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Kapitel 3

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Blair erwachte im Morgengrauen mit einem Gefühl von Panik. Im Nachhinein wurde sie sich ihres eigenen Verhaltens erst richtig bewusst.

Na gut, da war etwas zwischen ihnen. Na schön, es fühlte sich herrlich an.

Aber – sie hatte sich ihm praktisch an den Hals geworfen. Er musste gespürt haben, dass er sie vollkommen in der Hand gehabt hatte. Er war derjenige gewesen, der die Kontrolle behalten und sich beherrscht hatte. Was mochte er nun über sie denken? Bei der Vorstellung, ihm im Licht des Tages entgegentreten zu müssen, wich plötzlich alle Farbe aus ihrem Gesicht. Ihre Gedanken drehten sich um diese Begegnung.

Sie warf einen Blick in den kleinen, rahmenlosen Spiegel, der neben ihrem Feldbett lehnte, und zog eine Grimasse. Also wirklich, Blair! Was willst du eigentlich?

Sie wusste keine Antwort und schüttelte unwillig den Kopf. Das ist ja auch egal, oder? So oder so, ich kann ihm nicht aus dem Weg gehen!

Die Begegnung mit Craig erwies sich als unkompliziert. Er war der erste Mensch, den sie an diesem Morgen sah. Während er mit bloßem Oberkörper vor seinem Zelt stand und sich rasierte, zeigte jede Bewegung der Muskeln unter seiner bronzefarbenen Haut, dass kein Gramm Fett an ihm war. Sein Spiegel war ebenso klein wie Blairs und steckte in der Einkerbung eines Pfostens, der genau zu diesem Zweck aufgestellt worden war.

Als Craig sie bemerkte, begann er unter dem Rasierschaum zu lächeln. Es war ein warmes, aufrichtiges Lächeln, das Bände sprach. Ja, da war etwas zwischen ihnen, und sein Gesichtsausdruck leugnete es nicht. Sein zärtlicher Blick schien die Morgenkühle zu vertreiben.

»Guten Morgen«, sagte er, schnitt eine Grimasse, hob kurz die Hand mit dem Rasiermesser und fügte hinzu: »Eigentlich kann ich das ganz gut, aber heute Morgen sind meine Hände ein bisschen zitterig.«

Blair kicherte leise. »Du siehst nicht gerade aus wie der zitterige Typ.«

»Das bin ich normalerweise auch nicht«, bekräftigte er.

Plötzlich hatte Blair das Gefühl, dass alles gut werden würde. Vielleicht spürte er ihre Ängste und Bedenken oder war einfach genauso verwirrt von seinen Empfindungen wie sie. Auf jeden Fall hatte er sich nicht von ihr distanziert, sondern sich nur zurückgehalten. Einige wenige ehrliche Worte, die ohne Unbehagen oder Verlegenheit ausgesprochen wurden, ein Blick, und auf einmal schienen ihre Fragen beantwortet zu sein. Da beide dasselbe wollten, würden sie sich Zeit lassen. So einfach war das.

Blair murmelte: »Ich würde dir ja gern helfen, aber damit würde ich dir wahrscheinlich keinen Gefallen tun. Ich bin heute nämlich selbst etwas zitterig.«

Er lachte und sah ihr tief in die Augen. Blair empfand allein diesen Blick als Liebkosung.

»Ich glaube, wir sind die Ersten«, bemerkte sie. »Dann werde ich mal Kaffee aufsetzen.«

Craig grinste. »Das habe ich schon erledigt, und er müsste jetzt auch durchgelaufen sein. Bringst du mir eine Tasse mit?«

»Aber gern.« Blair lächelte zurück und ging zum Küchenzelt. Es war erstaunlich, was er mit ihr anstellte, dachte sie und schmunzelte verträumt.

Sie hatte ihre Arbeit bei der Hungerhilfe immer genossen – die Kameradschaft unter den Kollegen, das Zusammentreffen mit verschiedenen Nationalitäten, das Gefühl, etwas Nützliches zu leisten. Doch erst jetzt und durch Craig Taylor erkannte sie, dass die Arbeit niemals jenen wichtigen Teil ihres Daseins hatte ersetzen können, den sie mit Rays Tod verloren hatte. Sie erkannte es, weil sie ihn nun plötzlich wiedergefunden hatte – den Funken Begeisterung, mit dem jeder neue Tag und jede Aufgabe begann. An diesem Morgen schmeckte sie die klare, frische Luft, roch das köstliche Aroma des Kaffees und horchte auf all die Geräusche, die das Leben im Camp und der Dschungel mit sich brachten.

Ihre Sinne hatten sich einer neuen Dimension von Glück geöffnet.

»Tja, Mr Taylor, so ganz traue ich dir immer noch nicht«, murmelte sie in sich hinein und schenkte Kaffee in zwei Tassen. Dann schloss sie kurz die Augen und sah ihn wieder vor dem Spiegel stehen – seine schmalen Hüften, seine muskulösen Oberschenkel in der engen Jeans … »Aber ich bin froh, dass es dich gibt.«

Sie riss sich aus der Träumerei und brachte ihm seinen Kaffee.

An diesem Morgen bestimmte Craig das Tempo für die folgenden Tage. Er hatte offenbar keine Bedenken, dass sie den größten Teil ihrer Freizeit miteinander verbrachten, und hielt sich dennoch weiterhin zurück.

Es war eine ungezwungene Beziehung, in der sich beide wohl fühlten. Blairs anfängliche Nervosität ebbte ab, nachdem ihr klar wurde, dass er nichts von ihr verlangen würde, was sie nicht zu geben bereit war. Und in dieser Hinsicht kannte er sie vielleicht besser als sie sich selbst.

