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Kapitel 1
ОглавлениеEs war ein schrecklich schwüler Tag. Der Schweiß bahnte sich einen Weg durch ihre Brauen und brannte salzig in ihren Augen. Blair Morgan fuhr sich gereizt mit dem Handrücken über die Stirn. Sie legte die Suppenkelle für einen Moment beiseite, schloss die Augen und versuchte sich mit dem Gedanken zu trösten, dass die Hitze hier nicht viel schlimmer war als auf einem Tennisplatz in Acapulco oder St. Martin. Und eigentlich mochte sie diesen Ort sehr viel lieber als jene luxuriösen Spielwiesen der High Society. Völlig unvermittelt überfiel sie ein unerklärliches Gefühl von Heimweh. Nicht nach D. C. an sich, sondern nach dem Herrenhaus in Maryland, das ihr wirkliches Zuhause war. Ein Anwesen im georgianischen Stil, um das sich die weite Hügellandschaft ausbreitete …
Blair blinzelte und sah direkt in zwei große, braune Augen. Was für ein hübsches Kind, schoss es ihr durch den Kopf. Dann riss sie sich zusammen, lächelte ermutigend und reichte dem Jungen eine Schüssel mit Suppe.
»Gracias, señora«, flüsterte Miguelito und fügte im Stillen hinzu: angela de dios. Engel Gottes. Er fand sie wunderschön, diese norteamericana, mit Augen wie eine grüne Weide und Haaren in den Farben des Sonnenuntergangs. Den Kindern gegenüber war sie die Freundlichkeit selbst, aber Miguelito wusste, dass sie auch wie der Racheengel sein konnte, den er aus dem Alten Testament kannte, das die Kinder mit dem Padre in der Kapelle lasen. Miguelito hatte sie schon so zornig mit den Männern von der Behörde sprechen sehen, die manchmal in ihren großen Jeeps herkamen, um das Camp zu überprüfen.
»De nada, Miguelito, de nada«, erwiderte sie lächelnd. Miguelito umklammerte das Stück Brot und die Schüssel mit Suppe und entfernte sich.
Blair schöpfte weiter und fragte sich, ob ihr rechter Arm irgendwann einmal viel muskulöser sein würde als der linke, wie bei den Jai-Alai-Spielern, die sie vor Jahren im Baskenland gesehen hatte. Aber nein, dachte sie amüsiert, eine Suppenkelle zu schwingen war mit Jai Alai nicht zu vergleichen.
Schließlich waren alle Kinder des Dorfes versorgt. Blair nahm ihren breitkrempigen Strohhut ab und fächelte sich damit Luft zu, während sie mit der anderen Hand den Kragen ihrer kurzärmeligen, khakifarbenen Bluse aufhielt, die schweißgetränkt an ihrem Körper klebte.
An Tagen wie diesem bedauerte sie es, in einer steinreichen Familie aufgewachsen zu sein. Wenn sie als junges Mädchen transpiriert hatte, dann mit voller Absicht, um sich eine perfekte Bräune zuzulegen. Und sobald es ihr in der Sonne zu heiß geworden war, hatte sie sich einfach in das kühle Wasser des Swimmingpools gleiten lassen.
Tja, sie war kein junges Mädchen mehr, ermahnte sie sich. Diese Zeiten waren unwiederbringlich vorbei. Sie befand sich aus freien Stücken in diesem vom Krieg verwüsteten Land. Das Leben war für eine Weile sehr gut zu ihr gewesen, doch nach dem schweren Schicksalsschlag hatte sie beschlossen, etwas Sinnvolles zu tun.
Die gemeinnützige Arbeit bewahrte sie vor der Verbitterung und davor, sich in oberflächliche Affären zu stürzen, um ihren Verlust und die Einsamkeit zu vergessen. Hier wurde sie gebraucht. Hier wunderte sich niemand darüber, dass sie selbst etwas leisten wollte. Sie konnte solche Ansichten sogar verstehen. Sie war die Tochter eines reichen Mannes und hatte einen ebenso reichen Mann geheiratet. Selbst durch ihr abgeschlossenes Psychologiestudium hatte sie es nicht geschafft, anderen begreiflich zu machen, dass sie als vernunftbegabter Mensch auch zu schwerer Arbeit fähig war. Zum Glück gab es Kate! Kate hatte ihr geglaubt, dass sie nicht nur formvollendete Teegesellschaften für Diplomaten geben konnte. Kate hatte ihr dabei geholfen, ihrem herzensguten, aber allzu besorgten Vater klarzumachen, dass sie nach der Tragödie ein Ventil für ihre Energie und Trauer benötigte.
