Читать книгу Der Schatten Deiner Seele - Hazel McNellis - Страница 6
03 – Wissen
ОглавлениеDie Dunkelheit wich zurück, um dem neuen Tag Platz zu schaffen. Vor dem Fenster prasselten die Regentropfen auf das Gestein des Palastes. Ariana lauschte einem Augenblick dem steten Klopfen und Rauschen. Am Horizont lockerte die Wolkendecke bereits auf. Sobald die Sonne sich zeigte, würden sie und Fionn umziehen. Der Gedanke bereitete ihr Bauchschmerzen. Sie waren seit zwei Wochen verheiratet, aber all die Zeit mit dem breiten Ring am Finger änderte ihre Gefühle nicht.
Sie liebte ihren Ehemann nicht, würde es nie.
Er war ihr bester Freund.
Ihr Vertrauter.
Immer wieder erklärte er ihr seine Liebe und dass er als Mann mehr von ihr begehrte als ihre Freundschaft. Doch all seine Beteuerungen, all sein Bitten und Fluchen änderten nichts. Sie war trotz allem nicht fähig, ihr Herz zu öffnen, um ihn hineinzulassen. Seit ihrer Rückkehr aus dem Reich der Elfen war es ihr unmöglich, einen anderen als Kieran Maktùr zu lieben.
Jede Nacht erinnerte sie sich an den Elfenkönig. Er war ihre persönliche Seelenkrankheit. Sie vermisste ihn so sehr. Immer wenn sie Fionn nicht länger ausweichen konnte, war es der Dunkelelf, der ihre Gedanken einnahm. Er half ihr durch all die finsteren Stunden der Nacht, machte ihr den ehelichen Beischlaf eine Winzigkeit aushaltbarer. Dabei war alles grundlegend falsch. Sie kam sich vor wie eine Betrügerin.
Die Nächte neben oder unter dem Prinzen erschienen ihr wie ein doppelter Betrug. Obwohl sie ihn anflehte, heulte, fluchte und bettelte, konnte sie ihn nie abhalten. Und in der letzten Nacht war schließlich das Unaussprechliche geschehen:
Sie hatte seinen Namen gesagt. Es war lediglich ein hilfesuchendes Flüstern gewesen. Doch Fionn hatte es gehört. Vermutlich würde sie nie vergessen, wie er sie danach angesehen hatte. Er sprach seither kein Wort mehr zu ihr. Stattdessen hatte er sich komplett von ihr zurückgezogen. Er hatte sie mit den erniedrigenden Gedanken, der Verwirrung und der Last der Schuld, die sie trotz allem empfand, alleingelassen. Es sollte sie erleichtern, dass er ihr fernblieb. Immerhin verschonte sie dieser Umstand von seinen körperlichen Zuwendungen. Doch die Erleichterung kratzte nur kurz an der Oberfläche ihrer Gefühle. Vielmehr lag ihr Herz abermals in Scherben. Sie hatte nicht nur die Liebe ihres Lebens in einer anderen Welt zurücklassen müssen, sondern ebenso ihren besten Freund verloren. Als wäre all das nicht schlimm genug, hatte sie ihre Verpflichtung als Prinzessin von Tarnàl sträflich vernachlässigt. Mit ihrer unbedachten Äußerung und Rebellion gegen die Ehe riskierte sie die Allianz, die beide Reiche einen sollte. Jetzt saß sie im Schimmer der Kristalle vor dem Spiegel und starrte in ihr fahles Gesicht. Das Puder, das sie nutzte, half ihrem Teint auch nicht weiter. Ihre Augen waren dunkel umrandet. Eine erschütternde Röte füllte das Weiß ihrer Augen und in ihre Stirn hatte sich eine dünne Sorgenfalte eingegraben. Die halbe Nacht lang hatte sie sich ihrem Schmerz und damit den Tränen der ohnmächtigen Hilflosigkeit ergeben. Neue Verzweiflung verengte ihr die Kehle, da ging die Tür auf und Fionn kam herein. Bei seinem