Nichtsdestotrotz hatte sie Angst. Ihr Gefühl sagte ihr, dass sie unvermeidlich auf einen Ausbruch reiner, körperlicher Sinnlichkeit zusteuerten. Doch da sie das Unvermeidliche akzeptierte, sich sogar danach sehnte, und die Verbindung zwischen ihnen immer stärker wurde, ließ auch die Angst langsam nach.

Er verführt mich dazu, ihm zu vertrauen, schoss es ihr eines Tages durch den Kopf. Blair wurde den Gedanken nicht los, dass etwas nicht stimmte, dass die Teile einfach nicht zusammenpassten. Aber als sie Craig Tag für Tag unermüdlich und mit vollem Einsatz arbeiten sah, stumpfte ihr Argwohn allmählich ab. Sie konnte nicht glauben, dass seine Bemühungen in irgendeiner Weise unaufrichtig waren.

Die Dorfkinder hatten sich dem goldäugigen Hünen gegenüber zuerst scheu und ängstlich verhalten, doch nun scharten sie sich um ihn. Er erwiderte ihre offene Zuneigung mit stillem Interesse, und schnitzte gelegentlich Spielzeug für sie, ehe er sie wieder nach Hause schickte. Sein Wort war allerdings Gesetz, wie Blair schnell bemerkte. Wenn er etwas sagte, gehorchten ihm die Kinder sofort.

Eines Spätnachmittags, zwei Wochen nach seiner Ankunft, beobachtete sie Craig versonnen vom Schutz des Sanitätszeltes aus, als plötzlich Dr. Hardy neben sie trat.

»Spionierst du dem Mann immer noch hinterher?«, fragte er unverblümt und zog schmunzelnd seine buschigen Augenbrauen in die Höhe. »Ich habe eigentlich gedacht, dass es zwischen euch beiden recht gut läuft. Ich habe noch keinen Abend erlebt, an dem ihr zwei nicht in ein Gespräch vertieft ward!«

Blair errötete leicht. »Ich spioniere ihm nicht nach, Tom. Ich beobachte ihn nur.«

»Und zwar ständig«, bemerkte Tom scharfsinnig und lachte leise. »Aber das ist wohl nur fair, schließlich beobachtet er dich auch andauernd.«

»Wirklich?«, fragte Blair erstaunt. Ihr war nicht aufgefallen, dass Craig ihr heimliche Blicke zuwarf.

Tom quittierte ihren Ausruf mit einem breiten Grinsen. »Ich habe dir doch gleich gesagt, dass er sich zu dir hingezogen fühlt, aber das weißt du inzwischen wohl besser als ich. Und ich gehe jede Wette ein, dass seine Gefühle erwidert werden. Oder täusche ich mich da?«

Blair widersprach ihm nicht, runzelte jedoch die Stirn. »Aber warum beobachtet er mich?«, fragte sie sich laut und sah dem Arzt in die Augen. »Kommt dir das nicht auch ein bisschen verdächtig vor?«

»O Blair!«, stieß er amüsiert hervor. »Ich kann nicht glauben, dass du immer noch versuchst, Craig Taylors Geheimnis zu ergründen. Nein, er kommt mir nicht verdächtig vor, sondern wie ein ganz normaler Mann. Und kannst du mir mal verraten, warum ich es verdächtig finden soll, dass er dich beobachtet, aber nicht, dass du ihn unausgesetzt belauerst?«

Blair musste sich widerstrebend eingestehen, dass Tom nicht ganz Unrecht hatte, und verzog das Gesicht.

»Taylor ist ein Geschenk des Himmels«, erklärte der Arzt rundheraus. »Selbst wenn er nur ein paar Monate bliebe, würde ich mich glücklich schätzen. Dank seiner Arbeit sind wir dem Zeitplan schon eine ganze Woche voraus.« Er schüttelte den Kopf angesichts dieses Wunders. »Es ist mir ziemlich egal, ob der Mann etwas zu verbergen hat. Ich weiß, was ich an ihm habe.«

Blair zuckte mit den Schultern. »Wahrscheinlich hast du Recht.«

»Frauen!«, schnaubte er augenzwinkernd. »Du verbringst Stunden mit ihm und kennst ihn besser als jeder andere von uns und misstraust ihm immer noch? Worüber redet ihr denn die ganze Zeit?«

»Ach, über alles Mögliche«, antwortete Blair vage. Dann erlaubte sie sich, Toms Zigaretten aus seiner Hemdtasche zu fischen. Sie reichte ihm eine, bediente sich selbst und zündete beide mit einem altersschwachen Plastikfeuerzeug an, bevor sie fortfuhr. »Craig ist sehr viel gereist. Wir unterhalten uns über die verschiedenen Länder und Bräuche. Und über Musik und Kunst.« Sie hielt inne und runzelte erneut die Stirn.

»Was ist denn?«

»Er spricht auffallend gut Spanisch, findest du nicht?«

»Na und? Wir alle sprechen Spanisch! Es ist nicht schwer, die Sprache aufzuschnappen, wenn man sie den ganzen Tag lang hört!«

»Das stimmt, aber sein Spanisch war schon perfekt, als er hier ankam.«

Dr. Hardy seufzte und ließ sich müde auf sein Feldbett sinken. »Blair, auch ich konnte Spanisch, bevor ich herkam. Taylor hat eben eine Begabung für Fremdsprachen. Du selbst doch auch …«

»Was meinst du mit Fremdsprachen? Wie viele Sprachen spricht er denn genau?«

Der Arzt zuckte die Achseln. »Fließend nur fünf, soweit ich weiß.«

»Nur fünf?«

Wieder zuckte er die Achseln. »Ich habe davon erfahren, weil wir kürzlich einen Brief von einem deutschen Korrespondenten bekommen haben und eine Übersetzung brauchten. Taylor hat für eine Weile in Deutschland gelebt. Er lernt schnell. Ich habe es dir nicht erzählt, weil ich wusste, was du gedacht hättest.«