Kaum hatte Blair an ihre Freundin gedacht, da schlenderte die zierliche, rothaarige junge Frau auf sie zu. Sie schwenkte ebenfalls einen Strohhut. Blair lachte und rief ihr entgegen: »Du siehst so klebrig aus, wie ich mich fühle.«
Kate zog die Nase kraus, füllte eine Schüssel mit der dünnen Suppe und steckte den Finger in die lauwarme Flüssigkeit, um zu probieren. »Dann kann ich dir etwas verraten, das dich aufmuntern wird.«
»Und das wäre?«
»Es gibt da diesen schönen, kühlen Bach, keine halbe Meile vom Camp entfernt.« Kate seufzte glücklich. Die Freuden eines Bades waren ein nicht zu verachtender Luxus.
»Wunderbar! Sind die männlichen Mitglieder unseres Teams heute Abend wieder einmal so ritterlich, uns den Vortritt zu lassen?«, scherzte Blair.
Ihre Gruppe bestand aus sechs Mitgliedern – drei Männern, die sich stets wie Kavaliere benahmen, und drei Frauen. Thomas Hardy war mit Leib und Seele Arzt und vergaß manchmal völlig, dass seine Frau Dolly ebenfalls anwesend war. Sie behauptete, die Arbeit für die Hungerhilfe sei die einzige Möglichkeit für sie, ihren Mann zumindest hin und wieder zu Gesicht zu bekommen. Sie war eine mütterliche Frau, die sich von hilfsbedürftigen Kindern nicht losreißen konnte. Harry Canton war ein dünner, eifriger Mann Anfang zwanzig, der bei Schimpfwörtern errötete. Juan Vasquez, ihr einheimischer Fahrer, war mehrfacher Großvater und ein gebildeter Mann. Er schäkerte gerne mit den Frauen und beschwerte sich, dass er zu alt sei, um bei ihnen seinen ganzen Charme zu entfalten. Blair kam er vor wie eine dunkelhäutige Version ihres Vaters.
»Wir dürfen zuerst plantschen«, antwortete Kate vergnügt. »Aber vorher möchte dich Tom im Sanitätszelt sehen. Wie es scheint, bekommen wir morgen Besuch von einem Reporter, also sollst du dich wohl verdrücken.«
Blair stöhnte. Die Hungerhilfe war eine unpolitische Organisation und wurde von Regierungen verschiedener Länder unterstützt. Journalisten versuchten meistens, die Mitarbeiter zu politischen Stellungnahmen zu verleiten, was von offizieller Seite nicht gerne gesehen war. Doch für Blair war es noch schlimmer. Sie benutzte zwar den Mädchennamen ihrer Mutter, aber wer sie sah, erkannte sie aufgrund ihrer traurigen Berühmtheit sofort. Nur wenige wussten von ihrem Vater, aber viele kannten ihr Gesicht aus den Zeitungs- und Fernsehberichten über Senator Teiles tragischen Tod. Die Hungerhilfe respektierte ihre Anonymität, doch das galt nicht für Reporter, die eine gute Story witterten.
»Geh zu Tom«, sagte Kate. »Ich springe schon mal ins Wasser.«
Blair durchquerte mit schnellen Schritten das Camp und betrat das Zelt des Arztes. Wie so oft, wenn Tom keinen Patienten hatte, war er in ein Buch vertieft und strich sich abwesend über seinen grau melierten Bart. Blair musste ihn zweimal ansprechen, ehe er den Blick hob. Er lächelte sie an und schlug das Buch zu. »Blair! Komm her und setz dich.«
Blair ließ sich auf einem harten Klappstuhl nieder und spürte auf einmal, wie müde sie war. »Was gibt’s?«
Tom kratzte sich am Kopf und lächelte verlegen. Er wirkte ungewöhnlich ernst und verwirrt zugleich. »Hat Kate dir von dem Reporter erzählt?«
»Ja. Gibt es ein Problem?«
»Nein nein, nur das Übliche. Eigentlich wollte ich mit dir über etwas anderes reden.«
»Oh.«
»Hast du vor, nach Hause zurückzukehren, Blair?«
Blair runzelte die Stirn. »Ja natürlich, aber nicht sofort. Ich habe mich für zwei Jahre verpflichtet, und die sind erst in ein paar Monaten um. Warum?«
»Sie schicken uns zwei neue Helfer«, erwiderte Tom.
