Читать книгу Gefährliches Verlangen - Heather Graham - Страница 5
Kapitel 2
ОглавлениеObwohl Blair ihr Versprechen hielt und ihm einen Platz an ihrer Seite reservierte, gesellte sich Craig erst so spät zu der Gruppe, dass das Abendessen schon beinahe beendet war. Komisch, dachte sie, und das an seinem ersten Tag im Camp. Aber vielleicht hatte die Arbeit ihn ermüdet. Außerdem hatte er wahrscheinlich mit dem Klima zu kämpfen. In der schwülen Hitze des Regenwaldes verloren selbst die Stärksten schnell ihre Energie. Sogar jemand wie Craig Taylor, vermutete Blair. Wie viele Nächte hatte es gegeben, an denen sie selbst nach einem langen, heißen Tag todmüde zu ihrem Zelt gewankt war, zu erschöpft, um etwas zu essen oder auch nur zu sprechen. Craig ließ sich neben ihr nieder und begrüßte sie mit einem besonders innigen Lächeln, redete und scherzte jedoch mit allen. Er wirkte völlig entspannt, als sei er bereits seit Monaten dabei und nicht erst seit wenigen Stunden. Blair bemerkte, dass er auch bei den übrigen Campbewohnern seinen Charme spielen ließ.
Nachdem die Essensutensilien weggeräumt waren, sagte Craig als Erster Gute Nacht und zog sich in sein Zelt zurück, anstatt noch für eine Weile mit den anderen um das Feuer zu sitzen. Blair hatte erwartet …
Tja, was hatte sie eigentlich erwartet? Müde streckte sie sich auf ihrem Feldbett aus und starrte das niedrige Zeltdach an, bis sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Hatte sie damit gerechnet, dass dieser Mann ihr besondere Aufmerksamkeit schenken würde? Dass er sich am Feuer neben sie setzen und sie in ein persönliches Gespräch verwickeln würde? Ja, sie musste sich eingestehen, dass sie genau das gehofft hatte. Und nun, da der Abend anders verlaufen war, wusste sie nicht, ob sie erleichtert oder enttäuscht sein sollte.
Sein Verhalten ihr gegenüber veränderte sich auch in den folgenden Tagen nicht. Obwohl sie auf dem Campgelände hin und wieder mit ihm zusammentraf, ergab sich nur beim Abendessen die Gelegenheit zu einer Unterhaltung. Welche Gründe ihn auch immer dazu bewogen hatten, sich der Gruppe anzuschließen, nachdem Blair ihn ein paar Mal kurz bei der Arbeit beobachtet hatte, musste sie zugeben, dass er mit ganzem Herzen dabei war. Normalerweise benötigten zwei Männer den Großteil einer Woche, um die Nachschublaster zu entladen. Craig Taylor schaffte es allein in derselben Zeit.
Wenn sich Blair während des Essens oder hinterher am Lagerfeuer mit ihm unterhielt, war er ihr gegenüber zwar keineswegs reserviert, schien aber auch nicht mehr als freundliches Interesse für sie aufzubringen. Er zollte ihr nicht mehr Aufmerksamkeit als den anderen Mitgliedern des Teams, und er hatte ihr auch noch nicht erzählt, warum er sich als Helfer gemeldet hatte. Blair beschloss, nicht nachzufragen. Obgleich sie sich zu diesem Mann hingezogen fühlte, erregte seine Gegenwart immer noch instinktiven Argwohn und sogar ein wenig Angst in ihr. Nichts an ihm war verdächtig, dennoch traute sie ihm nicht über den Weg.
Am Freitagnachmittag beobachtete Blair, wie er mit bloßem Oberkörper arbeitete. Er war sehr groß, sie schätzte ihn auf über einen Meter neunzig. Im Licht der Sonne waren seine Muskeln deutlich zu erkennen. Er wirkte weder massig noch schwerfällig, sondern eher geschmeidig. Er hatte einen Waschbrettbauch, breite Schultern und schmale Hüften. Auf seiner Brust spross dichtes, braunes Haar, in dem sich glitzernd die Sonnenstrahlen fingen, und als er ihr einen flüchtigen Blick zuwarf und lächelte, fielen ihr erneut seine merkwürdig goldbraunen Augen auf. Sie lächelte zurück, verspürte jedoch ein prickelndes Unbehagen. Sein Lächeln milderte seine kantigen Gesichtszüge, doch eben jene Gesichtszüge, in Verbindung mit den beeindruckenden Augen und der kräftigen Statur, vermittelten Blair plötzlich den Eindruck, einem Löwen gegenüberzustehen, der sich langsam an seine Beute anschlich, um sich dann jäh auf sie zu stürzen.