»Tja, ich hatte mein Misstrauen schon fast verloren«, erwiderte Blair trocken, »aber jetzt feiert es gerade ein furioses Comeback.«

»Bloß weil der Mann aussieht wie Herkules und zufällig auch noch intelligent ist?«

»Womit wir wieder am Anfang wären! Ich kann dir mein Gefühl einfach nicht erklären.«

»Ich kann dir sagen, was du fühlst, junge Dame«, sagte der Arzt in strengem Tonfall. »Etwas völlig Normales, das du akzeptieren solltest, anstatt dagegen anzukämpfen. Du magst Taylor, du magst ihn sehr. Und das macht dir eine Heidenangst, also suchst du nach einer Ausflucht, um dich zu schützen. Du brauchst keinen Schutz, Blair. Du musst einfach mal loslassen und das Risiko eingehen.«

Blair kaute für einen Augenblick stumm auf ihrer Unterlippe herum. Hatte der Doc Recht? Versteckte sie sich hinter diesen eingebildeten Verdächtigungen, weil sie irgendwann einmal beschlossen hatte, dass Liebe Leiden bedeutete? »Ich akzeptiere es, Doc«, sagte sie schließlich leise. »Du hast doch eben gesagt, dass dir aufgefallen ist, dass ich jede freie Minute mit ihm verbringe.«

»Ja, das stimmt.« Tom lächelte weise. Dann stand er auf und drückte seine Zigarette in dem Aschenbecher auf seinem Nachttisch aus. »Wie dem auch sei, du bist hier diejenige, die Psychologie studiert hat, du weißt am besten, wie es in dir aussieht. Allerdings müssen wir wohl nicht erst Freud bemühen, um diese Situation zu analysieren …« Lachend wuschelte er ihr durchs Haar. »Und jetzt schlage ich vor, du nimmst dein Bad, bevor die männlichen Mitglieder des Teams ungeduldig werden. Kate ist schon längst weg, und es war wirklich ein heißer Tag. Lass einen alten Knacker wie mich nicht zu lange auf seine wohlverdiente Abkühlung warten!«

Blair und Kate plauderten träge miteinander und genossen das erfrischende Wasser. Wie üblich war Kate diejenige, der zuerst kalt wurde. »Das werde ich nie kapieren!«, stöhnte sie, kroch hinaus und wickelte sich mit klappernden Zähnen ihr Handtuch um die Schultern. »Erst ist mir so heiß, dass ich mich in einen Kühlschrank legen könnte, und jetzt will ich nur noch eine Tasse Kaffee, um mich aufzuwärmen!«

Blair kicherte. »Dann lauf schon mal zurück. Ich komme gleich nach.«

Kate warf ihrer Freundin einen unbehaglichen Blick zu. »Ich möchte dich aber nicht allein lassen.«

»Meine Güte!«, rief Blair. »Was soll mir denn passieren? Außer im Camp ist hier doch meilenweit keine Menschenseele. Nun geh schon!«

»Na gut«, erwiderte Kate lächelnd. Ihre Augen funkelten verschmitzt. »Da ich keine anderen Aufwärmmöglichkeiten habe, werde ich jetzt also zu meinem Kaffeebecher zurückkehren.«

»Was soll das denn heißen?«, erkundigte sich Blair lachend.

»Tja, wenn Taylor sich bereit erklären würde, mich zu wärmen …«

»Kate!«, rief Blair stirnrunzelnd. »Craig ist nur ein Freund. Und er ist auch dein Freund.«

»Das ist ja das Problem.« Kate seufzte. »Für mich ist er nur ein Freund, Punkt. Für dich möchte er allerdings sehr viel mehr sein.«

Blair zuckte mit den Schultern. Alles abzustreiten wäre lächerlich gewesen, dazu standen sie und Kate einander zu nahe. »Ich weiß nicht«, murmelte sie ernst. »Vielleicht ist es sogar besser, mit einem Mann wie Craig nur befreundet zu sein. Er wird eines Tages weiterziehen, verstehst du?« Sie blickte ihre Freundin ein wenig wehmütig an. Unabsichtlich hatte sie sich eine Wahrheit vor Augen geführt. Craig würde in der Tat weiterziehen. Er hatte selbst zugegeben, dass sich sein Lebensstil mit langfristigen Bindungen nicht vereinbaren ließ. War das der Grund, warum sie ständig versuchte, an ihm Fehler zu finden? Sie hatte die Liebe kennen gelernt, aber diese Liebe hatte in einem qualvollen Verlust geendet. Fürchtete sie, dass sich der Funke, der zwischen ihr und Craig entfacht war, unweigerlich zu einem Flächenbrand ausweiten und sie verbrennen würde? Fürchtete sie sich vor dem Gefühl Craig zu brauchen, weil sie wusste, dass er sie zwar liebte, eines Tages aber trotzdem verlassen würde?

Nein … Sie wusste, worauf sie sich einließ und dass eine körperliche Beziehung keine Verpflichtung nach sich zog. Sie akzeptierte ihre Sehnsucht danach, die Liebe wieder zu erleben, auch wenn sie vielleicht nur körperlich und nicht für die Ewigkeit war. Womöglich begegnete sie nie wieder jemandem wie Craig Taylor, würde sich niemals von der Vergangenheit befreien und ein neues Leben beginnen können.

»Unterschätze dich nicht«, empfahl ihr Kate.

Blair, die bis zur Taille im Wasser stand, die Kälte jedoch nicht spürte, bemerkte plötzlich, dass ihre Freundin zitterte. »Ich unterschätze gar nichts!«, entgegnete sie. »Würdest du jetzt bitte gehen? Ich kann nicht mit ansehen, wie du direkt vor meiner Nase blau anläufst. Ich komme sofort nach, okay?« Zum Beweis watete sie zum Ufer und griff nach ihrem Handtuch.