»Das ist ja toll!«, rief Blair. »Du bittest doch schon seit einer Ewigkeit um zusätzliche Leute …«
»Ja, aber ich habe nie damit gerechnet, dass ich welche bekommen würde.« Tom erhob sich von seinem Feldbett und begann, auf dem festgetretenen Lehmboden auf und ab zu gehen. »Ich habe mich bloß gefragt …« Er zuckte mit den Achseln und sah ihr direkt in die Augen. »Weißt du vielleicht mehr als ich?«
Blair schüttelte den Kopf. Tom Hardy verhielt sich stets rücksichtsvoll und freundschaftlich zu ihr und sie hatte das Gefühl, ihm eine ehrliche Antwort zu schulden. »Ich bin sicher, dass nichts dahinter steckt«, antwortete sie wahrheitsgemäß. »Ich habe erst vorgestern einen Brief erhalten. Und ich garantiere dir, dass mein Vater mich gewarnt hätte, wenn Gefahr im Verzug wäre. Nein« – sie schüttelte noch einmal den Kopf – »die neue Regierung sitzt mittlerweile fest im Sattel. Seit fast einem Monat hat es keinen Bericht über Guerilla-Aktivitäten mehr gegeben.«
»Na ja.« Tom setzte sich wieder und fuhr sich mit dem Handrücken über die Stirn. »Vielleicht lernen sie uns langsam ein wenig zu schätzen!«
»Wahrscheinlich«, stimmte Blair zu und stand mit einem verlegenen Lächeln auf. »Wenn es dir nichts ausmacht, würde ich jetzt gern …«
Er winkte ihr mit der einen Hand zu und griff mit der anderen nach seinem Buch. »Na los, und viel Spaß beim Schwimmen!«
Den hatte sie. Unter einem Dach von vielfarbigen Blättern schlängelte sich das Flüsschen den Hügel hinab. Es stürzte sogar in einem kleinen Wasserfall über einige malerische Felsen und verbreiterte sich dann zu einem geschützten Tümpel.
Als Blair mit der Seife in der Hand die Badestelle erreichte, nibbelte sich Kate gerade trocken. »Du wirst mir zwar nicht glauben, aber das Wasser ist tatsächlich kalt«, warnte sie Blair.
»Gut!«, rief Blair lachend. Sie konnte sich kaum noch an richtige Kälte erinnern, aber es war ein herrliches Gefühl, als ihr erhitzter Körper das Wasser berührte. Sie bekam sofort eine Gänsehaut, die sie regelrecht genoss, und schwamm gemächlich hinüber zum Wasserfall, um ihr Gesicht in die Kaskade zu halten. Sie bemerkte nicht, dass Kate winkte und rief: »Ich gehe zurück«.
Und ihr fiel ebenfalls nicht auf, dass sich die Büsche am linken Ufer des Weihers leicht bewegten, obwohl völlige Windstille herrschte.
Es wäre Blair an diesem späten Sonntagnachmittag nie in den Sinn gekommen, dass sie beobachtet wurde.
Er stand regungslos im Unterholz, nur seine Augen bewegten sich.
Sie war es. Momentan sah sie zwar anders aus als auf dem Foto, weil ihr Haar nass und glatt über ihren Rücken hing, aber ihr fein geschnittenes Gesicht war unverwechselbar. Auf dem Bild war sie natürlich bekleidet gewesen. Ein Muskel in seiner Wange zuckte – die Rolle des Voyeurs gefiel ihm nicht, wohl aber der Anblick, der sich ihm bot. Die Fotografie hatte ihm nicht verraten, dass ihr Körper genauso attraktiv war wie ihr Gesicht. Sie hatte eine gesunde Bräune, schlanke, aber sehnige Arme und lange, wohlgeformte Beine. Ihre hohen, festen Brüste, die schmale Taille und die Rundung ihrer Hüften waren genau richtig proportioniert.
