat damals einen Großteil seiner Bewohner verloren.

Vor dem Aufkommen des Islam im Gebiet der heutigen Türkei im 8. Jahrhundert umfasste die syrisch-orthodoxe Kirche von Antiochien 72 Millionen Menschen. Selbst unter der beginnenden islamischen Vorherrschaft konnte sie sich weiter entfalten und erlebte bis zum 13. Jahrhundert eine Blütezeit, in der sie sich von Tarsus, Zypern und Jerusalem im Westen bis nach Herat im heutigen Afghanistan ausdehnte und in über hundert Bistümern organisiert war. Heute umfasst diese Kirche noch eine halbe Million Mitglieder. Wo sind diese Christen geblieben?

In der Zeit vom Jahr 1000 bis 1200 gab es die grausamste Verfolgung bisher. Die Häuser der Christen mussten niedriger sein als die der Muslime. Wenn ein christliches Haus auch nur zehn Zentimeter höher war als die muslimischen, wurde es zerstört, ebenso wie die Kirchtürme. Bis zum Jahr 1000 bestand die Bevölkerung im gesamten Orient schätzungsweise zu 96 % aus Christen. Heute sind es insgesamt 6 Prozent.

Seit dem Genozid in der Türkei an den Christen von 1915 waren die syro-aramäischen Gläubigen für den Staat und die Welt kaum noch existent. Anders als den griechisch-orthodoxen Christen, den armenischen Christen und den Juden wurde der syrisch-orthodoxen Religionsgemeinschaft im Friedensvertrag von Lausanne 1923 nicht der Status einer offiziell anerkannten religiösen Minderheit zuerkannt. Deshalb haben wir in der Türkei noch weit weniger Rechte als andere Minderheiten. Wir dürfen keine Schulen einrichten und unterhalten. Wir müssen staatliche Schulen besuchen und am muslimischen Religionsunterricht teilnehmen.


Der staatliche Stundenplan sah zwei Stunden wöchentlich für muslimische Religionskunde vor. Auch in meiner Schule, obwohl nur Christen sie besuchten und der einzige Muslim der Religionslehrer war. Wir Schüler hatten uns von Anfang an darauf verständigt, den Religionsunterricht zu boykottieren, wir wollten unter keinen Umständen daran teilnehmen. Das blieb natürlich nicht ungestraft. Wenn die Schulglocke am Freitag die Religionskunde ankündigte, mussten wir alle an die Tafel und die Hände vorstrecken. Der Lehrer zückte sein langes Lineal – es war aus schwerem, scharfkantigem Metall – und schlug uns auf die Hände. Vier Schläge auf die linke Hand, vier Schläge auf die rechte. Hatten alle ihre Prügel erhalten, waren wir entlassen und durften die nächsten zwei Stunden spielen, lesen oder malen – sofern die geschwollenen Finger den Stift überhaupt noch ohne Zittern halten konnten.

In der Schule mussten wir Türkisch sprechen. Aramäisch, unsere Muttersprache, war strengstens verboten. Nicht einmal in den Pausen durften wir uns auf Aramäisch unterhalten. Eines Tages – wir waren in der dritten Klasse und hatten Pause − ging Habib zur Tafel. Von seinem älteren Bruder, der Diakon war, hatte er gelernt, seinen Namen auf Aramäisch zu schreiben. In der Schule lernten wir nur Türkisch lesen und schreiben; in unserer Muttersprache blieben viele von uns, wie meine Eltern, Analphabeten. Sogar unsere Namen hatte man türkisiert, Dogan ist nicht mein ursprünglicher Familienname. Früher hießen wir Josef. Und auch Zaz ist in den türkischen Schulatlanten nicht zu finden, dafür an seiner Stelle ein Ort namens Ižbrak.

Habib also war stolz auf seine ersten aramäischen Buchstaben und wollte uns zeigen, was er gelernt hatte. Er schrieb gerade das H mit dem A darüber an die Tafel – in der aramäischen Sprache sind die Vokale über den Buchstaben –, als wir auf dem Flur die schnellen Schritte des Schuldirektors hörten. Wir stürmten an unsere Plätze; es blieb keine Zeit, die verbotenen Lettern wegzuwischen. Der Direktor trat ein, entdeckte den aramäischen Buchstaben an der Tafel und geriet in Rage. „Welcher Ketzer hat diesen ketzerischen Buchstaben geschrieben?“, schrie er in den Raum, der Kopf puterrot vor Wut.