»Bin schon weg«, sagte Kate und zog den Reißverschluss ihrer Jeans hoch. »Ich bringe dir gleich eine Tasse Kaffee zum Zelt.«

»Danke«, rief Blair ihr nach. Dann rubbelte sie mit dem Handtuch energisch ihre langen Locken, bis sie halbwegs trocken waren, und wollte sich den groben Stoff gerade um die Schultern legen, als sie mitten in der Bewegung innehielt.

Sie hatte weder etwas gehört noch etwas gesehen, aber plötzlich das unheimliche Gefühl, dass jemand sie beobachtete. Sie wickelte sich in das Handtuch und musterte wachsam die umliegenden Sträucher.

Da war nichts. Nur Gras, Büsche und Bäume, deren Blätter hin und wieder in der leichten Brise raschelten. Die einzigen anderen Geräusche waren das Rauschen des Wassers und ihr eigener Herzschlag.

Blair schüttelte gereizt den Kopf, trocknete sich rasch ab und schlüpfte in ihre Kleidung. Doch während sie ihre Bluse zuknöpfte, hielt sie noch einmal inne und spähte angestrengt auf die Wand aus Grün.

Wieder gab es nichts zu sehen, nichts zu hören.

Aber das Gefühl war ihr vertraut, es war wie ein zusätzlicher Sinn, den die meisten Menschen irgendwann im Laufe ihres Lebens entwickeln. Sie hatte eine Ahnung, die an Sicherheit grenzte, dass Augen auf sie gerichtet waren.

»Was ist in letzter Zeit nur mit mir los«, murmelte sie ungeduldig. Vielleicht ging ja bloß die Fantasie mit ihr durch und sie fand deshalb alles verdächtig und bildete sich ein, beobachtet zu werden. Wütend auf sich selbst und ihre Irrationalität schloss sie die letzten Knöpfe, warf das Handtuch über die Schulter und folgte Kate zurück zum Camp. Dabei fiel ihr wieder ein, dass der arme Doc auf grünes Licht wartete, um auch ein Bad zu nehmen.

Blair war in der Tat beobachtet worden, doch keineswegs von einem glücklichen Späher.

Craig war wieder zu einem Teil des Dschungels, des flüsternden Raschelns der Blätter geworden – zu einem Voyeur voller Unmut über seine Situation. Schon am ersten Tag, als er abends zum Bach geschlichen war, hatte er sich elend gefühlt, aber nichts ließ sich mit den Qualen vergleichen, unter denen er jetzt litt. Er kannte diese Frau nun, er begehrte sie – ihre Seele, ihren Verstand, ihr Wesen, nicht nur ihren verführerischen Körper.

Es kam ihm vor, als verbringe er sein halbes Leben regungslos im Unterholz, jeden Muskel angespannt, die Lippen zusammengepresst zu einem dünnen Strich.

Wenn das noch lange so weitergeht, drehe ich durch, dachte er verbittert. Himmel! Und diese Frau wusste gar nicht, dass jede ihrer Bewegungen ein Bild der Anmut und ihre kleinste Geste voller Sinnlichkeit war. Er versuchte jeden Abend, die Augen zu schließen, wenn sie wie Venus dem Wasser entstieg, die Tropfen über ihre seidige, makellose Haut perlten und manchmal verzaubert auf einer ihrer rosigen Brustwarzen verweilten. Doch geschlossene Augen nutzten nichts, denn ihre Gestalt hatte sich in sein Gedächtnis eingebrannt: herrliche, volle, feste Brüste, eine schmale Taille, die er beinahe mit zwei Händen umfassen konnte, schlanke Hüften – sie war faszinierend, geheimnisvoll und verlockend.

Blair konnte nicht ahnen, welche Folterqualen ihm ihr tägliches Bad bereitete. Aber er musste ständig auf sie aufpassen und ihr daher auch zum Bach folgen.

Normalerweise gestaltete sich seine Aufgabe leicht. Im Camp arbeiteten Blair und er eng zusammen, und sobald er ihren Tagesplan kannte, war es ein Kinderspiel, für sie »den Babysitter zu spielen«. Der Chief hatte nicht ganz Unrecht gehabt, als er von einem bezahlten Urlaub gesprochen hatte. Craig genoss es, ihr beim Arbeiten zuzusehen. Er hatte das Gefühl, sie jeden Tag besser kennen zu lernen, indem er sie beobachtete und sich abends mit ihr unterhielt. Er liebte ihr besorgtes, ernstes Stirnrunzeln, wenn sie mit einem Problem konfrontiert wurde, und ihr schönes, warmherziges Lächeln, wenn sie sich um die Dorfkinder kümmerte.

Im Grunde liebte er es auch, sie während ihres Bades zu beobachten, doch diese Tatsache machte es nur noch schlimmer. Ihm lag zu viel an ihr, als dass er ihr heimlich hinterher spionieren wollte. Er wollte, dass Blair frei und unbeschwert im Wasser planschte, obwohl sie wusste, dass er dort war. Er wollte ihre Ausgelassenheit mit ihr teilen.

Es wäre möglich, sagte er sich selbst und knirschte dann mit den Zähnen. Sie war Huntingtons Tochter und er hatte einen Auftrag. Zum ersten Mal in seinem Leben war er nicht dazu fähig, die Gelegenheit einfach rein um der Lust willen beim Schopfe zu packen. Er wagte es kaum, sich seine Gefühle einzugestehen, aber sie waren unverkennbar da.