Die Hitze, die Craig durchströmte, hatte nichts mit der schwülen Luft zu tun. Glücklicherweise hielt ein jahrelanges Training ihn davon ab, den frischen Schweißfilm von seinem Gesicht zu wischen. Sie ist eine Prinzessin, dachte er und erstickte andere Gedanken, indem er sich sagte, dass er diesen Einsatz hasste und ihn nur ihr und ihrem hochnäsigen Trotz zu verdanken hatte.
Dessen ungeachtet bot ihr Körper in dem kalten, klaren Wasser einen Anblick von beinahe unwirklicher Schönheit. Sie setzte sich auf einen Felsen unter dem Wasserfall, hob dem Wasser die Arme entgegen und streckte ihren geschmeidigen Rücken, sodass er einen verführerischen Bogen bildete.
Verdammt. Er wünschte sich in den Nahen Osten zurück, und das war doch erbärmlich. Dieser Auftrag würde ihn noch in den vorzeitigen Ruhestand treiben …
Nach einiger Zeit stieg sie aus dem Wasser, trocknete sich ab, zog sich an und entfernte sich, und er konnte den Rückzug zu seinem eigenen kleinen Camp antreten. Nachdem Craig gedankenversunken sein Abendessen verspeist hatte, versuchte er erfolglos, es sich in seinem Schlafsack bequem zu machen.
Das Moskitonetz hinderte die Mücken nicht daran, geräuschvoll um ihn herumzuschwirren. Erst kurz vor dem Einschlafen schaffte er es, den entzückenden Anblick der Frau im Wasser zu verdrängen und sich weiter über seinen Auftrag zu ärgern.
Als Craig Taylor seinen Jeep auf dem Gelände der Hungerhilfe zum Stehen brachte, begannen sich die rosaroten Streifen der Morgendämmerung gerade gelblich zu verfärben. Das Camp war bereits mit Leben erfüllt: Zahlreiche Einheimische standen vor einem riesigen, eisernen Topf Schlange, um sich eine Portion Haferbrei zu sichern.
Craigs Augen suchten blitzschnell die Umgebung ab, konnten Blair Morgan jedoch nicht entdecken. Eine schlanke Rothaarige schöpfte die zähe, porridgeähnliche Masse in Schüsseln, ein junger Mann, der kaum zwanzig sein konnte, gab Milch an Kinder aus, und eine Frau in mittleren Jahren verteilte Obst.
Während der Motor des Jeeps stotternd verstummte, sah Craig einen sonnenverbrannten, bärtigen Mann, der ihm lächelnd entgegeneilte. Wieder einmal verwünschte er im Stillen seine Vorgesetzten dafür, dass sie ihn in diese Lage gebracht hatten. Der Bärtige freute sich über die vermeintliche zusätzliche Hilfe offenbar sehr.
»Herzlich willkommen!« Er reichte Craig die Hand. »Ich bin Dr. Tom Hardy und habe die Verantwortung für dieses Chaos.«
»Craig Taylor«, sagte Craig und erwiderte Hardys erstaunlich kräftigen, enthusiastischen Händedruck. Dann griff er nach seinem Seesack, schwang sich behände aus dem Jeep und setzte ein unbeschwertes Lächeln auf. »Womit soll ich anfangen?«
»Dieser Tatendrang gefällt mir«, erklärte Dr. Hardy lachend und taxierte den Neuankömmling. Merkwürdig – er sah nicht aus wie der Typ Mann, der sich normalerweise zu solchen Einsätzen meldete. Trotz seiner zerzausten Haare und der lässigen Kleidung verströmte er eine gewisse Autorität. Es mussten seine bemerkenswerten Augen sein. Außerdem wirkte er erfahren, nicht wie ein junger Idealist, der die Welt retten wollte. Nun ja, die Menschen hatten verschiedene Gründe, in die Fremde zu gehen. Hardy stellte nicht viele Fragen, er beurteilte Menschen nach ihrer Persönlichkeit und den Früchten, die ihre Arbeit trug.
›Früchte der Arbeit‹ – bei diesem Gedanken vertiefte sich sein Lächeln. Ein intelligenter, kräftiger Mann würde eine große Hilfe sein, vor allem, wenn die Laster mit dem Nachschub kamen.