Wir schwiegen, alle. Wir wussten, wenn wir Habib verraten, hat der Direktor das Recht, ihn totzuschlagen. Der Direktor wiederholte seine Frage, lief ungeduldig vor uns auf und ab wie ein Tiger in einem Käfig. Im Raum war es unerträglich still. Nur die Schritte des Direktors waren zu hören. Dann brüllte er: „Ihr habt es nicht anders gewollt! Alle nach vorn an die Tafel!“

Wir stellten uns auf, wie wir es auch freitags immer zum Boykott der Religionsstunde taten, streckten die Hände vor und erwarteten unsere Schläge. Doch mit den gewohnten Freitagsschlägen waren die, die der Direktor uns jetzt verpasste, nicht zu vergleichen. Heute schlug er härter zu, brutaler, voller Wut. Habibs Bruder, der neben mir stand, zog aus Reflex immer seine Hände vor dem Stock zurück. Daraufhin wurde der Direktor immer wütender. „Ein Ketzerschüler versteckt seine Hand nicht vor mir!“, brüllte er, ergriff mit seiner linken Hand die des Jungen und schlug mit der rechten zu. Ich sah fassungslos, wie die kleine Hand des Jungen rot wurde, sich eine große Blase auf ihr erhob und platzte. Und der Direktor prügelte immer weiter, als wäre der arme Junge schuld am ganzen Unglück dieser Welt.

Später gehörte es zu meinen Aufgaben als Schulsprecherin, die Namen derjenigen Schüler aufzuschreiben, die in den Pausen Aramäisch sprachen, damit der Lehrer sie dann bestrafen konnte. Ich wollte das nicht machen. Ich wollte auch nicht Schulsprecherin sein. Aber dazu wurde immer der Schüler oder die Schülerin mit den besten Noten bestimmt. Und das war leider ich. Es war eine ausweglose Situation, ein klassisches Dilemma: Wenn ich die Namen der Schüler nicht aufschrieb und der Lehrer hörte, dass sie sich in ihrer Muttersprache unterhielten, war ich es, die er schlug. Schrieb ich die Namen jedoch auf, bekam ich ebenfalls Prügel: von meinen Mitschülern, in deren Augen ich eine Verräterin war. Ich habe schließlich die Schläge der Lehrer vorgezogen. Die der anderen Kinder haben mehr wehgetan. Der Schmerz ging da nämlich tiefer – direkt ins Herz.


Während mein Vater nun also allein und ohne Waffe auf dem Weinberg war, aßen wir zu Hause zu Abend, tauschten die neuesten Geschichten aus und genossen die laue Sommernacht. Da meine Schwester und ihr Mann von der langen Reise müde waren, gingen wir jedoch bald zu Bett. Im Sommer schliefen wir immer auf den Dächern unserer Häuser, da es im Tur Abdin dann durchschnittlich sechsunddreißig Grad warm ist und in geschlossenen Räumen nachts schon mal bis zu sechzig Grad heiß wird. Von Mai bis Oktober regnet es praktisch nicht, sodass wir nicht fürchten müssen, von einem Sommerregen aus dem Schlaf gerissen zu werden.

Für mich war es ungewohnt, so früh ins Bett zu gehen. Seit meinem elften Lebensjahr, als meine vier älteren Geschwister aus dem Haus waren und ich die Verantwortung für meine fünf jüngeren Geschwister übernahm, schlief ich nur noch sehr wenig. Im Sommer, wenn wir keine Schule hatten – der Unterricht fand nur im Winter statt, dafür aber ganztägig –, sah mein Tag in etwa so aus: Vor Sonnenaufgang stand ich auf, melkte das Vieh und brachte es zur Herde. Dann bepackte ich den Esel und das Pferd mit dem Proviant sowie den Arbeitsgeräten und ging mit meinen Eltern und Geschwistern auf das Feld, wo wir bis zum Abend arbeiteten. Kamen wir heim, melkte ich das Vieh, während mein Vater schon zur Wache ging. Er wollte vor Sonnenuntergang auf seinem Posten sein. Ich folgte ihm, sobald ich mit meiner Arbeit fertig war.