Und da er sich beherrschen konnte, würde er es tun. Der Fehler, den er am allerersten Tag begangen hatte, würde sich nicht wiederholen. An jenem Tag hatte er sich durch das Vertrauen, das sie ihm so bereitwillig schenkte, dazu verleiten lassen, die Kontrolle zu verlieren.

Sein Auftrag verdammte ihn zu diesem beschämenden Voyeurismus. Blair musste auch und gerade am Bach bewacht werden. Falls jemand eine Entführung plante, wäre dies der perfekte Ort und die perfekte Zeit. Sie kam oft allein her, und der Bach war weit genug vom Camp entfernt.

Craig holte tief Luft und folgte ihr durch die nun rasch hereinbrechende Dunkelheit zurück zum Lager. Am Rande der Lichtung schlug er einen Bogen, damit es so aussah, als käme er aus der entgegengesetzten Richtung, und erreichte gleichzeitig mit Blair das Lagerfeuer.

»Hallo«, begrüßte er sie und Kate, die bereits vor ihnen eingetroffen war. Doch sein Blick galt ausschließlich Blair. Er versuchte nicht, seine Bewunderung zu verbergen, war jedoch froh, dass sie das wahre Ausmaß dieser Bewunderung nicht kannte.

Blair lächelte und wunderte sich darüber, dass seine außergewöhnlichen Augen so viel Gefühl verrieten und dennoch absolut nichts preisgaben.

»Kaffee?«, erkundigte sich Kate.

»Sehr gern, danke.« Craig nahm den dampfenden Becher von ihr entgegen und fuhr ihr kurz durch das Haar. Blair bemerkte erstaunt, dass diese harmlose, kameradschaftliche Geste Eifersucht in ihr auslöste. Keine gehässige Eifersucht – Kate war ihre Freundin und grundehrlich. Nein, es war ein merkwürdiger Anflug von Neid, als bekomme sie selbst nicht genug Aufmerksamkeit von Craig, um sie großzügig mit anderen zu teilen.

Das Gefühl ging vorüber, und Craig wandte sich wieder an Blair. »Darf ich voraussetzen, dass wir heute Abend zusammen speisen, Mrs Morgan?«

Blair zuckte mit den Schultern, konnte ein Lächeln jedoch nicht unterdrücken. »Wir dürfen doch alle voraussetzen, dass wir zusammen speisen, Mr Taylor!«, belehrte sie ihn.

»Ich glaube, das war mein Stichwort!«, warf Kate grinsend ein. »Drei an einem Tisch sind einer zuviel!«

»Kate!«, protestieren Blair und Craig einstimmig, dann fügte Blair hinzu: »Sei doch nicht albern. Wir dinieren nicht im Vier Jahreszeiten, sondern essen Brei aus ein und demselben Topf!«

»Das ist doch egal, oder?«, fragte Kate auf ihre gewohnt direkte Art. »Außerdem muss ich Dolly suchen. Sie will mir vor dem Essen noch etwas über einen neuen Impfstoff erzählen. Guten Appetit!«

Blair blickte Kate betroffen nach. War es so offensichtlich, dass sie und Craig es genossen, allein zu sein? Zumindest so allein, wie es im Camp möglich war? Sicher, das Team aß gemeinsam, aber wie auf eine geheime Absprache hin wurden Craig und Blair meist taktvoll sich selbst überlassen. Manchmal kamen sie sich tatsächlich vor wie bevorzugte Gäste eines Nobelrestaurants. Obwohl sie nicht bei Kerzenlicht an einem romantischen Ecktisch saßen, blieb ihnen doch die Intimität, die der dunkle Dschungel und die bernsteinfarbene Glut des Feuers boten.

»Darf ich?«, fragte Craig, neigte höflich den Kopf und wies auf den Topf mit ›Brei‹. Blair nickte und folgte ihm. Während er für sie den wässerigen Eintopf auf einen Teller schöpfte, verzogen sich seine sinnlichen Lippen zu einem ironischen Lächeln.

Blair sagte kein Wort, bis sie sich unter dem Baum niedergelassen hatten, den sie beide im Stillen als ihren Platz bezeichneten. Dann rückte sie mit der Frage heraus, die ihr seit dem Gespräch mit Doktor Hardy auf den Nägeln brannte.

»Ich habe gehört, dass du fünf Sprachen sprichst, und zwar fließend. Das sind ja ziemlich viele – wie kommt es, dass du ein solches Sprachgenie bist?« Sie starrte ihn aufmerksam an, doch seine Augen verrieten nicht das Geringste, sondern erwiderten lediglich ihren forschenden Blick.

»Ich mag Sprachen einfach«, antwortete er. »Es fällt mir leicht, sie zu lernen.«

»Aber gleich fünf!?«

Er zuckte mit den Achseln. »Das ist eigentlich keine große Leistung. Ich bin in Südkalifornien aufgewachsen und habe Spanisch von den mexikanischen Nachbarskindern aufgeschnappt. Ich hatte eine italienische Großmutter, und wenn man Spanisch kann, ist Italienisch ein Klacks. Die meisten Unterschiede liegen bloß in der Betonung.« Lächelnd fuhr er fort: »Während meiner Militärzeit habe ich zwei Jahre in Deutschland verbracht und mir die Sprache dabei sozusagen einverleibt, ohne wirklich lernen zu müssen.«

»Rede ruhig weiter«, forderte Blair ihn auf. »Zusammen mit Englisch sind das erst vier.«

Craig zögerte für den Bruchteil einer Sekunde, was Blair jedoch entging. Er wusste, dass sie ihm gegenüber ein gewisses Misstrauen hegte, doch sein jahrelanges Training leistete ihm gute Dienste. Sie bemerkte nicht, dass sein ungezwungenes Grinsen nur gespielt war.