Anblick verkrampften ihre Muskeln. Stockstarr sah sie ihn an, wischte sich geistesabwesend über die Wangen, um die Spuren ihres Kummers zu verwischen. Er beachtete sie kaum. Der Bartschatten zierte sein sonst gepflegtes Gesicht. Unter seinen Augen waren ebenfalls Schatten sichtbar. Das Hemd war zerknittert und sie erkannte sandfarbene Tropfen auf der Knopfleiste. Offensichtlich war die Nacht an ihm ebenso schlecht vorübergegangen wie an ihr. »Fionn, es-« Er hob abwehrend die Hand. »Sag kein Wort. Wir müssen uns fertigmachen, die Kutsche steht zur Abfahrt bereit.« Die Scherben ihres Herzens wurden bleiern. All die ungesagten Worte, all die neue Feindseligkeit zwischen ihnen, verdichteten sich in ihrem Hals zu einem mächtigen Kloß, den es runterzuschlucken galt. Sollte ihre Ehe so aussehen? Ihre Zukunft und ihr Leben? Sie schluckte abermals und kniff die Augen fest zusammen, bis es schmerzte und die Tränen keinen Raum mehr hatten, um zu fließen. Ariana zwang sie zurück in ihren Körper und zurück in ihr Herz. Sie strich mit der Bürste durch ihre weißblonden Haare. Dabei verfolgte sie, wie Fionn zügig die Kleidung wechselte, ihr keinen einzigen Blick zuwarf, und an die Tür trat. Wie würde er mit ihr umgehen, sobald sie in seinem Heim angekommen waren? Schnell verbannte sie den Gedanken. All die Spekulationen und unlogischen Ängste halfen nicht. Vielmehr galt es, den angerichteten Schaden zu begrenzen. Wenn sie ihn wirklich verlassen wollte, wäre nicht nur ihre Existenz als Prinzessin gescheitert. Das Volk würde ihn kaum mehr als Herrscher anerkennen oder respektieren. Selbst jetzt weigerte sie sich, der Reputation ihres besten Freundes einen derartigen Schaden zuzufügen. Noch bestand Hoffnung, dass sie ihren Kindheitsfreund zurückbekam, jenen Mann, der er gewesen war, bevor sie spurlos verschwunden war. Ihr Innerstes sträubte sich vor der Möglichkeit, er könne sie lediglich als zweckdienliches Mittel betrachten. Ein Instrument, um seine Macht in den Reichen endgültig auszuweiten. Ihr ging es vielmehr um das, wonach sie sich seit ihrer Rückkehr mehr denn je sehnte: einen Freund. Einen, mit dem sie reden konnte, der sie verstand, ihr Glauben schenkte und mit ihr scherzte. Stattdessen jedoch ... Ihr Blick begegnete seinem im Spiegel. Keiner sagte was. Die Stimmung war gedrückt. »Ich gehe vor«, brummte er schließlich und verließ das Zimmer wieder. Ariana zählte langsam bis zehn, dann erhob sie sich und ging ebenfalls hinaus.
***
Alle Habseligkeiten waren verstaut und die letzten Pferde gesattelt. Die Kutsche stand bereit und hinter den Wolken kam endlich die Sonne hervor, um sie zu wärmen.
Ariana blickte auf den Palast zurück. Sie sah das schmale, lang gezogene Fenster ihres alten Zimmers im Sonnenlicht schimmern. Ein Seufzen kroch ihr über die Lippen.
Sie nahm in der Kutsche Platz und wartete. Fionn besprach sich mit dem Kutscher und hielt sich aufrecht in seiner herrschaftlichen Robe. Obwohl ihm die rechte Hand fehlte, fiel diese Einschränkung mittlerweile kaum noch auf. In der kurzen Zeit des Verlustes hatte er sich mit dem Stand der Dinge abgefunden. So, wie er sich mit ihr und ihrer Ehe arrangiert hatte, schoss es Ariana zynisch durch den Kopf.