»Lernen Sie erst einmal die anderen kennen«, bremste ihn Dr. Hardy und versuchte gar nicht, seine Begeisterung zu verbergen. »Und später … tja, dann hätte ich Schwerstarbeit für Sie. Vorräte müssen ausgeladen werden. Hoffentlich macht es Ihnen nichts aus, sofort in Aktion zu treten.«
»Dafür bin ich schließlich hier«, log Craig und bemerkte verwundert, dass er dem engagierten Doktor gern zur Hand ging. Hardy war auch nur eine Schachfigur, genau wie er selbst. Aber im Gegensatz zu ihm, wusste der Mann das nicht.
»Kommen Sie mit, ich zeige Ihnen Ihre Unterkunft«, schlug Tom Hardy vor. »Und später stelle ich Ihnen die Truppe vor.«
Blair hatte einen Jeep gehört und angenommen, dass der Reporter eingetroffen war. Höchste Zeit, abzutauchen.
Sie zog ihren Sonnenhut tief in die Stirn, schlug den Pfad hinter den Zelten ein und verschwand im Unterholz. Es war gar nicht nötig, sich weit in den Dschungel hineinzuwagen. Eine kleine Lichtung in Hörweite des Camps bot ihr Schatten und einen glatten, abgeflachten Felsen als Sitzgelegenheit. Sie vertiefte sich in ein Buch über essbare Dschungelpflanzen, entschlossen, die Sache auszusitzen.
Als Blair jedoch einen zweiten Jeep hörte, legte sie das Buch beiseite. Neugier siegte über Vorsicht, und sie schlich durch die schützenden Bäume zurück zum Lager.
Der Mann, der aus dem Fahrzeug stieg musste der Reporter sein, denn er passte einfach nicht in die Tropen. Er trug zwar Jeans, aber es waren Designerjeans, das sah Blair selbst aus der Entfernung. Er hatte die Ärmel seines maßgeschneiderten Hemdes bis zu den Ellbogen aufgerollt, einen Bleistift hinter sein Ohr gesteckt und wirkte überheblich.
Ein angehender Walter Cronkite, dachte Blair trocken. Aufgrund ihrer Erfahrungen konnte sie Journalisten nicht besonders gut leiden. Es gab durchaus verantwortungsbewusste Profis unter ihnen, aber auch viele, die weder Einfühlungsvermögen besaßen noch sich an die Fakten hielten.
Blair hörte gedankenverloren zu, während Dr. Hardy ruhig mit dem Reporter sprach und sich schlichtweg weigerte, seine Meinung über die Politik dieses abgelegenen, verwüsteten Landes kundzutun, egal, wie hartnäckig der junge Schreiberling nachfragte. Das Interview dauerte nicht lange, denn Dr. Hardy wusste genau, was er wollte und was er tat. Kein Journalist würde ihm mehr entlocken als die schlichte Wahrheit: Die Hungerhilfe kannte nur ein Ziel, und das bestand darin, im Falle einer Katastrophe der Zivilbevölkerung zu helfen.
Der Reporter gab offenbar entmutigt auf. Dr. Hardy wandte sich von ihm ab und kehrte in sein Zelt zurück. Blair wollte sich schon auf den kurzen Rückweg machen, blieb dann jedoch wie erstarrt stehen. Anscheinend hatte der Mann zwischen den Bäumen ihr Haar aufblitzen sehen. Er sprang wieder aus dem Wagen und ging langsam in ihre Richtung.
Schmerzliche, bittere Erinnerungen an die Presse lähmten Blair genau in dem Moment, in dem sie hätte flüchten sollen. Noch hatte der Reporter keine Ahnung, wer sie war, aber wenn er sich weiter näherte …
Kaum konnte sie sich wieder rühren, hielt sie erneut inne – diesmal aus Überraschung.
»Wo wollen Sie hin?«, herrschte eine tiefe Stimme den Journalisten an und ließ ihn erschrocken zusammenfahren.