»Französisch«, erklärte er laut, obwohl er lediglich über Grundkenntnisse dieser Sprache verfügte. Aber er konnte wohl kaum verkünden, dass er fließend Russisch sprach, denn dann hätte Blair ihn garantiert mit Fragen gelöchert. Russische Kinder hatte es in Südkalifornien nicht gegeben.

»Oh?«

Offenbar erwartete sie eine Erklärung. Nun tat es ihm Leid, dass er den Brief für Tom Hardy übersetzt hatte, doch der arme Doc war vollkommen ratlos gewesen, und Craig hatte es nicht für problematisch erachtet, ihm aus der Verlegenheit zu helfen. Er versuchte, sich während seiner Anwesenheit im Camp so nützlich wie möglich zu machen, denn er hielt die Hungerhilfe für eine sehr verantwortungsbewusste Organisation, und dass er wegen seines Auftrags hier eine Rolle spielen musste, gefiel ihm gar nicht.

»Ich bin viel gereist«, sagte er schlicht. »Das weißt du doch. Französisch gefiel mir, deshalb habe ich es in der Schule als Wahlfach belegt. Und wenn man einige Male mit dem Rucksack durch Frankreich trampt, kann man sein Schulfranzösisch schnell verbessern.«

Blair fand es erstaunlich, dass ein Mann mit dermaßen kantigen, strengen Gesichtszügen sie durch sein blendendes Lächeln so verzaubern konnte. Wie immer, wenn sie zusammen waren, schmolzen ihre Vorbehalte im warmen Leuchten dieses Lächelns dahin. Nun lachte er und rückte näher, bis sein Gesicht nur noch wenige Zentimeter von ihrem entfernt war und sein Atem ihre Haut streichelte.

»Wahrscheinlich bin ich bloß ein in die Jahre gekommener Hippie. Es war mein Lebenstraum, um die Welt zu reisen, und da ich das nötige Kleingeld hatte, habe ich es getan.«

»Das ist schön«, murmelte Blair und vergaß die Fragen, die sie ihm eigentlich stellen wollte. Wenn Craig sich auf diese Weise zu ihr beugte, dachte sie nicht an die Zukunft oder an seine Vergangenheit. Dann zählten nur noch die unmittelbare Gegenwart und ihr Wunsch, seine Lippen wieder auf den ihren zu spüren, während sich die brennende Sehnsucht tief in ihrem Inneren ausbreitete, die Sehnsucht nach der Erfüllung, die Craig ihr eine Woche zuvor versagt hatte. Der Impuls wurde übermächtig, alles andere zu vergessen und sich in seine Arme zu werfen, zu fragen, warum er sich zurückhielt, zu fordern, er solle ihr die Angst nehmen, dass er sie nicht im gleichen Maße begehrte wie sie ihn.

Craig war ebenso ein Gefangener seiner Gefühle wie sie. Es hatte keine Bedeutung mehr, dass sie sich immer noch in Sichtweite der anderen befanden. Blairs Lippen waren leicht geöffnet, so nah und einladend. Er wusste, wie sie sich anfühlen würden, wenn er ihnen noch ein Stück entgegenkam. Er kannte den süßen Geschmack ihres Mundes. Nur noch ein Stück … ein kleines Stückchen …

Blair schoss flüchtig durch den Kopf, dass er die Macht besaß, ihren Atem selbst aus einer Meile Entfernung schneller gehen zu lassen, ihr Blut zum Kochen zu bringen, ihren ganzen Körper in zitternde Erwartung zu versetzen. Ohne sie zu berühren, entfesselte er bereits Naturgewalten. Das Feuer tanzte, die Sterne schienen zu beben, sogar der Boden begann zu schwanken.

»Verdammt!«

Plötzlich schlang er die Arme um sie, aber nicht aus Zärtlichkeit oder unbezähmbarem Verlangen. Die Erde bewegte sich, und die Ursache war keineswegs Craig Taylor.

»Ein Erdbeben!«, hörte Blair jemanden am Lagerfeuer rufen. Sie rollte in Craigs Armen über den heftig zitternden Boden, und während sie sich immer wieder überschlugen, drehten sich auch die Gedanken in ihrem Kopf, bis ihr auf einmal klar wurde, was gerade geschah. Der Baum, unter dem sie gesessen hatten, ihr Baum, schwankte und krachte schließlich keinen Meter neben ihnen zu Boden.

Schreie hallten durch die Nacht und dann brach die Hölle los. Blair wurde von elementarer Angst erfasst. Seit ihrer Ankunft in Mittelamerika hatte sie schon viele Erdstöße erlebt, aber mit diesem Beben waren sie nicht zu vergleichen. Erschütterung folgte auf Erschütterung, und das dröhnende Geräusch, das beim Umstürzen der Bäume im Dschungel entstand, war wie eine Kakophonie aus Trommelwirbeln.

Blair spürte, wie die festgestampfte Erde unter ihr aufriss. Doch Craig war bei ihr. Sein Körper bedeckte den ihren, seine breiten Hände umfassten ihren Kopf und schützten ihn. Sie fühlte seine Anspannung, seinen Herzschlag, der im gleichen Takt hämmerte wie ihrer und ihr ein eigenartiges Gefühl von Sicherheit vermittelte.

Zelte wackelten und brachen zusammen, und immer noch bebte die Erde. Die Sterne am Himmel zuckten Schwindel erregend hin und her wie asynchrone Fernsehbilder. Das Rumpeln steigerte sich zu einem Brausen.

Und hörte in der nächsten Sekunde so schlagartig auf, wie es begonnen hatte.

»Alles in Ordnung?«

Craigs besorgtes Gesicht schwebte über ihr und der Druck seiner Finger auf ihrer Kopfhaut ließ langsam nach.

»Alles klar …«, stieß sie keuchend hervor, und schon im nächsten Augenblick sprang er auf die Füße, zog sie hoch, griff nach ihrer Hand und rannte zur Mitte des Camps.