»Prinzessin«, wandte er sich nach einem Moment ihr zu. Sein Blick war hart, seine Stimme unterkühlt. »Ich habe alles geregelt. Wir reisen abseits der Hauptstraßen. Auf diese Weise kommen wir rascher voran und treffen heute am späten Nachmittag in Farnàl ein.«
»Dein Vater ist informiert?«, fragte sie, nachdem er sich ihr gegenüber hingesetzt hatte und die Tür verschlossen worden war.
»Er erwartet uns, sei unbesorgt.«
»Ich bin nicht besorgt.«
Er warf ihr einen gönnerhaften Blick zu, der sie ärgerte. Als wüsste er, was in ihr vorging. Sie sah weg und schwieg. Ein weiteres Mal schluckte sie den Ärger hinunter, der ihr den Magen verätzte, sobald Fionn sich ihr gegenüber blasiert gab. Es nützte nichts, wenn sie ihn darauf ansprach. Das hatte sie bereits hinter sich. Er nickte, beteuerte Entschuldigungen und änderte doch nichts an seiner Art ihr gegenüber.
Es war ein Sakrileg im Ehebett den Namen eines anderen zu flüstern. Nun war es aber geschehen. Sie konnte es nicht wieder zurücknehmen und ungeschehen machen. Alles in ihr drängte schuldbewusst danach, die Verhältnisse mit Fionn zu klären. Aber ihn interessierte das offenbar nicht. Dabei standen ihnen Stunden in dieser beengten Kutsche bevor. Eine Zeit, in der unmöglich war, sich zurückzuziehen. Zudem würde sich niemand sonst um ein lockeres Gespräch bemühen. Sie waren völlig allein mit sich und all den schrecklichen Gedanken und Gefühlen.
Ariana straffte die Schultern. Sie sammelte genug Mut und sah zurück zu ihm. Er hielt die Augen geschlossen und lehnte entspannt am Rückenpolster.
Sie räusperte sich.
»Stimmt was nicht?«, fragte er, ohne die Liddeckel zu heben.
»Da du fragst: Nein.«
Träge blinzelte er. Dann sah er sie unter den halbgeschlossenen Augen hinweg an. »Und was mag das wohl sein?«, murmelte er.
»Letzte Nacht-«
Er stöhnte genervt. »Ich will darüber nicht reden. Warum willst du es so unbedingt?«
»Weil die Situation zwischen uns steht.«
»Wir müssen nichts klären«, entgegnete er. In seinen Augen blitzte es. »Du hast den Namen eines anderen genannt, als eigentlich meiner über deine Lippen kommen sollte.« Er zuckte ruckartig mit den Schultern, als wollte er etwas abschütteln. »Was gibt es da zu klären?«
»Es tut mir leid, Fionn.«
»Gut. In Ordnung. Ich akzeptiere also und nehme deine Entschuldigung an. Zufrieden? Versprich mir, dass das nie wieder passiert.«
Sie nickte zügig, ehe sie es sich anders überlegen konnte. Vor dem Fenster der Kutsche beobachtete sie, wie der Palast ihres Vaters kleiner wurde. Sie fühlte sich nicht wohl mit dem Gedanken, dass Fionn ihre Entschuldigung zum Schein angenommen hatte. Daran war etwas falsch. Gleichzeitig hatte sie keinerlei Ahnung, wie sie die Verhältnisse zum Besseren wenden konnte.
Sie dachte an ihren Lesesessel. Von dort aus war sie in die fremde Welt und dem Elfenkönig vor die Füße gefallen. Es war ihre Vergangenheit. Vor ihr lag die Zukunft. Wer wusste, ob sie und Kieran sich je wiedersahen?
***
Die Kutsche hielt vor dem Haupttor von Farnàl. Es bestand aus meterhoher Schmiedekunst, deren schwarze Spitzen abschreckend zum Himmel zeigten. Der Mittag war längst verstrichen und die Abendsonne lugte zwischen den Wolken hervor. Ariana lehnte sich näher zum Fenster, um ihr neues Heim genauer zu betrachten. Zuerst fielen ihr die Ziegel und Schindeln des Palastes auf. Blutrot schimmerten sie im Sonnenlicht. Beklemmung stieg frostig in ihr auf. Sie rieb sich die Hände, als könnte sie auf diese Art das Frösteln abschütteln, dass sie bei dem Anblick heimsuchte.