Blair blickte schnell hinüber zu dem Unbekannten, der die barsche Frage ausgestoßen hatte. Die Stimme des Fremden passte zu ihm – er war so groß, dass sein Kopf an die Dächer der Campzelte reichte. Er starrte den lästigen Besucher mit seinen ungewöhnlichen, goldbraunen Augen an. Der Mann strahlte eine ruhige Stärke aus, und Blair konnte nachvollziehen, warum der Journalist wie angewurzelt stehen blieb.
Plötzlich sah der Fremde in ihre Richtung, und ihre Blicke trafen sich. Ein Lächeln umspielte seine Mundwinkel, dann richtete er seine Aufmerksamkeit wieder auf den Reporter, der gerade erklärte, dass er gern noch einige andere Mitglieder der Gruppe interviewen würde, vor allem die Frau, die im Dschungel verschwunden war.
Blair hörte, wie der Fremde erwiderte, dass die Dame kein Interview wünschte. Irgendetwas lag in diesen Augen, ein Einfühlungsvermögen, das über das hinausging, was er gerade für sie getan hatte. Blair wusste instinktiv, dass sie diesen Mann mögen würde – und zugleich auch fürchten. Sein ganzes Gebaren war so offensichtlich maskulin und selbstsicher, und seine Augen blickten einfach zu wissend.
Blair konnte nicht verstehen, was der Reporter als Nächstes sagte, aber der Fremde begann frech zu grinsen. Sie unterdrückte ein Kichern, als der nun nicht mehr ganz so überhebliche Reporter sich an seinem Gegenüber vorbeidrückte und zu seinem Jeep schlich. Der Motor hustete, stotterte und begann zu dröhnen, unsanft wurde der Gang eingelegt, dann brauste das Fahrzeug zurück in die Richtung, aus der es gekommen war.
Wachsame Augen blickten durch das Unterholz und fanden die ihren. Verwirrt lächelte Blair und trat den kurzen Rückweg an.
Sie blieb vor dem Fremden stehen und lächelte bei dem Gedanken an den überstürzten Abgang des Journalisten.
»Guten Tag, Miss Morgan«, sagte der Mann ungezwungen.
Aus irgendeinem unerfindlichen Grund brachen sie beide gleichzeitig in Gelächter aus. Blair streckte ihm die Hand entgegen und wunderte sich über das beengte Gefühl, das sie auf einmal verspürte.
Er war vielleicht nicht der schönste Mann, der ihr jemals begegnet war – dafür wirkten seine Gesichtszüge viel zu hart –, aber er war zweifellos der bemerkenswerteste. Seine ungewöhnlichen Augen strahlten eine feurige Kraft aus, und sie war sicher, dass niemand, der seinen Blick einmal gesehen hatte, ihn jemals vergessen konnte.
»Ich bin im Nachteil«, erklärte Blair und wurde sich im nächsten Moment der unbeabsichtigten Doppeldeutigkeit dieser Aussage bewusst. »Sie wissen, wer ich bin, aber wer sind Sie eigentlich?«, fragte sie unverblümt.
»Craig Taylor«, antwortete er lächelnd. »Ich hätte mich ja in aller Form vorgestellt, wenn ich nicht zufällig Zeuge Ihres kleinen Problems geworden wäre. Ich bin einer der neuen Helfer.«
»Oh«, stieß Blair hervor und schlug verblüfft die Augen nieder. Ihre dichten, rotbraunen Wimpern senkten sich wie ein Vorhang. Genau wie Dr. Hardy schoss auch ihr durch den Kopf, dass der Mann eigentlich nicht hierher passte, obwohl er im Gegensatz zu dem Reporter offenbar wusste, wie man sich für den Dschungel kleidete. Seine Jeans waren aus schwerem, strapazierfähigem Stoff, sein Arbeiterhemd aus kühlender Baumwolle. Ihr Blick wanderte hinunter zu dem abgewetzten Saum seiner Hosenbeine und verharrte anerkennend auf den robusten Stiefeln.
»Habe ich den Test bestanden?«, erkundigte er sich trocken.
Blair errötete und sah ihm wieder in die Augen, die amüsiert funkelten. Er hatte sie ertappt. »Ja«, entgegnete sie hastig, schnitt dann jedoch eine Grimasse und schickte unverhohlen hinterher: »Nein, denn wenn ich es mir recht überlege, wirken Sie wie eine Mischung aus Tom Selleck und einem übrig gebliebenen Hippie.«
Er lachte entspannt. »Das Erste fasse ich mal als Kompliment auf, und was den übrig gebliebenen Hippie betrifft – pah!«
»Craig!«, schallte es aus dem Sanitätszelt, ehe Blair etwas erwidern konnte.