Erst dort ließ er sie los. Dann übernahm er mit energischer Autorität das Kommando, erteilte dem Team mit fester, ruhiger Stimme Anweisungen und überprüfte gleichzeitig, ob es Verletzte gab.

Zum Glück beschränkten sich die körperlichen Blessuren der Gruppenmitglieder auf Prellungen, Abschürfungen und Schrammen. Craig verkündete, dass es sich nicht um ein Erdbeben, sondern tatsächlich nur um heftige Erdstöße gehandelt hatte.

Die Mitglieder des Teams gerieten nicht leicht in Panik und reagierten auf der Stelle auf Craigs sicheren, beherrschten Tonfall, indem sie schnell und effizient mit der Notfallprozedur begannen.

»Juan und Kate, ihr lauft mit den Erste-Hilfe-Kästen ins Dorf. Dolly, du bereitest alles für Schwerverletzte vor. Blair –« Craigs Blick fiel auf sie.

»Ich begleite Juan und Kate«, unterbrach sie ihn. »Ich kenne die Kinder am besten –«

»Nein!« Der Einspruch klang selbst angesichts der Situation überraschend scharf. Craigs Augen hatten noch nie so gefährlich gefunkelt, sie ähnelten zwei züngelnden Flammen, die jeden Moment außer Kontrolle geraten konnten. Doch kurz darauf war das Feuer erloschen, als hätte es nie existiert, und seine Stimme wurde weicher. »Wir brauchen dich hier im Sanitätszelt bei Tom. Falls einige der Kinder verletzt sind und hierher kommen …«

Blair hatte keine Möglichkeit, der Anordnung zuzustimmen oder sich zu weigern. Nachdem Craig noch einige allgemeine Anweisungen erteilt hatte, stürmten die Mitglieder des Teams in verschiedene Richtungen davon, um ihre Aufträge auszuführen.

Vor ihnen lag eine lange Nacht.

Der Wiederaufbau der Zelte stand für diejenigen, die im Camp blieben, als Erstes auf dem Programm. Auch hier hatte Craig die Situation sofort im Griff. Er bat die anderen, gemeinsam mit ihm das Sanitätszelt herzurichten, damit Doktor Hardy und Blair mit ihren Vorbereitungen beginnen konnten. Die übrigen Zelte konnte er allein bewältigen. Nachdem Blair an seiner Seite gearbeitet hatte, bis das Sanitätszelt wieder stand, bekam sie ihn für längere Zeit nicht mehr zu Gesicht.

Die folgenden Tage und Nächte waren der reinste Irrsinn. Die Erdstöße hatten große Verwüstung im Dorf angerichtet, baufällige Dächer und dünne Hüttenwände waren eingestürzt und viele Menschen obdachlos geworden.

Glücklicherweise hatte es keine Todesopfer gegeben. Blair behandelte eine Vielzahl von Schnittwunden und Blutergüssen und zuckte innerlich jedes Mal zusammen, wenn die Wunde eines Kindes genäht werden musste. Ein junger Bursche hatte die schlimmste Verletzung davongetragen – ein Regal war auf seinen Fuß gefallen und hatte ihm mehrere Zehen gebrochen. Dr. Hardy flickte ihn allerdings mühelos wieder zusammen. Weiter nördlich jedoch, am Fuße eines seit langem untätigen Vulkans, hatten sich die Erdstöße weitaus verheerender ausgewirkt, sodass alle verfügbaren Hilfskräfte, auch aus dem Ausland, dorthin beordert wurden und Blairs Gruppe nicht mit zusätzlicher Unterstützung rechnen konnte.

Das Team arbeitete zweieinhalb Tage lang beinahe rund um die Uhr, um eine gewisse Normalität wiederherzustellen. Und als sich die Situation einigermaßen beruhigt hatte, fühlten sich alle ein wenig desorientiert.

Die Widerstandsfähigkeit der Einheimischen war unglaublich. Von einer Minute auf die andere lagen ihre Häuser in Trümmern – die Erde selbst hatte zerstört, was vom Krieg verschont geblieben war, sie jedoch sammelten einfach die Scherben ihres Lebens wieder auf, wie schon so oft zuvor. Sie akzeptierten die angebotene Hilfe, quittierten sie mit aufrichtigem Dank, und dann vergaßen sie alles und machten da weiter, wo sie aufgehört hatten.

Am Nachmittag des dritten Tages kehrte Juan aus dem Dorf zurück und verkündete, dass die letzte Hütte wieder aufgebaut war.

Blair hatte ihren letzten kleinen Patienten am gleichen Nachmittag entlassen können, und auch die neu eingetroffenen Vorräte waren zum größten Teil ausgeladen und verstaut.

Es war merkwürdig, auf einmal nichts mehr zu tun zu haben. Nichts, außer ihren normalen Wochenplan wieder aufzunehmen, den sie früher als anstrengend empfunden hatten, der jetzt jedoch völlig harmlos wirkte. Drei Stunden Freizeit am Tag erschienen ihnen nun wie ein Luxusurlaub.

»Man könnte glauben, es wäre nie etwas passiert«, bemerkte Blair, als sie und Tom gegen fünf Uhr nachmittags ihren Dienst im Sanitätszelt beendeten. Sie strich sich eine feuchte Strähne aus dem Gesicht und warf einen Blick durch den offenen Zelteingang, wohl wissend, dass sie Craig bei der Arbeit sehen würde. Er war stets in der Nähe, und sie genoss das warme Gefühl, das seine Gegenwart und Tatkraft ihr vermittelte. Dennoch hätte er genauso gut kilometerweit entfernt sein können, so selten bot sich ihnen die Gelegenheit, miteinander zu reden.