Im Palast ihres Vaters waren sämtliche Mauern glatt verputzt und strahlendweiß. Sie vermittelten eine Offenheit und Freundlichkeit, die sonst nirgends zu finden war. Hier hingegen wirkte alles dramatisch, übertrieben bedrohlich und abschreckend.
»Es ist lange her, dass ich dein Zuhause besuchte«, meinte sie. Fionn schnaubte. »Wir waren immer in Tarnàl. Es gab keinen Grund für dich, ausgerechnet hierher zu kommen.«
Bitterkeit begleitete seine Stimme. Er hielt die Aufmerksamkeit auf das gegenüberliegende Kutschenfenster gerichtet. Dort rauschte die rote Farbe vorbei, kaum dass sich die Kutsche wieder in Bewegung setzte.
»Ich habe kaum eine Erinnerung daran. Es ist ganz anders als Tarnàl«, meinte sie.
»Du bist jetzt hier zuhause«, antwortete er ihr.
»Ich weiß«, erwiderte sie. »Wann warst du zuletzt bei deinem Vater?«
»Ich verbrachte das letzte halbe Jahr mit der Suche nach dir. Hast du das vergessen?« Endlich sah er sie an. »Anders als du hatte ich keine Muse, um mich anderweitig umzusehen.«
Schmerz erfüllte sie. »Das wollte ich nicht.« Ihre Stimme war bloß noch ein Flüstern. Es tat ihr leid, dass sie ihm Probleme bereitet hatte. Fionn machte eine abwehrende Bewegung. »Jedenfalls war ich lange nicht hier. Der Tod meiner Mutter bot den letzten Anlass für einen Besuch.«
»Ich verstehe.«
Ariana senkte den Blick auf ihren Schoß. Genau wie sie hatte er seine Mutter bereits vor Jahren verloren. Während die Königin von Tarnàl als verschollen galt, war Fionns Mutter verstorben. Der Prinz verbrachte daraufhin deutlich mehr Zeit in Tarnàl. Alle vermuteten, es lag an der bevorstehenden Verlobung mit Ariana. An ihrer Allianz. Der Verbindung ihrer beider Häuser miteinander. Dabei war es mehr als Freundschaft, die ihn mit ihr verband.
Das auf den Tod der Königin folgende Staatsbegräbnis ließ die Herrscher solidarisch zusammenrücken. Doch der Prinz war seitdem mit seinem Vater zerstritten. Ariana hatte sich damals bemüht, ihm in dieser schwierigen Zeit beizustehen. Sie ahnte nicht, dass ihr Verhalten den Gerüchten über eine baldige Vermählung neues Futter gab. Zu dem Zeitpunkt war es ihr sogar gleichgültig gewesen, was die Bevölkerung dachte. Es hatte sie einfach nicht gekümmert. Jetzt jedoch war alles anders.
»Dann hat dein Vater all die Zeit allein hier verbracht?«
Fionn schüttelte den Kopf. »Nicht doch.« Erneut vernahm sie den bitteren Tonfall in seiner Stimme. »Er hatte ja genug Gespielinnen, die ihm den Alltag versüßten.«
Schockiert starrte sie ihn an. Er stellte seinen Vater als Schwerenöter dar. Dabei erinnerte sie sich unweigerlich an ihre eigene Zeit am Hof des Elfenkönigs. Auch dort hatte sie mit derlei Gerüchten zu tun gehabt. Der Gedanke erhitzte ihr die Wangen.
»Bist du sicher?«, fragte sie und beobachtete, wie Fionn den Mund zu einem schalen Lächeln verzog.
