Читать книгу Ich glaube an die Tat - Hatune Dogan - Страница 11

Ich gehe meinen Weg Frühjahr 2004, Flug Delhi – Frankfurt

Оглавление

Seit 1999 bin ich in der Regel die Hälfte des Jahres in Indien. Wieder einmal war ich nach einem solchen Indienaufenthalt auf dem Rückflug nach Deutschland. Die Wochen waren so angefüllt mit Begegnungen und Terminen, dass ich noch gar nicht zur Besinnung gekommen war. Aber nun auf dem Rückflug hatte ich Zeit zu verarbeiten, was ich in den letzten Wochen erlebt hatte. Jetzt drängten sich all die Bilder auf einmal vor mein geistiges Auge und wetteiferten um meine Aufmerksamkeit wie eine Gruppe vernachlässigter Kinder um die der Mutter, die sich nach langer Abwesenheit endlich wieder um sie kümmern kann. Und so schenkte ich jedem etwas Zeit. Da waren die Mädchen in der Schule, die ganz vertieft in ihre Schneiderarbeit waren und mich gar nicht bemerkten. Da war die Familie, die stolz ihr neues, kleines Haus bezog, finanziert von den Spendengeldern eines britischen Ehepaars. Dann der leprakranke Mann, der trotz seiner entstellten Glieder und offensichtlichen Schmerzen ein Lächeln auf den Lippen hat.

Dann stieg das Gesicht von Bobby vor meinem inneren Auge auf. Unwillkürlich musste ich lachen. Mein alter Freund Bobby, der Fabrikbesitzer. Ich war zu ihm gegangen, um ihn um eine Spende zu bitten. Meistens gelingt es mir, in Indien rund 100 000 Euro zu sammeln – etwa die Hälfte dessen, was ich über die Stiftung in der ganzen Welt jährlich für Indien zusammenbekomme. Bobby ist sehr wohlhabend und hat mir bisher immer eine nicht unbeträchtliche Summe für meine Arbeit gegeben. Er schätzt sehr, was ich tue, und sagt mir das auch oft. Dass er mir auch diesmal etwas geben würde, war so sicher wie das Amen in der Kirche. Daher fiel ich ohne Umschweife mit der Tür ins Haus: „Hör zu, Bobby, ich brauche wieder deine Hilfe. Wie viel Geld kannst du mir geben?“

Unser Verhältnis, so dachte ich, verträgt diesen Ton. Wir kennen uns schließlich schon so lange, dass wir nicht mehr um den heißen Brei herumreden müssen. Bobby fand das offensichtlich auch.

„Schwester, ich gebe dir kein Geld!“, antwortete er. Ich war wie vor den Kopf gestoßen. Dass man mir Hilfe abschlug, erlebte ich selten. Bisher hatte ich doch nahezu jeden davon überzeugen können, meine Arbeit zu unterstützen. Allein die Ärzte, die ich regelmäßig abklappere und stets mit dem gleichen Spruch dazu bewege, in meinen Siedlungen kostenlose Sprechstunden zu halten. „Ich komme aus Europa, ich will deinem Volk helfen“, sage ich immer, „doch jetzt brauche ich deine Hilfe.“ Keiner, der meinen Wunsch abschlägt. Und schneller, als die Ärzte überhaupt einen Kuli zücken können, habe ich sie schon in die Liste der medizinischen Sprechstunden des nächsten Monats eingetragen. Ich zwinge sie nicht, aber ich gebe ihnen keine Chance, Nein zu sagen.

Bobby aber hatte mir tatsächlich eine Abfuhr erteilt. Ausgerechnet Bobby! Wie konnte er mir das antun und nicht wenigstens einen kleinen Betrag spenden? Völlig entgeistert starrte ich ihn an. Bobby hielt meinem prüfenden Blick stand. Allerdings nicht lange. Auf einmal verzog sich sein verkniffener Mund zu einem breiten Grinsen und er sagte: „Ich gebe dir wirklich kein Geld! Aber ich gebe 5000 deiner Schüler einen Job in meiner Fabrik!“

Jetzt war ich wieder baff. Bobby erzählte, dass er eine neue Abteilung eröffnet habe und die Arbeiter dafür sollten ausschließlich von meinen Schulen kommen. Sie würden dort schlafen können und neben einem Lohn auch Essen bekommen, sie wären versorgt. Ich hätte Bobby küssen können, so glücklich war ich über sein Angebot.