»Starr ihn nicht so an, Blair«, flüsterte ihr eine Stimme ins Ohr. »Das ist unhöflich …«
Blair drehte sich schuldbewusst um. Kate grinste sie verschmitzt an. »Ich habe ihn nicht angestarrt«, protestierte Blair. »Ich habe darüber nachgedacht, was jemand wie er hier zu suchen hat.«
»Na gut«, erwiderte Kate lachend, »denk du ruhig weiter, ich starre inzwischen!«
»Ich meine es ernst, Kate …«
»Ach Blair, einem geschenkten Gaul schaut man nicht ins Maul.«
Blair zog skeptisch eine Augenbraue hoch. »Und wenn der Gaul ein trojanisches Pferd ist? Er sieht einfach nicht so aus, als gehörte er hierher.«
Kate warf ihrer Freundin einen schiefen Blick zu. »Du denn etwa?« Obwohl Blair kein Make-up trug, ihr rotbraunes Haar zu einem Knoten hochgesteckt hatte und ihre Figur in abgewetzten Jeans und einem schlichten, braunen Arbeitshemd verbarg, war sie immer noch auffallend schön.
»Ach, ich weiß nicht«, murmelte Blair und gab sich geschlagen. Sie konnte sich ihre Gefühle und Ahnungen ja nicht einmal selbst erklären, wie sollte sie sie dann Kate begreiflich machen? Sie winkte kurz und wandte sich in Richtung des Sanitätszeltes. »Bis später. Eine ganze Horde vertrauensvoller kleiner Seelen wartet darauf, dass ich sie mit der spitzen Nadel piekse.«
Kate seufzte und rief: »Du Glückliche! Ich schiebe heute Dienst in der Läusebrigade.«
Lachend ging Blair davon. Sie hatte definitiv länger gestarrt – oder nachgedacht, was auch immer! –, als sie gewollt hatte. Das Sanitätszelt war voller Kinder, die sie mit großen braunen Augen beobachteten wie eine Herde Lämmer.
Im Zelteingang hielt Blair für einen Moment inne und wappnete sich für die Aufgabe. Immer waren die Kinder die Leidtragenden. Generäle führten ihre selbstgerechten Feldzüge, und die Kinder verloren ihr Heim, ihre Eltern, ihre Gesundheit – und manchmal auch ihr Leben.
Blair war es völlig egal, welche Guerilla-Fraktion die Macht für sich beanspruchte. Sie hatte sich ihr Leben lang auf dem politischen Parkett bewegt und kannte die traurige Wahrheit – am Ende gewann nicht unbedingt der Beste. Normalerweise errang der eloquenteste Redner den Sieg.
Das hieß nicht, dass es auf jenem Parkett keine guten Männer gab. Ihr Vater beispielsweise war ein hochanständiger Mensch und hatte mit und unter vielen hervorragenden Staatsmännern gearbeitet.
Charakter und Grundsätze genügten jedoch nicht immer. Selbst wenn die Mächtigen hehre Prinzipien hatten, durften sie das Ganze nicht aus den Augen verlieren und mussten dem Leid der Bevölkerung häufig den Rücken zukehren. Sie konnten es sich nicht erlauben, zu genau hinzusehen.
Blair riss sich aus ihren Grübeleien. Philosophieren half ihr nicht bei der Arbeit. Sie hieß ihre Schützlinge sich in einer Reihe aufstellen, redete beruhigend auf sie ein und machte schließlich ein Spiel aus der Impfung. Jeden dünnen Oberarm rieb sie kurz mit einem in Alkohol getränkten Wattebausch ab und malte dann mit sonnengelbem Desinfektionsmittel ein lachendes Gesicht darauf – einen Kreis, Mund und zwei Augen. Die Nase war die Injektion, die sie geschickt und blitzschnell verabreichte. Die Kleinen wussten kaum, wie ihnen geschah, und waren eher zum Lachen aufgelegt als den Tränen nahe, wenn sie das Zelt verließen.