Bis eins blieben wir draußen. Doch wenn wir dann nach Hause kamen, war unser Tagwerk noch lange nicht vollbracht: Mein Vater baute ein neues Haus und da wir tagsüber nicht dazu kamen, mussten wir eben in der Nacht daran weiterbauen. Es sollte unser größtes Haus werden, mit dreizehn Zimmern und einem Dach – so groß, dass wir alle und auch unsere Gäste bequem darauf Platz hätten. Ein paar Stunden lang füllten wir Erde in Eimer, die wir über eine Winde nach oben zogen, um das Flachdach aufzufüllen. Als meine Schwester und mein Schwager zu Besuch kamen, war das Dach noch nicht ganz fertig. Wir schliefen auf dem Dach des alten Hauses.

Ich war gerade eingeschlafen, als ich plötzlich von lauten Stimmen geweckt wurde. Der Nachbar stand unten am Haus und rief meiner Mutter zu: „Nichte, wo ist dein Mann?“ Meine Mutter stillte gerade meine jüngste Schwester Hadiya.

„Der ist am Weinberg“, rief sie hinunter.

Ich war auf einen Schlag hellwach und auf den Beinen. Unser Haus stand am Dorfrand und war das letzte vor den Weinbergen. Ich blicke hinüber, doch in der Dunkelheit war nichts zu sehen. Aber dann hörte ich die Stimmen. Viele laute, aufgebrachte Stimmen schallten vom Weinberg herüber. Mein Vater, dachte ich nur, er ist in Gefahr!

Für meine Mutter war schon alles zu spät. „Oh ihr Armen“, jammerte sie und wiegte das weinende Kind an ihrer Brust, „euer Vater ist getötet worden.“

Doch das wollte und konnte ich nicht glauben. Hatte ich nicht auch gerade noch die Stimme meines Vaters gehört? Wir mussten zu ihm. Alles war in heller Aufregung. Mein Schwager wäre fast vom Dach gesprungen, weil er in der Dunkelheit die Treppe nicht fand. Wir konnten ihn gerade noch zurückhalten. Und dann rannten wir, als wären Verfolger hinter uns her. Der Nachbar wollte mich und meine Schwester noch aufhalten: „Ihr Mädchen dürft da nicht hin“, schrie er, „ihr werdet vergewaltigt und entführt!“

Doch mir war in dem Moment alles egal. „Mein Vater ist in Gefahr!“, schrie ich unter Tränen. Und rannte weiter. Mein Vater, mein geliebter Vater! Sie dürfen ihm nichts antun! Wie soll ich denn leben ohne ihn? Wie könnte sich die Welt weiterdrehen, wenn er nicht mehr wäre? Ich lief, so schnell ich konnte, während mir die Tränen über die Wangen strömten. Während ich rannte, dachte ich unentwegt an meinen Vater. An sein gütiges, liebevolles Gesicht. An seine Wärme und Zärtlichkeit. An seine Frömmigkeit und Ernsthaftigkeit, wenn er sonntags für uns Schulkinder, denen es – quasi als Soldaten des Staates – verboten war, zur Kirche zu gehen, die Predigt des Pfarrers wiederholte. Wie er uns dann zur Eile mahnte, sagte: „Setzt euch schnell hin, ihr wisst, noch sind die Worte frisch in meinem Kopf. Und ein zweites Mal bekomme ich die Predigt sicher nicht mehr zusammen.“ Wie liebte ich meinen Vater in dieser frommen Verantwortung für seine Familie. Und jetzt war er in Gefahr!

Jetzt hatten wir die kleine Mauer, die den Weinberg umgab, erreicht, doch die Stimmen waren nicht mehr zu hören. Wir lauschten in die Dunkelheit, Unheil ahnend, gingen vorsichtig und suchend weiter. Furchtbare Momente der Ungewissheit und Angst waren das. Josef, unser Nachbar, rief den Namen meines Vaters. Ich betete in meinem Herzen. Und er kam von oben und wir von unten, und auf einmal stand er vor uns: mein Vater. Ich fiel ihm um den Hals, unendlich glücklich und erlöst. Ich wollte ihn nie wieder loslassen. Mein Vater zitterte am ganzen Körper. Dann erzählte er uns, was geschehen war.