Es sind Momente wie diese, in denen ich auf meinem Weg bestärkt werde. Die mich erneut davon überzeugen, dass meine Entscheidung, mein Leben ganz dem Dienst an den Armen und der Nachfolge Jesu zu widmen, die einzig Richtige war.

Und wie hatte ich dafür kämpfen müssen! Was hat es mich an Kraft gekostet, meine Bischöfe zu überzeugen, damit ich das ewige Gelübde noch aufschieben kann. Habe ich es erst einmal abgelegt, ist mein Platz nämlich im Kloster. Dann kann ich mich nicht mehr für die Armen und Kranken dieser Welt einsetzen.

Hatte ich meine Bischöfe endlich überzeugt, begann das Gerede in meiner Familie. „Was ist mit Hatune?“, werden meine Verwandten zuweilen gefragt. „Warum ist sie keine normale Nonne hinter Klostermauern, sondern reist in der Welt herum und führt so ein wildes Leben? Will sie nicht wirklich Nonne sein oder was ist los?“ Und meine Verwandten geben diese Fragen, wenn auch in leicht gemilderter Form, an mich weiter. „Hast du denn nicht schon genug für die anderen getan, reicht es nicht langsam?“, fragte mich eines Tages eine meiner Schwestern.

„Ob es reicht?“, fragte ich sie zurück. „Meinst du, es gibt eine Grenze dafür, wie lange man im Namen Jesu den Menschen dienen soll? Für mich gibt es keine Grenze. Solange Gott mir die Kraft gibt und den Weg zeigt, mache ich meine Arbeit wie bisher.“

Aber meine arme Familie hatte es ohnehin nicht leicht mit mir gehabt. Schon meinen Entschluss, Nonne zu werden, hatten viele nicht nachvollziehen können. Als meine Großmutter, die Mutter meiner Mutter, davon erfuhr, zitierte sie mich sofort zu sich: „Hatune, hast du denn keine Brüder?“

„Doch“, sagte ich, „sogar vier.“

„Hast du keinen Vater?“

„Doch. Den besten Vater der Welt.“

„Hast du keinen Onkel?“

„Sogar viele.“

„Hat man dir etwas angetan, bist du geschändet worden?“

„Nein!“

„Bist du behindert?“

„Nein, auch das nicht.“

„Dann“, so schloss sie das eigenartige Verhör, „kann ich nicht verstehen, warum du diesen Weg gehst. Und ich werde dir das auch nicht verzeihen.“

Meine Großmutter hatte die Vorstellung, dass nur Frauen ins Kloster gehen, für die niemand sorgt: weil sie keine Familie mehr haben oder aus irgendwelchen Gründen keinen Mann finden können. Im Kloster ist eine solche bedauernswerte Person abgesichert – und für meine Großmutter ist dies der einzig vorstellbare Grund dafür, Nonne zu werden. „Fromm sein kann man schließlich auch ohne ewiges Gelübde“, sagte sie, „dafür muss man sich nicht hinter Klostermauern verschanzen.“ Da ihre Mutter gegen meine Pläne war, war es meine Mutter auch. „Ich stimme nicht zu, dass du gehst“, hat sie gesagt. Doch eigentlich war mir ihr Standpunkt zu dem Thema ziemlich egal. Mir war nur eine Meinung wichtig: die meines Vaters.

Ich sagte zu ihm: „Papa, du hast zehn Kinder. Davon kannst du doch eins Gott schenken. Gott hat ein Anrecht auf eins deiner zehn Kinder. Gib es ihm!“

Da sagte mein Vater: „Deinen Schwestern habe ich auch nicht in ihre Heiratspläne reingeredet. Das hier ist ähnlich. Du entscheidest selbst über dein Leben. Ich hätte nur gewünscht, dass du bis zum zwanzigsten Lebensjahr mit dieser Entscheidung wartest, damit du auch wirklich weißt, was du tust.“

„Wenn du mich liebst“, sagte ich, „gibst du mir meine Freiheit jetzt. Und ich versuche, dich nicht zu enttäuschen.“

„Du wirst mich nicht enttäuschen“, sagte mein Vater und küsste mich auf die Stirn. Da wusste ich, dass ich meinen Plan verwirklichen würde.

Das syrisch-orthodoxe Kloster St. Ephrem, in das ich mit siebzehn Jahren schließlich eintrat, liegt in der Nähe von Gronau, gleich hinter der holländischen Grenze in Glane bei Losser. Hier fing mein Leben als Ordensschwester an.

Ich glaube an die Tat

Подняться наверх