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05 – Hitze und Minen
ОглавлениеDer Vorarbeiter hatte es nicht eilig, dem Befehl des Königs zu folgen. Obwohl Kieran sich in Geduld übte, hatten er und Garlàn nach zwei Tagen einen Boten hingeschickt. Am dritten Tag noch einen. Ebenso am nachfolgenden Tag. Doch jede ihrer Nachfragen wurde unwillig abgeschmettert. Womöglich wusste der König nicht einmal, dass der Vorarbeiter seine Befehle eher lustlos umsetzte. Keiner schien Interesse daran zu haben, einem Fremden wie Kieran die Tore zu den Kristallen zu öffnen.
Er fragte sich, wo das Problem lag. Er wusste natürlich, er passte nicht zu diesem Ort. Die blassen Menschen starrten ihn an wie ein Insekt. Aber die Häufigkeit, mit der sie ihn angafften, nahm Tag für Tag ab. Wenn er frühmorgens aufbrach, um für Garlàn die Kohlen zu holen und um sich in seiner verlorenen Erinnerung überhaupt nützlich vorzukommen, begegnete er stets denselben Leuten auf der Straße. Bisweilen erkannte er ihre Gesichter und auch sie gewöhnten sich an ihn. Einzelne Menschen legten ihre Scheu und ihr Misstrauen schnell ab. Andere dagegen blieben argwöhnisch. Sie glotzten ihn frei heraus an, manche zeigten mit dem Finger auf ihn und einige warfen sogar Gemüse nach ihm, wenn er an ihnen vorüberging.
Er störte sich nicht daran – oder zumindest bemühte er sich darum. Obwohl er sich mit jedem weiteren Tag fragte, ob die Erinnerung je wieder zurückkehrte.
In der Zwischenzeit unterstützte er Garlàn in der Schmiede, die keine zwei Häuserblocks von seinem Zuhause entfernt war. Dort rann ihnen der Schweiß in Strömen über die Körper. Kieran wischte sich beiläufig über das Gesicht. Die glühenden Kohlen im Glutofen strahlten eine unerträgliche Hitze aus.
Vorsichtig zog er die Klinge mit schützenden Handschuhen heraus, legte sie vor sich auf den Block und ergriff den Hammer. Mehrmals ließ er ihn herabsausen, ehe er das Metallstück in das vorgesehene Kühlbecken tauchte. Es zischte, dichter Dampf stieg auf, und als er es wieder herauszog, inspizierte er sein heutiges Übungsstück, einen Dolch, gründlich.
»Sieht schon nicht übel aus«, meinte Garlàn, der interessiert neben ihn trat. »Du hast ein Händchen für die Arbeit.«
Kieran zog die dicken Handschuhe aus, stemmte eine Hand in die Seite und grinste. »Meinst du, ja?«
»Na, schau es dir doch an.« Garlàn nahm den Dolch und deutete auf die Klinge. »Hier. Siehst du diese Welle? Darauf musst du achten. Außerdem ist der Schneid an der Stelle zu dick. Da musst du ihn schärfer ausarbeiten.«
Der Schmied steckte den Dolch ein weiteres Mal in den Ofen.
»Schläfst du mittlerweile besser?«, unterbrach Garlàn seine Gedanken.
Kieran schüttelte den Kopf. »Nein.«
Letzte Nacht war er wieder schweißgebadet aufgewacht. Die Bilder, die ihm dabei durch den Schädel schwirrten, verwirrten ihn.
»Willst du mir davon erzählen?«
»Ich erinnere mich kaum an was«, entgegnete er. »Da war alles in Dunkelheit gehüllt, mehr nicht. Ich war sehr besorgt und eine Sache weiß ich noch genau: ein roter Faden.«
Garlàn hob eine Augenbraue. »Was meinst du, was das bedeutet?«
»Keine Ahnung, ich weiß nichts darüber.« Er zuckte nachlässig mit der Schulter.
»Meine Nichte hatte auch mal so eine Phase«, meinte Garlàn.
