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07 – Begegnungen

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Seufzend ließ sie sich in die weichen Polster ihres Lesesessels sinken. Als sie zuletzt die Palastbibliothek ihrer Heimat aufgesucht hatte, hatten mehrere Dinge an einem einzelnen Tag ihr Leben für immer auf den Kopf gestellt. Zum einen war da der Kuss von Fionn gewesen – der erste Kuss in ihrem Leben. Zum anderen hatte es sie unversehens in Kierans Reich katapultiert. Ob es heute wieder geschehen würde?

Arianas Gedanken glitten zurück zu ihm. Wie ein roter Faden spannte sich das Band zwischen ihnen. Sie wünschte sich nichts sehnlicher, als mit dem Elfenkönig vereint zu sein. Fort von Fionn und Farnàl. Fort von allen höfischen Verpflichtungen als angehende Thronerbin.

Ein Seufzen huschte über ihre Lippen. Sie ließ ihren Blick gedankenverloren über die Regale und Buchrücken wandern. Einem Impuls folgend erhob sie sich und trat ans Regal. Das Rascheln ihrer Röcke begleitete sie. Der hölzerne Boden unter ihren Schuhen knarrte, als sie ihr Gewicht verlagerte, den Arm emporhob und nach dem Einband des Buches griff.

Sie betrachtete es und ließ ihre Finger liebkosend über das rostrote Leder gleiten. Es war eine Zärtlichkeit, der Versuch eine tiefere Verbindung herzustellen, wo keine mehr war. Ein dicker Kloß klebte in ihrer Kehle und ließ sie hart schlucken. Ariana blinzelte die aufsteigenden Tränen weg, doch ihre Augen füllten sich sofort wieder mit der Flut ihrer Gefühle. Wie konnte sie ihrem Schicksal an Fionns Seite entrinnen? Die Tatsache, dass er sich Kinder aus ihrer Verbindung erhoffte, war ihr ein Graus.

Dabei ging es nicht so sehr um den Gedanken, selbst einmal Kinder zu haben, sondern vielmehr darum, Fionn in einer Vaterrolle an ihrer Seite zu betrachten. Jedes Mal, wenn sie versuchte, sich dieses Bild vor Augen zu führen, klappte es nicht. Sie konnte es nicht. Ihr Verstand verwischte immerzu seine Gestalt und formte die von Kieran. Es erschien ihr wie verhext. Zeitweise tadelte sie sich für ihre Empfindungen. Wie konnte sie noch immer dem Elfenkönig hinterhertrauern, wo sie doch seit jeher zu Fionns Gemahlin erzogen worden war?

Sie schüttelte den Kopf und packte das Buch fester. Entschlossen kehrte sie zu ihrem Sessel zurück. Dort setzte sie sich hin und schlug das Buch auf. Sie las die ersten Zeilen, aber es war nicht dasselbe.

Nichts geschah.

Das wäre auch zu leicht, flüsterte eine fiese Stimme in ihrem Kopf. Warum sollte das Schicksal sie zurück zu Kieran treiben? Es ergab keinen Sinn. Dennoch weigerte sie sich, daran zu glauben, was Fionn und ihr eigener Vater ihr weismachen wollten: Dass sie sich täuschte und diese Welt niemals verlassen hatte. Dass sie verwirrt und nicht ganz richtig im Kopf war.

Dabei wusste sie sehr wohl, was sie gesehen, gehört und erlebt hatte. Sie wusste es. Das war kein Hirngespinst. Unmöglich.

Sie erinnerte sich an das mulmige Gefühl, als der Schwindel sie erfasst hatte. An den Sturz durch den Schleier in Kierans Welt. Sie erinnerte sich, wie der Hüter den roten Faden in den Strang zurückgeflochten hatte. An das Leuchten, das Strahlen – und an die bittere Verzweiflung, die sie empfunden hatte, nachdem es sie in ihre Heimat zurückversetzt hatte. Hieß das, das Bündel der Bindfäden war wieder komplett und der Schleier für sie undurchdringlich?

Hoffnung und Sehnsucht hatten sie hierhergetrieben. Sie hatte gehofft, es würde sie zu Kieran zurückbringen, wenn sie dieselben Umstände erzeugte wie beim ersten Mal. Doch sie hatte sich geirrt. Jede ihrer Hoffnungen hatte sich zerschlagen.

Mit einem Ruck stand sie auf und räumte das Buch mit einem wütenden Stoß zurück ins Regal.

Die Enttäuschung, dass sich ihr Wunsch nicht erfüllte, rollte über sie hinweg wie eine Flutwelle.