»Ich war es, der ihn oft genug mit einer erwischte.« Er schnaubte. »Zum Glück möchte ich hinzufügen. Es war ein günstiger Zufall, dass ich es war und nicht meine Mutter. Das hatte sie nicht verdient.«
»Entschuldige«, entgegnete Ariana nach einem Augenblick. »Ich wollte keine schlechten Erinnerungen wecken.«
Fionn zuckte mit der Schulter. »Es ist ewig her. Die Mätressen waren der Grund, warum ich fernblieb. Ich weiß nicht, was geschehen wäre, wenn ich länger geblieben wäre.«
Er ballte die Hand im Schoß zu einer Faust. Eine Welle von Mitgefühl erfasste Ariana. Sie gab sich einen Ruck und neigte sich vor, um sie mit ihren zu umschließen. Früher standen sie sich nahe. Da war das Ergreifen einer Hand eine freundschaftliche Geste und mehr nicht. Jetzt aber tat sie es mit einem flauen Gefühl in der Magengrube. Sie sah ihm ins Gesicht und sagte: »Es spricht für dich, dass du die Distanz gesucht hast.«
»Findest du? Ich hätte meiner Mutter helfen können, wenn ich geblieben wäre.«
»Dich trifft keine Schuld, Fionn. Wir wissen nicht, was im Einzelnen geschah, oder?«
Er seufzte. Seine Hand öffnete sich und er umfasste ihre Finger. »Die Diener sehen das anders. Es gab Gerüchte, Ari. Viele Gerüchte. Keines davon warf ein gutes Licht auf meinen Vater. Ich will alles dafür tun, um nicht wie er zu werden.«
»Natürlich«, entgegnete sie mit einem Lächeln.
In dem Moment hielt die Kutsche an. Er löste ihren Kontakt und griff an ihr vorbei, um die Tür zu öffnen.
Ein bereitstehender Diener verneigte sich. »Willkommen zurück in Farnàl, Prinz Fionn nebst Gemahlin, Prinzessin Ariana von Tarnàl.«
Hohe Mauern umgaben sie wie ein unheilvolles Gemäuer, ein Labyrinth des Todes. Sie fröstelte und schüttelte sich kurz, um den Schauer wieder loszuwerden. Nur wenige Fenster waren in die Wände eingelassen. Wachmänner standen vor sämtlichen Eingängen. Ariana lehnte diesen Zustand in ihrem Innersten sofort ab. Sie beschloss, mit Fionn darüber zu sprechen, sobald es sich ergab.
Er ergriff ihren Arm und schritt mit ihr auf eine breite Eingangstür zu. Hier gab es keine Zugangstreppe wie in Tarnàl, keine freundlichen Gesichter, keinen großen Garten. Farnàl glich in all seiner Düsternis fast einer Grabstätte.
»Da seid ihr endlich!«, erklang eine tiefe, kratzige, aber eindeutig erfreute Stimme. Ihnen eilte ein korpulenter, etwas klein gewachsener Mann entgegen. Ein warmes Lächeln dominierte seine Züge. Er breitete die Arme aus und zog erst sie, dann seinen Sohn in eine herzliche Umarmung.
»Es ist lange her, Prinzessin«, meinte er. »Erlaube, dass ich mich ein weiteres Mal vorstelle: Ich bin Fionns Vater, König Persàl von Farnàl.«
Ariana erwiderte die Begrüßung mit einem hoheitlichen Knicks. »Ich bin erfreut, Euch zu sehen, mein König.«
»Ach, Mädchen«, fuhr er fort, kaum dass sie wieder aufrecht stand, »das wurde ja höchste Zeit!« Seine Stimme tönte weithin vernehmlich über den Hof. Ariana blinzelte irritiert. Niemand hatte sie je zuvor »Mädchen« genannt. Sie schaute zu Fionn hinüber, der jedoch nur mit der Schulter zuckte und ihre Hand in seine Armbeuge legte. Persàl deutete auf die Tür.
»Lasst uns hineingehen. Ihr seid sicher erschöpft, durstig und hungrig von der Reise hierher. Wie geht es König Arlàn?«
»Er grüßt Euch herzlich«, erwiderte Ariana.