Blair bemerkte nicht, dass sie beobachtet wurde.
Dr. Hardy trat an Craigs Seite. »Eine fabelhafte Frau, unsere Blair. Finden Sie nicht?«, fragte er lächelnd. »Aber nehmen Sie sich vor ihr in Acht, Taylor. Meiner Meinung nach hat Gott Frauen mit flammenden Haaren geschaffen, um uns vor dem Feuer zu warnen, das in ihnen lodert.«
Craig erwiderte lachend: »Ich werde schon aufpassen, Doc.« Dann wurde er ernst und fuhr in einem entschuldigenden Tonfall fort: »Sie ist erstaunlich. Und sie macht ihre Sache wirklich gut. Nicht eines der Kinder hat einen Pieps von sich gegeben.«
»Ich habe ihr alles beigebracht, was sie weiß«, erklärte der Arzt stolz und grinste verlegen. »Nicht, dass mich das viel Mühe gekostet hätte – innerhalb von zwei Wochen hatte sie alles gelernt, inklusive der Sprache. Was ja nicht verwunderlich ist –« Der Arzt verstummte. Es war kein Wunder, dass diese Frau intelligent war und eine Begabung für Fremdsprachen besaß. Nicht, wenn man wusste, wer ihr Vater war. Und diese vertrauliche Information hatte er beinahe ausgeplaudert.
Als Craig Taylor nicht weiter nachfragte, stieß Tom Hardy innerlich einen Seufzer der Erleichterung aus. Dann strich er über seinen Bart und griff nach der Zeltklappe. »Ich mache mich jetzt wohl besser wieder an die Arbeit. Wie geht es mit dem Entladen voran?«
»Ich bin fertig.«
»Fertig?« Tom starrte Craig an, als habe dieser gerade einen Zauberstab geschwungen. »Meine Güte, Taylor, ich könnte mich an Sie gewöhnen.«
»Vielen Dank«, erwiderte der große, dunkelblonde Mann, wirkte jedoch peinlich berührt.
Tom runzelte für einen Moment verwirrt die Stirn. Offenbar war Taylor nicht der Typ, dem man anerkennend auf die Schulter klopfen musste. Aber zu dieser Sorte Mensch gehörten im Grunde auch die Wenigsten, die sich in der Hungerhilfe engagierten.
Der Mann mit den merkwürdigen Augen setzte ein gelassenes Lächeln auf. »Sieht so aus, als hätten unsere Kollegen da drüben Probleme mit dem Feuer.« Er wies zum freien Platz in der Mitte des Camps, wo Kate, Dolly und Harry Canton in der Tat Schwierigkeiten hatten, das Feuer unter dem riesigen, schwarzen Kessel in Gang zu bringen, in dem der Eintopf kochen sollte. »Ich laufe mal rüber und helfe ihnen.« Er winkte kurz und schritt auf die kleine Versammlung zu.
Dr. Hardy betrat das Zelt, in dem Blair gerade das letzte lachende Gesicht auf einen kleinen braunen Arm malte. »Uuuuund plopp! Das ist die Nase!«, sagte sie in beinahe akzentfreiem Spanisch und lächelte fröhlich. Der Junge blickte von Blair zu seinem Arm und zurück, unsicher, ob sie ihm nun wehgetan hatte oder nicht. Alles war so schnell gegangen. Dann lachte er die señora an.
»Fertig«, erklärte ihm Blair. »Du kannst gehen, am großen Topf gibt es bald Abendessen.« Während das Kind mit einem breiten Lächeln im Gesicht aus dem Zelt flitzte, wandte sich Blair Tom Hardy zu. »Das waren alle. Steht für mich sonst noch etwas auf dem Dienstplan?«
»Nein.« Tom schüttelte zufrieden den Kopf. »Dank unseres Neuzugangs sind wir dem Zeitplan weit voraus.«
Blair runzelte leicht die Stirn, erhob sich von dem Feldbett, auf dem sie gesessen hatte, und streckte sich ausgiebig. »Was hältst du von ihm?«
»Ich glaube, ich habe mich verliebt«, erwiderte Tom humorvoll. »Endlich haben sie mir einen richtigen Mann geschickt.«
»Aber warum ihn?«, sann Blair und tippte sich nachdenklich mit dem Zeigefinger gegen das Kinn.