Sie verließ die Bibliothek, um sich auf den Weg zu machen. Nachdem sie in Tarnàl angekommen war, hatte sie ein kurzes Gespräch mit ihrem Vater führen können. Er zeigte sich erstaunt über ihren unerwarteten Besuch, doch es fehlte ihm die Zeit, um sich seiner Tochter zu widmen. »Dringende Angelegenheiten«, hatte er es genannt.

Die Bibliothekstür klickte hinter ihr ins Schloss. Ariana blinzelte gegen die Sonnenstrahlen an, die sich hinter zwei dicken Wolken hervortrauten. Sie wusste, sie sollte zurück nach Farnàl reiten. Aber vorher wollte sie den Markt aufsuchen. Sie musste mit den Leuten über die Minen sprechen. Es war ihr ein Bedürfnis, die Lage in den Kristallminen zu durchschauen. Sie hatte nicht vor, tatenlos neben ihrem Mann ihr Dasein zu fristen. Die Menschen vertrauten ihr als Königstochter die Zukunft an. Das durfte sie nicht ignorieren.

Die Stadtbewohner begrüßten sie mit erfreuten Gesichtern. Einige schenkten ihr ein paar Blumen, die sie dankend entgegennahm. Es dauerte nicht lange und ihre Ankunft in der Stadt verbreitete sich unter den Einwohnern wie ein Lauffeuer.

Ariana stieg kurz hinter der Ortsgrenze von ihrem Pferd und richtete ihren Fokus auf einen Straßenhändler.

»Verzeiht«, sprach sie den Mann hinter der Auslage an. Er war hager und stand in der Gemüsebude wie eine reglose Statue. Bei ihrem Anblick erhellten sich jedoch die schmalen Augen.

»Prinzessin«, grüßte er sie mit einem schwachen Zittern in der Stimme. Er versuchte sich an einer Verbeugung hinter dem Verkaufsstand, was aber aufgrund der engen Räumlichkeit praktisch unmöglich war.

»Bitte, das müsst Ihr nicht!«, bat sie ihn. Es war ihr unangenehm, wenn die Leute sie mit solch übertriebenen Gebaren derart emporhoben. »Sagt«, begann sie, »was könnt Ihr mir über die Kristallminen berichten?«

Erstaunt sah er sie an. »Die Minen?«

Sie nickte und beäugte derweil die Früchte seiner Auslage. »Ich hörte Gerüchte. Vielleicht wisst Ihr Näheres?«

Der Mann zögerte und sein Blick huschte kurz über sie hinweg. Offenbar war er unsicher, was er ihr antworten sollte.

Ariana griff nach einem Apfel. »Prinz Fionn wünscht, die Ansichten der Bürger zu erfahren, und hat mich geschickt. Ihr vertraut mir doch?« Sie sah dem Verkäufer direkt in die Augen, woraufhin er rasch seinen Blick auf den Apfel zwischen ihren Fingern senkte.

»Natürlich, sehr wohl, werte Prinzessin«, erklärte er hastig und neigte das Haupt respektvoll. »Es heißt, die Kallràner wollen die Minen stürmen, wenn der König nicht einen Teil seiner Machtstellung abgibt. Sie sind ziemlich sauer. Dem Tratsch zufolge wachsen die Unruhen unter ihnen. Sie lehnen sich auf, versteht Ihr.«

Ariana nickte, als erzähle er ihr nichts Neues. »Es ist ein Jammer, dass die Völker derart entzwei gespalten sind. Und alles wegen der Kristalle. Wirklich traurig.«

Der Händler räusperte sich. »Euer Vater findet eine gerechte Lösung, davon sind wir hier überzeugt. Erst heute früh erfuhr ich, dass er sich mit Vertretern der Kallrànschen Regierung treffen wollte.«

»Tatsächlich?«

Er nickte. »So erzählt man es sich.«

Das waren also die »Dringenden Angelegenheiten« von denen ihr Vater gesprochen hatte. Die Lage um die Minen musste schlimmer stehen, als sie vermutet hatte.

»Mein Vater hält den Anspruch an einen Großteil der abgebauten Kristalle, ist es nicht so?«, meinte sie beiläufig und fischte in ihrer Tasche, um die Münzen für den Apfel hervorzuholen. In der Zwischenzeit hüstelte der Verkäufer vernehmlich, was sie aufblicken ließ.

»Bitte, Prinzessin«, murmelte er mit einem schockierten Blick auf ihre Tasche. »Bitte, behaltet die Münzen. Ich schenke Euch das Obst.«

Sie lächelte und hielt ihm das Geld hin. »Es ist mein Dank für den Apfel und die Informationen.«

Zögernd nahm er das Geld entgegen und räusperte sich. »Euer Vater besitzt mehr als die Hälfte der Kristallausbeute. Den Rest beanspruchen der König von Farnàl und sein Thronerbe. Für die Kallràner bleibt demnach nicht viel, heißt es.« Er schnaubte. »Sie verweigern sich den Fakten, wenn Ihr meine Meinung hören wollt.«

»Was meint Ihr damit?«, fragte Ariana.