Nun entdeckte sie ihn auf der anderen Seite des Platzes, die Arme voller Lebensmittelkartons und offenbar immer noch sehr beschäftigt. Stirnrunzelnd wandte sie sich an den Arzt und erklärte lahm: »Ich weiß nicht, was ich mit mir anfangen soll«.

»Nimm ein Bad«, riet er ihr mit einem Blick auf ihre ermattete, verschwitzte Erscheinung. »Und mach schnell! Ich möchte nämlich auch ins kühle Nass.«

Kate hatte bereits gebadet und es sich danach mit einem Buch, einer Zigarette und einer Tasse Kaffee vor dem Feuer bequem gemacht, also ging Blair allein zum Bach. Obwohl das Wasser herrlich war, beeilte sie sich, und nicht nur wegen Tom Hardy. Nun, da die Notsituation bewältigt war, hatte sie wieder Zeit zum Nachdenken und erinnerte sich an jenen Abend am Bach, an dem sie so sicher gewesen war, dass sie beobachtet wurde.

Seltsam – seit den Erdstößen hatte sie dieses unheimliche Gefühl eigentlich ständig. Vielleicht, weil Tom ihr erzählt hatte, dass Craig sie beobachtete? Aber das war lächerlich, Craig hatte viel zu viel gearbeitet, um auf sie zu achten. Er hatte sich mit voller Kraft auf den Wiederaufbau konzentriert und war bis an die Grenzen seiner körperlichen Belastbarkeit gegangen, um die Ordnung wiederherzustellen.

Andererseits war er trotzdem jedes Mal, wenn sie Hilfe brauchte, wie durch Zauberei an ihrer Seite aufgetaucht.

Aber warum sollte Craig sie heimlich am Bach beobachten? Schließlich brauchte er nur ein Wort zu sagen, und sie würde ihm gehören.

Warum also sagte er nichts? Oder war er am Abend des Erdbebens kurz davor gewesen? Sie wusste es nicht. Die Naturkatastrophe hatte sie für einige Tage ihren Gefühlswirrwarr vergessen lassen, doch nun ging alles von vorne los. Sie hatte den Eindruck, sich in ein schüchternes kleines Mädchen verwandelt zu haben. Dieser geheimnisvolle Mann machte sie einfach ratlos.

Grübelnd wanderte sie zurück in Richtung Camp und wurde vom Gegenstand ihrer Gedanken jäh aus denselben gerissen.

Craig wartete auf dem Pfad auf sie.

»Hallo.«

»Hi«, erwiderte sie mit einem schuldbewussten Lächeln. Ahnte er, dass sie ständig an ihn dachte? Dass ihre Gefühle für ihn durch die Fürsorglichkeit und Tüchtigkeit, die sie in den vergangenen Tagen an ihm erlebt hatte, gewachsen waren und sie unwiderruflich in seinen Bann gezogen hatten?

»Endlich Feierabend«, sagte er.

»Ja.«

»Ich würde ihn gern mit dir verbringen.«

»Und ich mit dir«, erwiderte sie leise. Er nahm ihre Hand und sie kehrten zusammen zum Camp zurück.

Craig bestimmte das Tempo, doch Blair war froh darüber. Ihre Beziehung hatte eine erneute Wendung genommen, die Zeit der langsamen Annäherung war zu Ende. Beide spürten erneut die elementare, unwiderstehliche Anziehungskraft wie an jenem ersten Tag.

Sie holten am Lagerfeuer ihre Portion Eintopf ab, schlenderten dann zurück zum Ufer des Tümpels und aßen dort. Nach der Mahlzeit schmiegte sich Blair an Craigs Schulter. Sie sprachen wenig, es genügte ihnen, einfach zusammen zu sein.

Doch er hielt noch immer eine gewisse Distanz. Er forderte sie nicht auf, ihn zu küssen, obwohl sie sich danach sehnte, und Blair bemerkte, dass er sein Verlangen unterdrückte.

Craig begleitete sie zurück zu ihrem Zelt, ohne sie angerührt zu haben. In seinen Augen loderte ein Feuer aus Emotionen, die sie nicht genau bestimmen konnte. Bedauern lag in seinem Blick und eine schmerzliche Sehnsucht, die ihn für einen Moment beinahe übermannte, als er mit beiden Händen ihren Nacken liebkoste und in ihre smaragdgrünen Augen blickte. Seine Lippen streiften die ihren zart wie eine Feder, dann war er fort, ging am Lagerfeuer vorbei und zu seinem eigenen Zelt.

Blair wollte seinen Namen rufen, brachte jedoch keinen Ton heraus. Sie blickte ihm mit zugeschnürter Kehle nach.

Und dann wurde ihr klar, dass er ihre panische Angst spürte. Die Angst, die sie sich nie offen eingestand und mit Rationalität nicht bezwingen konnte. Die Angst vor dem Schmerz, das Vermächtnis von Ray Teiles plötzlichem Tod.

Vielleicht gab es auch noch andere Gründe, von denen sie nichts ahnte. Aber plötzlich war sie sicher, dass sie nicht noch eine Nacht ohne Craig Taylor verbringen wollte.

Sie konnte keine Zeit mehr für lange Überlegungen verschwenden.

Voller Sehnsucht nach dem Glück, das nur er ihr geben konnte, begann sie langsam, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Ihre Gefühle trieben sie voran auf dem unsichtbaren Weg, dem zu folgen ihr seit jenem ersten Tag bestimmt gewesen war.

Sie brauchte Craig Taylor. Und tief in ihrem Inneren fürchtete sie, dass sie ihn mehr liebte, als sie wahrhaben wollte.

Doch ihre Bedenken hatten heute Nacht keinerlei Bedeutung. Nichts von all dem war wichtig – gar nichts.

Das Einzige, was zählte, war, dass sie bei ihm sein wollte.

Gefährliches Verlangen

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