»Hat sie ebenfalls ihr Gedächtnis verloren?«
»Das nicht, aber sie träumte nächtelang schlecht – genau wie du.«
»Und was war bei ihr die Ursache?«
»Irgendein Trottel hatte sie und ihre Mutter eines Tages überfallen und ausgeraubt. Ein Glück, dass die beiden weitgehend unbeschadet davonkamen. Der Kerl war nur an ihren Schmuck interessiert.« Garlàn schnalzte mit der Zunge und richtete den Blick dankend nach oben. »Aber die Träume, die sie danach hatte«, er senkte vertraulich die Stimme, »die führten sie später zum Täter zurück. Verrückt, was? Der Idiot wurde daraufhin verhaftet und bekam seine verdiente Strafe. Jetzt raubt er niemanden mehr aus.« Garlàn grinste.
»Was war die Strafe?«
»Ihm wurden beide Hände abgeschlagen.«
Kieran sagte nichts.
Natürlich konnten ihm die Träume Hinweise auf seine Identität und sein bisheriges Leben liefern. Aber trotz der Geschichte des Schmieds blieb immer noch unklar, was ein roter Faden damit zu tun hatte.
»Ich mach mal Pause«, meinte er, griff sich den Wasserkrug sowie einen Becher und ging hinaus.
Gleißendes Sonnenlicht blendete ihn. Er trat einen Schritt zur Seite und zog die Tür hinter sich zu. Dann wandte er sich der Gasse zu. Dabei störte ihn das grelle Licht. Mehr noch: Sein Herzschlag beschleunigte sich, je länger er gegen die Sonnenstrahlen anblinzelte. Mühsam schluckte er. Unbändiger Durst stieg in ihm hoch. Seine Kehle war mit einem Mal staubtrocken. Sein eigener Körpergeruch stieg ihm vage in die Nase. Er nahm kaum die kühlende Brise wahr, die durch die Gassen strich und seine erhitzte Haut kühlte. Stattdessen kam ihm ein leises, gequältes Stöhnen über die trockenen Lippen. Seine Hände zitterten und in den Ohren machte sich ein Rauschen breit. Er bekam kaum mehr Luft.
Kieran presste die Lider benommen aufeinander und stolperte gegen die Hausmauer. Aus jeder Pore seiner Haut drängte neuer, frischer Schweiß. Das Hemd klebte ihm nasskalt auf Brust und Rücken. Angst verknotete ihm die Eingeweide, während sein Atem nur noch abgehakt über die Lippen huschte. Als er die Augen wieder öffnete, erwartete er fast, nichts zu sehen. Nichts, außer die verdorrte, staubige Sandwüste.
Nichts, außer Sandkorn um Sandkorn.
Stattdessen bemerkte er die Häuserreihe vor sich, hörte den Lärm der Hauptstraße, die Menschen, die miteinander schwatzten, lachten und riefen.
Sein Herzschlag kam zur Ruhe. Ihm fröstelte. Geistesabwesend leckte er sich über die Lippen. Sie waren trocken und aufgesprungen, aber daran war die stundenlange Arbeit in der Schmiede schuld. Er war in keiner Wüste.
Er war hier bei Garlàn in Mérilan, einer Stadt in Tarnàl.
Tarnàl. Alles verkrampfte sich in seinem Inneren. Krug und Becher rutschten ihm fast aus den zitternden Händen. Sein Magen revoltierte. Er würgte. Schnell lehnte er sich an die Wand und glitt daran herunter, bis er kraftlos auf dem Pflaster saß. Er stellte die Gefäße neben sich und barg das Gesicht zwischen seinen Fingern. Tarnàl. Ein Gesicht blitzte flüchtig vor seinem Auge auf. Es war kaum zu erkennen, blieb undeutlich, unkennbar. Die ungelösten Fragen in seinem Geist trieben ihn in den Irrsinn. Tränen quollen aus seinen Augenwinkeln und benetzten seine Finger. Er schluckte hart, wischte sich nachlässig mit den Händen durch das feuchte Gesicht. Hektisch griff er nach dem Krug und goss Wasser in den Becher. Dabei verschüttete er einen beachtlichen Teil. Er achtete nicht darauf. In tiefen Schlucken rann die Flüssigkeit seine Kehle hinab. Als der Becher leer war, schenkte er sich noch zweimal nach. Denn sein Hals war trockenes Land, das sich nach Wasser sehnte. In seiner Hast verschluckte sich und hustete derart, dass ihm die Augen tränten. Prompt zog der Schmied die Tür ein Stückchen auf und streckte den Kopf hinaus. »Alles klar bei dir?