»Na, die Tatsache, dass die Minen zu einem beträchtlichen Teil auf den Gebieten von Farnàl und Tarnàl liegen. Für die Kallràner ist das mitsamt der Kristallverteilung ungerecht. Sie wollen das nicht. Dabei entspricht die Vergabe lediglich dem Minenanteil auf ihrem Herrschaftsgebiet. So unfair ist das Ganze also gar nicht, wenn Ihr mich fragt.«

Ariana nickte. Sie konnte ihren Unmut schwer nachvollziehen. Ihr erschien die Verteilung der einzigen wirklichen Wertgüter ebenso gerecht, wenn es stimmte, was der Verkäufer ihr erzählte. Gleichzeitig war klar, dass die Macht nun einmal bei demjenigen lag, der den größten Anteil besaß. Es war eine Frage von Mehrheiten. Sorge bereitete ihr, dass die Kallràner offenbar den Aufstand planten. Was wollte ihr Vater dagegen unternehmen? Wie würde dieses Treffen heute ausgehen?

Sie wusste nichts über die Zustände innerhalb der Minen. Wie konnte sie sich als Prinzessin ein Urteil erlauben? In ihrer Rolle stand es ihr nicht zu, politische Diskussionen zu führen. Ein Gespräch mit ihrem Vater kam ihr in den Sinn. Es lag bereits einige Wochen zurück und hatte Fionns Strafe zum Thema gehabt. Ihr Vater meinte, sie müsse lernen, Urteile zu fällen, wenn sie eines Tages Thronerbin sein wollte.

Abrupt erstarrte sie. Ihr kam ein Gedanke. Noch während sie darüber nachdachte, stiegen ihre Augenbrauen in die Höhe. Die Idee war so fundamental, dass sie einen überaus langen Moment innehielt. Sie kostete den Augenblick des Geistesblitzes aus. Zugleich fragte sie sich, wie Fionn oder sein Vater ihr Vorhaben auffassen würden. Keine Frau aus dem Königshaus hatte es zuvor je gewagt. Bei dem Gedanken gefror ihr das Lächeln im Gesicht. Fionn wäre sicher nicht begeistert davon. Sie seufzte. Dann blinzelte sie und schenkte dem Verkäufer ein letztes Lächeln.

»Ich danke Euch«, sagte sie und verabschiedete sich von ihm.

Sie schlenderte danach erst durch die Straßen der Stadt und führte das Pferd am Zügel hinter sich. Dabei betrachtete sie mit stiller Freude die Händler mit ihrem Gemüse, Gebäck und all den feinen Stoffen. Bald schon musste sie aber in den Sattel steigen, weil sich die Menschen zunehmend um sie scharten.

Die Bewohner blickten sie freudestrahlend an. Kinder klammerten sich mit weit geöffneten Augen an die Schürzen ihrer Mütter. Die euphorische Stimmung in den Straßen war ansteckend. Sie füllte die Luft und zauberte ein Lächeln in die müden Gesichter.

Ein Junge rannte durch die Gassen und rief lautstark »Sie kommt!«, sodass es alle hören mussten. Vereinzelt blieben die Leute stehen, um dem Kind kopfschüttelnd nachzusehen.

Ein Mann, der einen Hütehund an der Leine hielt, hob die andere Hand zum Mund und bildete einen Trichter. »Wer denn?«, rief er dem Jungen hinterher. »Wer kommt?«

»Die Prinzessin«, schrie das Kind zurück, warf einen Blick über die Schulter, grinste und deutete in Arianas Richtung. »Seht doch!« Auf einem wunderschönen Pferd kommt sie.«

Die Menge lachte. Ein Teil der Leute nahm seinen Betrieb wieder auf. Der andere, weitaus größere Anteil sammelte sich um Ariana. Jeder wollte sie berühren, ihre Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, sich eine Winzigkeit lang in ihrem Ansehen sonnen.

Ihr Blick wanderte über die Menge. Ein Mann am äußeren Rand zog ihre Aufmerksamkeit auf sich. Er tat nichts, stand nur so da und lehnte an der Ecke zu einem Haus. Dennoch fiel es ihr schwer, wegzusehen. In ihrem Magen flog ein Schwarm Schmetterlinge auf. Ihr Herz klopfte schneller bei seinem Anblick und sämtliche Muskeln ihres Körpers spannten sich an.

Die Hoffnung lauerte unter der Oberfläche ihrer vagen Gedanken. Die Emotionen kochten in ihr hoch.