»Es ist Jahre her, dass wir uns begegnet sind. Damals weilte deine Mutter noch unter uns.«
»Wir haben nie erfahren, ob sie tot ist.«
»Sie verschwand einfach, nicht wahr? Verzeih, ich wollte sicher keine alten Wunden aufreißen.«
Fionn schnaubte und Persàl wandte sich ihm zu. »Es ist auch schön, dich wiederzusehen, Sohn. Dein letzter Besuch wurde ja leider von einem anderen Ereignis überschattet. Es ist lange her.«
»Spar dir das, Vater. Wir wissen beide, dass wir einander nicht viel zu sagen haben.«
»So?« Der König sah seinen Abkömmling brüskiert an. »Dann frage ich mich allerdings, warum du mit deiner Frau überhaupt hergekommen bist?«
»Über die Details sprechen wir besser drinnen. Ariana begleitet mich, da ich sie dir aus reiner Höflichkeit nicht vorenthalten wollte.«
»Wie anständig von dir. Die Erziehung deiner Mutter hat in dem Fall wohl etwas genützt, nicht wahr?«
Der schneidende Tonfall war Ariana unangenehm. Die Muskeln in Fionns Arm spannten sich unter ihrer Hand an und wieder ballte er seine Hand zur Faust.
Sie räusperte sich. »Ich freue mich darauf, Farnàl näher kennenzulernen.«
Persàl löste seinen Blick von Fionn und lächelte sie an. »Die Freude liegt ganz auf meiner Seite, Tochter von Tarnàl.«
Sie ließen die Eingangstür hinter sich und betraten einen lang gezogenen Flur. Ariana betrachtete die rötlich gefärbten Wände, die Kristallleuchter, die von der Decke baumelten und die wenigen Fenster, die kaum Tageslicht spendeten und zudem von bodenlangen, schweren Vorhängen umrahmt wurden. Wie sollte sie sich an diesem Ort wohlfühlen? Es erschien ihr zunehmend unrealistisch, diesen Palast als Heim zu betrachten.
Persàl öffnete eine Tür aus dunklem Holz und führte sie in den Raum. Es war nicht der Thronsaal, dafür war das Zimmer zu klein gehalten. Ein paar schlichte Sitzmöbel – zwei Stühle und ein Hocker – fanden sich darin. Ein Fenster neben dem ausladenden Kamin ließ natürliches Licht hinein.
»Nun, Fionn«, begann Persàl und deutete auf die Stühle. »Was führt dich und deine wunderschöne Gemahlin hierher, wenn schon nicht deine Vermählung und der Verlust deiner Hand?«
Als der Prinz einen Blick auf seinen Armstumpf warf, lachte Persàl. »Wir haben vielleicht kein gutes Verhältnis zueinander, aber denkst du nicht, dass ich es bemerken würde, wenn dir eine Gliedmaße abhandenkommt?« Einen Moment lang taxierten sie einander abschätzig. »Bitte«, sagte er, »setzt euch.« Dann wandte sich Persàl lächelnd Ariana zu. »Darf ich dir eine Erfrischung bringen lassen?«
Sie nickte dankbar und der König übertrug einem Dienstboten den Auftrag. Anschließend schloss er die Tür, trat an den Kamin und lehnte sich lässig an den Sims.
»Also? Was ist los?«
Fionn räusperte sich. »Da du direkt fragst«, sagte er, »ich beabsichtige, mich zum neuen König von Farnàl ausrufen zu lassen.«
Ariana erstarrte. Hegte er diese Absicht seit ihrer Hochzeit?
Persàl schaute gelassen drein, wenn auch mit einer neugewonnenen Härte im Blick. »Ist das so?«, fragte er.
»Ich habe eine Ehefrau, wohingegen du bloß ein alter Machthaber bist, der keine weiteren Nachkommen außer mir vorzuweisen hat. Es ist mein gutes Recht, als Prinz die Nachfolge des Herrschers anzutreten und dich abzusetzen. Ich hätte das bereits vor Jahren tun sollen.«
»Hat er dir von seiner Intention erzählt?«, wandte sich Persàl an Ariana. Sie schüttelte den Kopf.