Auf dem Grundstück des Nachbarn waren Diebe eingedrungen und hatten sich an den Trauben zu schaffen gemacht. Mein Vater dachte erst, es handle sich nur um gewöhnlichen Mundraub. Der war bei uns gestattet. Ganze vier Familien in unserem Dorf – Muslime, die sich 1915 in den Höfen ermordeter oder geflohener Christen einquartiert hatten – lebten allein vom Mundraub, von den Früchten unserer Arbeit. Wir hatten uns daran gewöhnt. Eine halbe Stunde hatte mein Vater darauf gewartet, dass die Diebe sich endlich wieder vom Acker machten. Bis dahin blieb er still und gab sich nicht zu erkennen. Doch nach einer halben Stunde wüteten die Diebe immer noch im Weinberg. Mein Vater musste einschreiten. „Ich kann nicht zulassen, dass diese Diebe die Früchte meines Mitbruders klauen. Es sind nicht nur Trauben!“, dachte er.

Doch er war allein und hatte keine Waffe bei sich. Die anderen waren zu sechst und ganz bestimmt bewaffnet. Was tun? Er bekreuzigte sich und betete. Dann sammelte er ein paar Steine von einer Größe, dass es ordentlich wehtat, wenn man sie abbekam, und zielte auf einen der Diebe. „Aua“, schrie der. Mit einem Schlag wurde den Dieben bewusst, dass sie nicht allein auf dem Weinberg waren.

Mein Vater befand sich in großer Gefahr. Doch er besann sich auf eine List. Er tat einfach so, als wären die anderen, die Besitzer der Weinstöcke, auch in der Dunkelheit mit ihm auf Wache. Er unterhielt sich mit den fiktiven Freunden, rief: „Danho, sie laufen in deine Richtung!“ Oder: „Lahdo, hier sind sie!“ Daraufhin hatten die Diebe einen ordentlichen Schreck bekommen und waren geflohen.

„Hier war es“, sagte mein Vater und zeigte uns die Stelle, wo die Diebe gewütet hatten. Wir kletterten über die Mauer, um den Schaden zu begutachten.

Doch plötzlich, ich stand gerade auf der Mauer, wurde auf uns geschossen. Die Plünderer hatten gemerkt, dass sie hereingelegt worden waren und kehrten zurück, um sich zu rächen. Josef rief, wir sollten uns alle auf den Boden werfen, damit uns nichts geschehe. Dann beschimpfte er die Diebe in kurdischer Sprache: „Ich bin ein Schwein und ficke eure Mutter.“ Muslime hassen ja Schweine, und die Schändung der Familie ist in etwa das Schlimmste, was man ihnen antun kann. Josef hatte auch ein Gewehr dabei und schoss damit in die Luft. Bald kam das ganze Dorf zusammen, alle wollten wissen, was vor sich ging. Doch da waren die Diebe schon längst wieder weg.

Die Polizei wurde gerufen und mein Vater nannte den Beamten die Namen der Plünderer. Er hatte sie erkannt, es waren Leute aus einem der Nachbardörfer. Auf einmal merkte ich, dass meine Zehen nass waren. Ich schaute an mir herunter und stellte fest, dass der ganze Boden mit Weintrauben bedeckt war. Die Polizisten hatten Strahler dabei und leuchteten damit die Reihen der Rebstöcke entlang. Und dann sahen wir die großen Körbe, in denen die Diebe ihre Beute gesammelt hatten: riesige Kiepen, manche zum Teil schon randvoll. Offensichtlich hatten sie vorgehabt, alles restlos abzuernten. Wir konnten es nicht fassen.

Die Polizisten nahmen die Körbe mit. Damit schien der Fall für sie erledigt.

„Papa“, fragte ich, „warum stecken sie die Weintrauben ins Gefängnis und nicht die Diebe?“

„Weil es für die Polizisten besser ist, die Weintrauben festzunehmen als die Muslime. Ein Muslim darf nämlich nicht wegen eines Christen bestraft werden und im Gefängnis landen.“

Ich wusste nicht, ob ich weinen oder lachen sollte.