»Ich glaube, ich werde gerade angepiepst. Bis später, dann können Sie mir noch einmal gebührend danken.« Sein verschmitztes Grinsen versprühte einen umwerfenden Charme. »Schließlich habe ich Sie davor bewahrt, einem Reporter in die Hände zu fallen, und das ist fast schlimmer als der Tod!«
Blair fühlte sich auf einmal in der Defensive und wurde sich schlagartig bewusst, dass ihr der Mann wirklich gefährlich werden konnte. Sie verschränkte die Arme vor der Brust und nahm unbewusst eine stolzere Haltung ein. »Ich weiß Ihr gutes Timing zu schätzen.« Sie runzelte die Stirn. »Aber ich hatte die Situation durchaus im Griff.«
»Daran zweifle ich nicht.«
Verdunkelte sich auf einmal sein Blick? Wurde sein Tonfall ein wenig bitter? Nein, er lächelte immer noch lässig.
»Schon gut, ich habe etwas übertrieben«, gab er scherzhaft zu. »Sehen wir uns beim Abendessen?«
»Uns wird nichts anderes übrig bleiben.«
»Hier essen alle gemeinsam, wie?«
»Mehr oder weniger ja.«
Craig rieb sein stoppeliges Kinn, als sei er tief in Gedanken versunken. »Halten Sie mir bitte einen Stuhl oder ein Fleckchen auf dem Boden neben Ihnen frei.«
Blair lächelte und entspannte sich angesichts dieser ernst vorgetragenen Bitte. Zugegeben – er war ziemlich attraktiv. Sie konnte nicht leugnen, dass sie in seiner Gegenwart Herzklopfen bekam. Seit langer Zeit hatte kein Mann mehr eine so unmittelbare Reaktion in ihr hervorgerufen. Wenn sie klug war, würde sie ihm aus dem Weg gehen, denn diese Begegnung weckte schlummernde Gefühle …
Aber im Camp war es so gut wie unmöglich, jemandem aus dem Weg zu gehen, dachte sie im Stillen. Trotz der Tragödie, die ihrer märchenhaften Ehe ein abruptes Ende bereitet hatte, betrachtete sie sich nicht als emotionalen Krüppel. Craig Taylor war ein faszinierender Mann, den sie gern näher kennen lernen wollte.
»Aber sicher«, erklärte sie, und die Röte ihrer Wangen strafte ihren nonchalanten Tonfall Lügen. »Ich werde Ihnen einen Platz reservieren.«
»Vielen Dank«, sagte er grinsend, hielt kurz inne und fügte dann hinzu: »Und falls Sie mir beim Essen erzählen, was Blair Morgan an einem gottverlassenen Ort wie diesem macht, verrate ich Ihnen auch, warum Craig Taylor hier ist.«
»Nun, wir werden sehen«, erwiderte Blair ausweichend.
»Das werden wir, nicht wahr?« Er winkte lässig und schlenderte gemächlich davon.
Blair sah ihm nach und versuchte, ihr Unbehagen zu begreifen. Sie fühlte sich erschreckend heftig zu Craig Taylor hingezogen. Doch hinter seiner Lässigkeit und dem lockeren Geplänkel spürte sie eine Spannung, die sie einfach nicht einordnen konnte.
Er war eindeutig ein intelligenter Mann, dessen Blick nichts entging, aber auch ein Mann der Tat, mit einer starken körperlichen Ausstrahlung.
Was tat er hier im Dschungel? Ob die Geschichte, die sie am Abend von ihm hören würde, wohl eher der Wahrheit entsprach als diejenige, die sie ihm erzählen würde?
Offenbar wusste er, dass sie Ray Teiles Witwe war. Warum hätte er sie sonst vor dem Reporter abgeschirmt? Und er wirkte nicht wie ein Journalist auf der Jagd nach einem Knüller. Interessierte er sich womöglich für sie?
Vielleicht wusste er ja von ihrem Vater?
Blair kam zu dem Schluss, dass der Abend interessant zu werden versprach.