»Du hast also nicht einmal daran gedacht, deine geschätzte Gattin einzuweihen? Wann ist dir die Idee zu diesem hinterhältigen Vorhaben gekommen, mein Sohn? Auf dem Weg hierher? Vorher?«
Fionn ließ Arianas Hand los und verschränkte die Arme. »Das ist irrelevant. Ich werde es tun – mit oder ohne deine Einwilligung. Unsere Zukunft liegt in diesem Haus.«
»Ach, eure Zukunft?« Der König erhob seine Stimme. Obwohl er und Fionn äußerlich kaum Ähnlichkeiten aufwiesen, zeigten sie sich in ihrem Charakter: Er ballte ebenfalls die Fäuste, als wollte er liebend gerne auf etwas – oder jemanden – einschlagen. »Du kommst hierher mit deiner Frau und beschließt einfach so, mich vor die Tür zu setzen? Was erlaubst du dir!«
Der König schritt auf und ab. Der mühsam gezügelte Aufruhr war deutlich an seinen Zügen abzulesen.
»Fionn«, flüsterte Ariana. Doch er ignorierte sie.
»Die Gesetze Farnàls bieten mir ausreichend Machthabe, um meinen eigenen Vater zu entmachten und den Platz einzunehmen, sobald der Eindruck entsteht, der König sei zu alt oder unqualifiziert, der Verantwortung weiterhin gerecht zu werden.«
Persàl stemmte seine Hände in die Hüften und schaute böse auf Fionn hinab. »Das findest du? Du glaubst, ich sei alt? Unqualifiziert? Denkst du denn, ich räume dir den Thron frei, bloß weil du nach einer Ewigkeit hier unvermittelt aufkreuzt und dein kleines Frauchen mitbringst – verzeih mir den unflätigen Ausdruck, Prinzessin. Offensichtlich habe ich mich all die Jahre in dir geirrt. Deine Erziehung wurde furchtbar vernachlässigt.«
»Und wessen Schuld ist das?«
Die beiden Männer starrten sich über Arianas Kopf hinweg an. Inzwischen war auch Fionn wieder auf den Beinen. Sie fochten einen unausgesprochenen Kampf aus und Ariana beschloss, dass sie nicht dabei sein sollte. Es war ein Problem zwischen Vater und Sohn, das bereits lange vor ihr gärte.
Sie stand auf.
»Wo willst du hin?«, blaffte Fionn, sodass sie zusammenzuckte.
»Ich habt persönliche Angelegenheiten zu klären. Es ist eine Familiensache, da will ich nicht stören.«
»Deine Gemahlin hat Anstand und Manieren. Ich stimme ihr zu. Sie sollte nicht Zeugin dieser unschönen Szene werden. Ich lasse ihr das Zimmer zeigen.« Persàl trat zur Tür.
»Nein«, knurrte Fionn mit hochgezogenen Schultern. »Sie ist meine Frau, sie gehört zu mir und damit zur Familie. Sie kann sich ebenso wie du anhören, was ich zu sagen habe.«
»Fionn«, wandte Ariana leise ein. »Bitte lass mich gehen. Das betrifft lediglich dich und den König.«
Er starrte auf sie herab. Seine Augen blitzten gereizt wie ein eingesperrtes Tier. Sie las ihren Verrat in seinem Blick. Dennoch fuhr sie fort: »Du und dein Vater solltet diese Differenzen unter vier Augen ausräumen. Ich störe dabei und kann ohnehin wenig beitragen, um die Sachlage zu klären.«
Ein langer Moment verstrich. Endlich richtete Fionn sich auf. »Schön«, gab er nach, »dann geh. Ich komme später zu dir und unterrichte dich über den Stand der Dinge.«
Ariana ignorierte das Gefühl, das ihr bei seinen Worten tonnenschwer im Magen lag. Es klang wie eine Drohung. Aber das konnte nicht sein, versuchte sie sich zu beruhigen. Fionn würde ihr nicht vorsätzlich etwas antun, um sich für ihren Verrat zu rächen. Er war ihr Freund. Ihr Ehemann. Er liebte sie.
Oder?