Hastig sah sie fort. Doch es war schon zu spät. Ihre unlogischen Gefühle bemächtigten sich ihrer Gedanken, lenkten ihre Blicke immer wieder zu ihm hin. Er trug einfache Kleidung, die ihm nicht richtig passte. Seine blonden Haare reichten ihm vorne bis zum Kinn, während sie hinten gekürzt waren. Er hatte die Augenbrauen grimmig zusammengezogen, sodass sich eine ernste Runzel zwischen ihnen abzeichnete. Anders als die Bürger in diesem Land waren es seine Augen, die sie im Bann hielten.

Sie waren nicht blau, sondern dunkel, fast schwarz.

Geistesabwesend tätschelte sie den Hals des Pferdes, das ihre Nervosität spürte und unter ihr tänzelte. Wer war dieser Mann?

In dem Moment stieß er sich von der Hauswand ab und kam auf sie zu. Ihr stockte der Atem, als sie seine Bewegungen verfolgte, die ihr doch so vertraut erschienen. Er schob sich an Personen vorbei, beachtete ihr Murren und Schimpfen gar nicht. Stattdessen starrte er Ariana unverwandt an.

Er kam dicht neben ihrem Pferd zum Stehen. Aus der Nähe betrachtet erschien ihr das Gefühl der Vertrautheit noch auffälliger. Da war dieser Zug um die vollen Lippen, bei denen die untere etwas fülliger war als die obere. Dieser Blick aus seinen Augen. Die darin verborgene Ernsthaftigkeit zusammen mit einem Ausdruck, der ihn unweigerlich von den einfachen Bürgern unterschied.

Er musterte sie ebenso wie sie ihn. Sein Blick glitt an ihrem purpurnen Kleid hoch, runter und wieder zurück zu ihrem Gesicht. In seinen Augen ruhte eine tiefe Erkenntnis, die sie erschütterte.

Sie war unfähig, ein Wort hervorzubringen, etwas zu ihm zu sagen und diesen Moment aufzuklären. Seine Augen waren schwarz wie die dunkelste Nacht, die aufsteigende Finsternis in Kierans Reich. Zitternd sog sie den Atem in ihre Lungen. Ihre Finger krampften sich um die Zügel zusammen. Das Pferd schnaubte und schüttelte den Kopf.

»He«, meinte plötzlich eine Stimme neben dem Mann. »Lass der Prinzessin Platz!« Schon schubste er ihn zur Seite, woraufhin die Menge ihn verschluckte.

War er es?

Es war unmöglich, er konnte es nicht sein – oder? Sie runzelte verwirrt die Stirn. Das Blut rauschte in ihren Ohren.

»Ariana«, rief der Außenseiter.

Ihr Herzschlag setzte aus, dann wieder ein. Der Puls galoppierte in ihren Adern. Sie starrte ihn an. Ihr Mundwinkel zuckte.

»Wir kennen uns«, fuhr er fort. In die Menge mischte sich Gemurmel. Der Tratsch keimte.

»Was?«, krächzte sie. Dabei zitterte ihre Stimme und sie verfluchte sich dafür. Denn es heizte die Gerüchteküche weiter an. Gänsehaut breitete sich auf ihrer Haut aus.

»Wir kennen uns«, wiederholte er mit mehr Bestimmtheit in der Stimme, die so eindeutig war, so tief und melodisch, dass sie fürchten musste, jetzt und in dieser Sekunde in Ohnmacht zu fallen. Dabei war ihr Aufenthalt in Mérilan in eben dieser Sekunde ihres Lebens goldrichtig. Vielleicht war dieser Augenblick sogar das einzig Richtige in ihrer gesamten Existenz. Dennoch schaffte sie es, ihren Blick von seinem Gesicht zu lösen und umherschweifen zu lassen. Die Menschen flüsterten aufgebracht miteinander.

»Vielleicht täusche ich mich«, ergänzte der Mann. Hatte er ihr Problem erkannt? Wusste er, wie schädlich ein solcher Skandal sein konnte?

Die Leute um ihn her brachen in spöttisches Gelächter aus. Jemand klopfte ihm auf die Schulter. Erleichterung stieg in Ariana auf. Sie lenkte ihr Pferd weiter und fort von der Menge. Die Menschenmenge löste sich bereitwillig auf und ließ sie ziehen. In ihren Gesichtern las sie ein seliges Lächeln. Ariana schaute nach einem kurzen Moment noch einmal zurück.

Sie verfolgte stirnrunzelnd, wie der Fremde von zwei anderen Männern angesprochen wurde. Sie deuteten in die Ferne und erklärten ihm etwas. Er nickte daraufhin und verschwand in einer Seitengasse.

Ariana ritt zum Palast zurück, wo sie eisiges Schweigen erwartete.

Der Schatten Deiner Seele

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