«, fragte er. Seine blauen Augen musterten ihn besorgt. »Wüste«, keuchte Kieran, während er auf die Beine kam. »Ist hier eine Wüste?« Garlàn starrte ihn erst verständnislos an. Dann nickte er langsam. »Das Wüstenvolk ist aber ziemlich weit draußen. Hin und wieder hört man Gerüchte von da.« »Worüber?« »Seltsame Sitten, eigenartige Menschen und kuriose Ereignisse. Windstürme, die einen Haufen Sand mit sich tragen – und manchmal auch noch anderes.« »Was meinst du damit?« Garlàn strich sich über die Arme. »Ich weiß nicht, Menschen, Dinge, Tiere ... alles Mögliche. Es sind nur Gerüchte.« Ein dumpfes Gefühl umhüllte Kierans Herz. »Sag bloß, dir ist was eingefallen«, meinte Garlàn. »Was hat die Wüste mit dir zu tun? Kommst du von da? Weißt du, wer du bist?« Kieran runzelte die Stirn und strich sich durch das Haar. »Irgendetwas ist in der Wüste passiert. Ich weiß nur nicht, was.« »Vielleicht haben dich die Wüstenstürme hierher geweht.« »Ohne jede Erinnerung?« Garlàn zog die Schultern ratlos hoch. »Wer weiß?«
***
Am nächsten Morgen beschloss Kieran, dass es an der Zeit war, etwas zu unternehmen. Er konnte vielleicht nichts für seine Hautfarbe oder das Schwarz der Haare. Letztere konnte er aber zumindest der hiesigen Norm anpassen, um weniger aufzufallen.
Daher griff er bereits vor dem Frühstück nach einem Messer und schnitt die langen Strähnen ab, bis ihm die Haare bloß noch bis auf die Schultern fielen. Garlàn sagte zunächst nichts, als er den Raum betrat und die Masse auf dem Boden liegen sah. Schweigend zog er eine Schublade auf und holte eine Schere hervor.
»Damit sollte es besser gehen, meinst du nicht?«
Dankbar nahm Kieran sie entgegen. »Ich wollte fertig sein, wenn du aufstehst.«
»Ach, wieso denn. So sehe ich wenigstens, was du mit deinem Aussehen treibst. Womöglich hätte ich dich sonst für einen Rumtreiber gehalten, der in meiner Küche sitzt und mir das Brot wegfrisst.«
Kieran grinste. »Ist es so schlimm?«
Ein prüfender Blick traf ihn. »Ach, na ja. Es ist ungewohnt, das sag ich. Mehr nicht. Du fällst damit sicherlich weniger auf als vorher, das ist klar. Aber ausreichen wird der neue Haarschnitt wohl kaum.«
»Gegen das Schwarz kann ich nichts tun.«
»Lass mich das machen, ich hab da was. Das sollte helfen.«
Skeptisch beobachtete er den Schmied. »Tatsächlich? Und was? Wie?«
»Vorher musst du mir eine Frage beantworten.«
»Nur zu.«
»Warum zum Himmel schneidest du dein Haar ab? Warum willst du unbedingt so blass aussehen wie unsereiner?«
Kieran senkte den Blick auf die Schere in seiner Hand. Das Licht brach sich auf der Klinge und ließ sie glänzen. Einen flüchtigen Moment lang sah er sein Spiegelbild darauf reflektiert.
»Ich schätze, es gefällt mir hier einfach besser.«
»Besser als wo?«
»Besser als da, wo ich herkomme.«
»Hm.«
Daraufhin sagte keiner von ihnen noch ein Wort. Kieran schnitt sich weitere Strähnen ab, bis sein Haar im Nacken raspelkurz war. Am Rest seines Kopfes ließ er sie länger stehen, sodass sie ihm vorne bis zum Kinn reichten. In der Zwischenzeit ging Garlàn in das andere Zimmer. Als er zurückkehrte, hielt er eine breite Schüssel in den Händen.
Er stellte sie auf den Tisch, kippte Pulver aus einem Glas hinein und fügte Wasser hinzu, ehe er mit einem Holzlöffel darin herumrührte, bis sich beides zu einer zähen, cremefarbenen Masse vermengte.
»Was ist das?«, fragte Kieran.