Nach zwei Wochen wurde die Angelegenheit vor Gericht verhandelt. Es blieb bei dem, was mein Vater vermutet hatte: Die Weintrauben waren schuld, nicht deren Diebe. Doch obwohl die Plünderer ungestraft davonkamen, ließen sie die Sache nicht auf sich beruhen. Sie waren zum Gespött der Leute geworden. „Wie, ihr wart sechs Männer mit Waffen und habt euch von einem einzigen Ketzer, der noch nicht mal ein Gewehr dabeihatte, in die Flucht schlagen lassen?“ Sprüche wie diese mussten sich die Plünderer häufiger anhören. Das kratzte an ihrer Ehre. Eines Tages versammelten sie sich in der Stadt Midyat in der Nähe einer Bushaltestelle. Der Zufall wollte es, dass zwei Christen aus unserem Dorf in der Nähe waren und Zeugen wurden.

„Wenn wir den Sohn Josefs in die Hände kriegen“, so schworen die sechs Muslime auf den Koran, „zerkleinern wir seinen Leib in Stücke so groß wie sein Ohrläppchen.“

Und was ein Muslim auf den Koran schwört, tut er auch. Sonst verliert er seinen Glauben und seine Ehre.

Die beiden Nachbarn, die den Schwur mitgehört hatten, eilten sofort zu unserem Haus.

„Ist dein Mann daheim?“, fragten sie meine Mutter. Ich war auch im Haus, da Ferien waren und wir Kinder nicht in die Schule mussten.

„Nein, er ist auf den Feldern.“

„Dann hör gut zu, was wir dir zu berichten haben, Cousine“, sagten die beiden und erzählten von der Versammlung der sechs Plünderer und was sie sich geschworen hatten. „Sag deinem Mann, dass er nicht mehr ohne Waffe auf dem Feld arbeiten soll. Sein Leben ist in höchster Gefahr!“

Meine Mutter schaute mich an und uns beiden schossen die Tränen in die Augen. Wir sagten nichts, wir verstanden uns ohne Worte. Uns war schlagartig bewusst geworden, dass wir in diesem Moment unsere Heimat verloren hatten. Dass wir unseren Hof und unsere Ländereien verlassen mussten, so wie es schon viele unserer Brüder und Schwestern vor uns getan hatten, die nach Europa, Australien oder Nordamerika ausgewandert waren, oder nach Syrien, in den Libanon, den Irak.

Wir bedankten uns bei den beiden Männern für die Information und überlegten, wie wir es meinem Vater beibringen sollten.

„Du musst es machen, du musst ihn davon überzeugen, dass er in Lebensgefahr ist“, sagte meine Mutter. „Auf mich hört er doch nicht.“ Und das war leider Gottes die Wahrheit. Mein Vater hatte schon lange aufgehört, meine Mutter, die immer rasch besorgt und von ängstlicher Natur war, mit ihrem häufigen Gejammer ernst zu nehmen. Irgendwann hatte er sogar begonnen, sich einen Spaß daraus zu machen, die Verbote meiner Mutter vor unseren Augen zu missachten. So steckte er sich zum Beispiel immer dann, wenn sie ihn wieder ermahnte, dass er endlich mit dem Rauchen aufhören solle, erst recht eine neue Zigarette an, zog genüsslich daran und blies mit einem breiten Grinsen die Rauchkringel in die Luft.

Damit keine Missverständnisse aufkommen: Zwischen meinen Eltern gab es eine tiefe Liebe. Ich würde sogar sagen: eine besondere Liebe. In vielen Dingen waren sie ein Herz und eine Seele und verstanden sich ohne Worte, waren sich einig in ihren Zielen und boten uns Kindern ein liebevolles und geborgenes Zuhause. Aber was den Hang meiner Mutter zu übergroßer Ängstlichkeit anging, so weigerte sich mein Vater einfach, sich davon bestimmen zu lassen.

Mir fiel also die schwere Aufgabe zu, meinem Vater die schlechte Nachricht zu überbringen. Ich überlegte, wie ich es am besten anstellen sollte. Dann versammelte ich meine Geschwister um mich herum und erzählte ihnen, was passiert war. Alle weinten, alle hatten Angst um unseren Vater. „Hört zu“, sagte ich dann, „wenn Papa heute Abend nach Hause kommt, macht genau, was ich sage. Wir werden alle vor ihm knien. Ich werde reden. Und ihr werdet sagen: ‚Bitte, bitte, Papa!‘ Mehr müsst ihr nicht sagen.“

Als der Vater vom Feld kam, knieten wir uns also vor ihm hin wie abgesprochen. Ich nahm seine Hand und sagte: „Vater, ich muss dir etwas Wichtiges mitteilen.“ Doch dann versagte mir die Stimme.