»Das ist mir ehrlich gesagt egal«, entgegnete Tom. »Er ist hier, und er ist ein Arbeitstier.« Er klopfte Blair auf den Rücken und fuhr dann fort: »Pass auf, dass du ihn mit deinen neugierigen Fragen nicht vertreibst, okay? Ich habe das Funkeln in deinen Augen gesehen – du führst etwas im Schilde. Gib dem armen Kerl eine Chance, vielleicht möchte er einfach nur ungestört und in Ruhe leben, genau wie du. Ich lasse nicht zu, dass dich jemand ins Kreuzverhör nimmt, also versuch du das auch nicht bei ihm.«
Blairs Smaragdaugen konnten sehr unschuldig blicken, wenn sie wollte. »Ich werde deinen Herkules bestimmt nicht verjagen! Außerdem hat er mir schon gesagt, dass er mir erzählen wird, warum er hergekommen ist.«
»Na, dann kriegst du doch deine Antworten.«
Blair war immer noch nicht zufrieden und murmelte: »Und warum will er das ausgerechnet mir mitteilen?«
Glucksend begann der Arzt, medizinische Utensilien wegzuräumen. »Wenn du die Antwort darauf nicht kennst, junge Dame, bist du schon zu lange im Dschungel.«
»Du glaubst also, dass er mich anziehend findet?«, fragte Blair stirnrunzelnd.
»Ich weiß es, und du weißt es auch. Und ich glaube außerdem, dass du dich ebenfalls zu ihm hingezogen fühlst, denn sonst würdest du den armen Mann in Frieden lassen.«
»Er sieht gut aus«, räumte Blair ein. »Aber das ist es ja gerade – er ist einfach zu attraktiv.«
»Das denkst du womöglich nur, weil dir hier so wenige starke Männer in deinem Alter über den Weg laufen«, bemerkte Tom und stellte fest, dass er einen Stein im Schuh hatte.
Blair schüttelte den Kopf und hielt ihn am Arm fest, während er seinen Stiefel auszog und den störenden Stein entfernte. »Es ist doch nicht so, als hätte ich mein ganzes Leben in der Wildnis verbracht, Tom. Dieser Mann ist nicht wie andere Männer. Auch nicht wie andere gut aussehende Männer. Und ich leugne ja gar nicht, dass ich ihn … faszinierend finde …«
»Sexy«, warf der Arzt ein und schlüpfte wieder in seinen Stiefel.
»Meinetwegen, wenn du es so nennen willst«, murmelte Blair, während eine leichte Röte ihre Wangen überzog. »Aber er ist nicht nur sexy. Ein Mann wie er weiß, was er vom Leben will. Und das Leben hier kann ihm keine echten Herausforderungen bieten.« Als Tom sie lediglich verständnislos ansah, versuchte Blair nicht länger, ihm ihre Bedenken begreiflich zu machen. Ihre Gefühle ließen sich einfach nicht in Worte fassen. Sie hielt Craig Taylor nicht etwa für unfähig, einen wertvollen Beitrag zu leisten. Im Gegenteil, sie war sicher, dass er all seine Zeit, Kraft und sein Talent einsetzen würde. Aber sie konnte nicht glauben, dass die Arbeit im Camp wirklich zu ihm passte.
»Ach, ist ja auch egal«, stieß sie seufzend hervor und ließ Toms Arm los, sobald dieser sich wieder aufrichtete. »Ich gehe jetzt erst einmal zum Bach.«
»Bade schön«, sagte er und winkte ihr geistesabwesend zu. Offenbar beschäftigte er sich in Gedanken bereits mit etwas anderem.