»Bleichmittel.«
»Haben denn nicht alle hier helle Haare?«
Garlàn prustete. »Woran du gleich denkst, Fremdling. Das Bleichmittel ist eigentlich für die Kleidung, klar? Vielleicht bleicht es deine Haarpracht ja ebenso.« Er warf Kieran einen Blick zu. »Oder das Ganze ätzt dir die Haare vom Kopf. Ich weiß es nicht, hab die Färberei ja nicht nötig. Willst du es trotzdem versuchen?«
Nach einem kurzen zweifelnden Moment nickte er. Das war seine Chance auf einen Neuanfang in dieser Gegend. Er wollte in den Minen keinen Verdacht erregen, weil er anders war als alle anderen. Er wollte unauffällig sein Gedächtnis wiederfinden.
Garlàn nahm den Holzlöffel zur Hand. »Bereit?«, fragte er und hob einen Löffel voll mit der Masse empor. Kieran nickte.
»Und?«, fragte der Schmied nach einer Weile, in der er die Bleiche auf Kierans Kopf verteilt hatte. »Brennt es?«
»Sind meine Haare noch da?«
Der Garlàn kicherte.
Die Kopfhaut brannte wie Feuer. Das wollte Kieran ungern zugeben, da er das intensive Gefühl verspürte, es gäbe für ihn keinen anderen Weg als diesen hier. Lag es an der Chance des Neubeginns? Er hatte den Eindruck, unbedingt etwas tun zu müssen. Eine Sache erledigen.
In dem Moment hörte er Garlàn scharf Luft holen.
»Was? Was ist los?«, fragte er.
Der Schmied hatte aufgehört, das Gemisch auf den Haaren zu verteilen. Statt einer Antwort räusperte er sich.
»Wahrhaftig«, meinte er. »Jetzt bist du wirklich ein Fremder.« Seine Stimme klang ungläubig belegt. Kieran runzelte die Stirn.
»Garlàn, was ist los?«
»Schau mal in den Spiegel.«
Er wandte sich zu Garlàn um. Dessen Blick spiegelte seine innere Anspannung. Ohne Worte ging er in das andere Zimmer und kam mit einer handflächengroßen Spiegelscherbe zurück. Die hielt er Kieran vor das Gesicht.
Er wusste nicht, was er erwartet hatte oder ob er überhaupt irgendeine Erwartung gehegt hatte. Er blickte ohne jedes Zögern seinem veränderten Spiegelbild entgegen. Dann fuhr er sich mit den Fingerspitzen an die Seiten des Kopfes. Die spitzen Ränder der Ohrmuscheln ließen seine Augen weit werden. »Was ist denn das?«, murmelte er erschrocken.
»Du hast ziemlich spitze Lauscher«, bemerkte der Schmied überflüssigerweise. Sie starrten einander an.
»Aber ... warum?«, fragte Kieran, als wüsste sein Gastgeber die Antwort darauf.
»Es ist, wie es ist, aber pass lieber auf, dass deine Ohren keiner in den Minen zu Gesicht bekommt. Da gab es schon allerhand seltsame Unfälle. Spitze Lauscher spielten bisher keine Rolle dabei, andere nichtigere Dinge jedoch schon«, sagte Garlàn und holte einen Topf mit Wasser.
»Komm, wir müssen den Kram auswaschen. Ich warne dich: Vermutlich fallen dir sämtliche Haare aus.« Er betrachtete argwöhnisch seine eigenen geröteten Hände.
Kieran erhob sich. Draußen traf ihn das eiskalte Wasser unvorbereitet. Er schüttelte sich wie ein nasser Hund, prustete und keuchte. Das Wasser und die Reste des Bleichmittels liefen ihn unter das Hemd und färbten seinen Hosenbund dunkel. Er strich sich fröstelnd die Haare aus dem Gesicht und sah auf.
Garlàn starrte ihn an wie ein Weltwunder.
»Was? Ist es so schlimm?«, scherzte Kieran, aber der Schmied holte bloß die Spiegelscherbe hervor. Staunend fuhr Kieran sich durch das kurze Haar.
Das Schwarz war einem gelblichen Blond gewichen. Seine Haare waren dermaßen blass, damit hatte er nicht gerechnet.
»Na, jetzt fällst du definitiv nicht mehr auf«, meinte Garlàn. Gleichzeitig deutete er ein weiteres Mal auf Kierans Ohren. »Damit wäre ich mir aber nicht so sicher.«
Kieran strich sich über das gekürzte Haar, bis die Strähnen halbwegs seine Ohrspitzen verhüllten.
»Dagegen kann ich kaum was machen. Es muss so gehen.«