Besorgt blickte mein Vater mich an: „Was ist geschehen, mein Kind?“

Es dauerte ein paar Augenblicke, bis ich mich so weit gefangen hatte, dass ich wieder sprechen konnte. Dann erzählte ich ihm, was die Nachbarn gehört hatten und dass sie ihm dringend rieten, nicht mehr ohne Waffe aufs Feld zu gehen.

„Aber stell dir vor, du bist auf dem Feld und von hinten wird auf dich geschossen, was nutzt dir da deine Waffe?“, fragte ich ihn, „und was wird dann aus uns, wenn du nicht mehr bist? Werden uns die Muslime entführen, vergewaltigen und töten? Und was nutzen uns dann unsere Ländereien, die Tiere, der Weinberg, unsere Häuser? Was nutzt uns unsere Habe, wenn sie dich töten und uns entführen? Ist unser Leben nicht wichtiger?“

„Bitte, bitte, Papa!“, schluchzten meine Geschwister im Chor.

Noch am selben Tag begann mein Vater damit, unsere Lämmchen zu verkaufen. Innerhalb einer Woche hatte er das gesamte Vieh zu Bargeld gemacht. Ich erinnere mich noch, wie wir jeden Abend Hunderte von Hühnern einfingen. Das ging nur am Abend, wenn sich die Tiere schon auf die Nachtruhe einstellten und nicht mehr wie am Tage aufgeregt durch die Häuser und über den Hof rannten. Wir verkauften ausschließlich an unsere Nachbarn im Dorf, schließlich musste unsere Flucht geheim bleiben, wir durften kein Aufsehen erregen. Ein Geschäft machten wir nicht mit diesen Notverkäufen, wir bekamen gerade mal ein Viertel des Marktwertes für all unser Vieh. Am Ende blieben nur noch ein Hund, drei Katzen und zwei Esel auf unserem Hof.

Dann packten wir unter Tränen und in Eile unsere Sachen. Wir nahmen nur das Notwendigste mit und ein paar Lebensmittel. Um den Rest würde sich meine Schwester kümmern, die an der Grenze zum Irak lebte und wenige Wochen später unseren Haushalt endgültig auflösen sollte.

Für unsere Flucht mieteten wir einen kleinen Omnibus. Schließlich waren wir zu neunt. Es kam noch der Schwiegervater meiner Schwester mit. Der kannte sich in Istanbul gut aus und wollte uns helfen, dort die Pässe, Papiere und Tickets zu besorgen.

Dann ein letzter Blick auf unser Haus, das gerade erst fertig geworden war. Ein letzter Blick auf die Mor-Dimet-Kirche. Zaz, unser Dorf, meine geliebte Heimat, in der ich unbeschwerte und glückliche Kindheitsjahre verlebt hatte und die mir ins Herz gepflanzt war, wurde immer kleiner, bis es hinter dem Berg nicht mehr zu sehen war. Es war alles so schnell gegangen, dass wir es gar nicht verstanden, nicht denken konnten, keine Tränen hatten.

Als wir nach drei langen Tagen endlich in Istanbul angekommen waren und ich nach der quälenden Fahrt schon lange beschlossen hatte, nie wieder in einen Bus zu steigen, erfuhren wir von Nachbarn in Zaz, dass uns die Plünderer bis in die Stadt Mardin gefolgt waren. Sie hatten irgendwie Wind davon bekommen, dass wir vor ihnen flüchten wollten. Doch sie waren auf der falschen Fährte. Sie hatten geglaubt, wir wollten mit dem Linienbus nach Istanbul, und hatten nicht damit gerechnet, dass wir uns einen eigenen Bus mieten würden. Während sie also mit ihren Waffen an der Bushaltestelle auf uns lauerten, waren wir schon auf dem Weg in eine neue Heimat – in ein Land, in dem man kein Gewehr mehr braucht, um sich und sein Eigentum zu schützen. An das Gewehr hatten wir in der Eile ohnehin wieder nicht gedacht. […]

Ich glaube an die Tat

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