In ihrem Zelt legte Blair Seife und ein Handtuch heraus und suchte dann nach frischer Kleidung. In einem hatte der gute Doktor Recht: Sie fühlte sich sehr zu Craig hingezogen und war nicht sicher, ob ihr das gefiel oder nicht. In gewisser Hinsicht war es herrlich aufregend, denn es schien ihr eine Ewigkeit her zu sein, dass ein Mann derartige Gefühle in ihr ausgelöst hatte. Aber es verunsicherte sie auch. Sie hatte einen wichtigen Punkt angesprochen, auf den Tom Hardy jedoch nicht weiter eingegangen war. Craig Taylor war kein gewöhnlicher Mann.
Blair erkannte ein wenig beschämt, dass sie ihre Kleidung nur deshalb durchwühlte, weil sie ihr bestes »Dschungel-Outfit« finden wollte. Craig war ein Reiz, dem sie sich nicht entziehen konnte, und sie reagierte instinktiv weiblich darauf.
Alles nur solide Taktik, versicherte sie sich selbst. Je besser ihre Waffen waren, desto größer würde ihre Chance sein, als Siegerin hervorzugehen, falls es zu einem Machtkampf mit diesem Mann kommen sollte. Sie war nicht umsonst die Tochter eines Politikers.
Auf einmal wurden ihre Handflächen feucht und sie sank auf das Feldbett. Ihre Ehe hatte sich so schnell von höchstem Glück in tiefste Tragik verwandelt, dass sie sich erst jetzt und durch Craig Taylors Anwesenheit bewusst wurde, dass noch kein Mann zuvor sie dermaßen fasziniert hatte. Nach Rays Tod hatte sie zwar nicht wie eine Einsiedlerin gelebt, doch noch nie hatte sie etwas so aufgewühlt wie der Klang von Craig Taylors Stimme, der Anblick seines sehnigen Körpers und seine Augen. Noch nicht einmal Ray Teile …
Er ist nur ein Mann, ermahnte sie sich streng.
Aber er war nicht nur ein Mann.
Aufgewühlt oder nicht, sie war weder unschuldig noch naiv, sondern eine erfahrene Witwe. Sie war nicht sicher, warum sie sich einen Kampf mit Craig liefern würde, aber sie würde es tun. Gegenwärtig schlichen sie nur vorsichtig umeinander herum, die Tiefe dieses Kräftemessens würde sich erst später zeigen.
Blair sprang auf, schnappte sich Seife, Handtuch und die besten Kleidungsstücke, die sie hatte – eine blaue Baumwollbluse und ihre am wenigsten abgenutzten Jeans – und verließ ihr Zelt.
Kate war immer noch damit beschäftigt, das Essen auszuteilen. Blair konnte nicht widerstehen und rief ihr zu: »Ich warte am Bach auf dich!«
Kate antwortete mit einer gutmütigen Grimasse.
Das Rauschen des Wassers wirkte beruhigend, genau wie die wilde, farbenfrohe Schönheit der Vegetation und die kleinen, schroffen Felsen, die das Ufer säumten. Blair konnte das Wasser schon beinahe auf ihrer Haut spüren, während sie sich näherte – doch dann blieb sie abrupt stehen. Jemand hatte den Bach vor ihr erreicht.
Ein Bündel schmutziger Kleidung lag unter dem tief hängenden Ast einer stämmigen Eiche. Über dem Ast hingen Bluejeans und ein braunes Baumwollhemd, das ihrem eigenen glich.
Craig.
Auch ohne ihn im Wasser zu sehen oder seine Kleidung wieder zu erkennen wusste sie, dass er es war. Ihr Gefühl warnte sie, kleine Schauer liefen ihr über den Rücken und bis in ihre Arme und Beine. Sie stellte sich vor, wie sein golden schimmernder Oberkörper aus dem Wasser tauchte, die Tropfen von seiner Haut abperlten, und seine schmalen Hüften … Verdammt noch mal!, schalt sie sich und wich langsam vom Ufer zurück. Sie lebte wohl tatsächlich schon zu lange im Dschungel.
Nein, daran lag es nicht. Es lag daran, dass er einzigartig war.
Und nun wurde aus der Fantasie Wirklichkeit. Erst tauchte sein Kopf, dann sein scharf geschnittenes Gesicht und schließlich sein breiter, gebräunter Brustkorb aus den glitzernden Fluten auf, genau wie sie es sich ausgemalt hatte.
Goldbraune Augen spießten sie mit ihrem Blick geradezu auf. Sinnliche Lippen verzogen sich langsam zu einem Lächeln. »Kommen Sie auch rein?«, rief er.
Blair schüttelte den Kopf und blieb stehen. Sie würde keinesfalls weglaufen wie ein Teenager, wenn er sie ohnehin schon gesehen hatte.
»Ich gehe hinein, wenn Sie herauskommen, Mr Taylor«, erwiderte sie. »Wir haben wohl vergessen, Sie über unser Protokoll in Kenntnis zu setzen. Damen haben den Vortritt am Badegewässer.«
»Entschuldigung«, rief er und blieb anständigerweise bis zur Gürtellinie im Wasser. Die Haare auf seiner Brust bildeten ein Dreieck, das sich zum Nabel hin verjüngte und von dort wahrscheinlich in einem schmalen Streifen weiterlief, bis es auf den Körperteilen, die vom Wasser verborgen waren, wieder dichter wurde. Blair stellte verärgert fest, dass es ihr schwer fiel, Augenkontakt zu halten, denn ihr Blick wollte dieser verlockenden, aufreizenden Linie feuchter Locken folgen. Craig watete näher an das Ufer, und sie fürchtete für eine Sekunde, er würde tatsächlich herausmarschieren.
Doch er kam einfach nur nahe genug, damit sie eine normale Unterhaltung führen konnten, ohne gegen das Rauschen des Wasserfalles anschreien zu müssen.
»Ich hatte nichts mehr zu tun«, erklärte er und verschränkte die Arme vor der Brust, während ein gewinnendes Lächeln seine Lippen umspielte. »Ich bin ziellos durch die Gegend gewandert, bis ich zufällig auf diesen Ort stieß. Natürlich konnte ich nicht anders, als mir saubere Kleider zu holen und mich so schnell wie möglich ins erfrischende Wasser zu stürzen.«
Blair lächelte und war sich undeutlich bewusst, dass sein jungenhaftes Grinsen nur die Gefahr in seinem Blick überdeckte. »Schon gut«, sagte sie, »Sie müssen sich nicht entschuldigen. Wir hätten es Ihnen sagen sollen.«
Er legte den Kopf schief und lachte. »Ich glaube, Sie werden noch froh darüber sein, dass ich unabsichtlich das Protokoll verletzt habe. Ich habe dabei nämlich etwas entdeckt, das Sie bestimmt noch nicht kennen.«
»Ach ja?« Blair stellte fest, dass seine Augenfarbe eine Mischung aus Haselnussbraun und Grün mit goldbraunen Einsprengseln war. »Was ist denn das für eine Entdeckung?«
Er schüttelte verneinend den Kopf. »Meine Entdeckung lässt sich nicht beschreiben, Sie müssten sie schon selbst sehen. Aber da Sie sich nicht zu mir gesellen möchten …« Er hob in gespieltem Bedauern die Hände.
»Eine plumpere Falle kann ich mir kaum vorstellen«, entgegnete Blair trocken.
»Ich bin am Boden zerstört!«
»Sie armer Mensch!« Nichts würde ihn jemals niederschmettern, dessen war sie sicher.
Craig zog die Augenbrauen hoch und zuckte die Achseln. »Eines Tages werde ich Ihnen mein wundervolles Geheimnis verraten, und dann werden Sie Ihren Hohn und Ihr Misstrauen bereuen«, versprach er. »Aber bis es soweit ist« – er zog die Brauen noch höher und wies mit dem Kinn auf seine Kleidung – »könnten Sie sich umdrehen, damit ich Ihr Schamgefühl nicht noch tiefer verletzen muss.«
Blair wandte sich um und verschränkte lässig die Arme vor der Brust. Sie hoffte, dass er ihr Zittern nicht bemerkte. Nach Rays Tod hatte sie manchmal den Wunsch verspürt, einfach mit irgendjemandem fortzulaufen, nur um sich zu beweisen, dass sie noch dazu fähig war, wie jede andere Frau Leidenschaft und Lust zu empfinden.
Doch sie war klug genug gewesen, diesem Impuls nicht nachzugeben. Mit einer Liebschaft ohne echte Gefühle oder wahres Verlangen hätte sie überhaupt nichts bewiesen und sich womöglich nur weiteren Schaden zugefügt.
Und plötzlich, aus heiterem Himmel, ohne dass sie es wollte, war diese kaum zu kontrollierende Anziehungskraft da.
Selbst die echten Gefühle fehlten nicht. Sie traute diesem rätselhaften Mann nicht über den Weg, doch eigentlich mochte sie ihn. Als er dem Wasser entstieg, spürte sie seine Gegenwart mit jedem Nerv, seine kraftvollen und zugleich geschmeidigen Bewegungen mit jeder Faser ihres Körpers …
»Darf ich mir Ihr Handtuch ausleihen? Ich verspreche auch, dass ich es nicht zu sehr durchnässe.«
»Bitteschön, nur zu!« Es gelang ihr, ihre Stimme gleichmütig klingen zu lassen.
Eine qualvolle Ewigkeit später witzelte er: »Alles klar, ich bin salonfähig.«
Blair merkte erst jetzt, dass sie den Atem angehalten hatte. Als sie sich umdrehte, sah er ihr nachdenklich ins Gesicht, griff in seine Hosentasche und holte eine Packung Zigaretten und ein Feuerzeug hervor.
»Möchten Sie eine?«
»Ja, danke.« Sie nahm die Zigarette entgegen und stellte zufrieden fest, dass ihre Hand völlig ruhig war. Als sie sich zu ihm lehnte und er ihr Feuer gab, trafen sich ihre Blicke. Rauch stieg auf, doch ihre Blicke ließen einander nicht los, sie taxierten einander, und keiner von beiden versuchte, dies zu verbergen.
»Amerikanische«, sagte Blair anerkennend und betrachtete die Zigarette.
Craig lachte. »Ja, und ich habe noch ein paar andere amerikanische Leckerbissen für das ganze Team mitgebracht.«
»Ach ja?«, erwiderte Blair. In stillem Einvernehmen ließen sich beide am grasbewachsenen Ufer nieder. »Wer sind Sie – eine Art Krösus?« Dr. Hardy hätte sie dafür zusammengestaucht, doch Taylor nahm es ihr offenbar nicht übel.
»Als Krösus würde ich mich nicht bezeichnen. Ich habe ein schönes kleines Treuhandvermögen geerbt.« Das war nicht gelogen. Er hatte sämtliche Mitbringsel selbst bezahlt und der Hungerhilfe außerdem eine beträchtliche Summe gespendet. Aber dafür konnte er sich kaum auf die Schulter klopfen, schließlich hatte er tatsächlich Geld – ererbtes Geld, das er im Laufe seines Lebens kaum würde ausgeben können. »Und wie steht es mit Ihnen?«
Die Frage war unnötig, denn theoretisch wusste er alles, was es über Blair zu wissen gab – nicht nur das Datum, sondern den genauen Zeitpunkt ihrer Geburt und sogar die Zimmernummer ihrer Mutter im Krankenhaus. Doch alle Akten der Welt konnten ihm keine Antwort darauf geben, wer diese temperamentvolle, unabhängige und entschlossene Frau wirklich war.
Blair inhalierte den Rauch, zuckte mit den Schultern und erwiderte vorsichtig: »Schuldig im Sinne der Anklage. Ich bin im Luxus aufgewachsen.«
»Und Sie haben all dem entsagt?«, fragte er lächelnd.
»Nein«, entgegnete sie schmunzelnd. »Ich habe nichts gegen Reichtum, wenn er verantwortungsvoll eingesetzt wird. Ich hatte nie den Wunsch, alles aufzugeben. Wenn Geld in die richtigen Kanäle fließt, kann es viel Gutes bewirken, und von nichts kommt nichts, wie es so schön heißt«, räumte sie ein. »Außerdem liebe ich gute Sanitäranlagen, Hummer Newburg und seidene Laken, wenn vorhanden.«
»Was tun Sie dann hier?«, wollte Craig wissen.
»Ich sagte nur, dass ich diese Dinge liebe, nicht, dass ich nicht ohne sie leben kann«, erklärte Blair. Verflixt! Sie bestritt die ganze Unterhaltung. Es war an der Zeit, seine Fragen zu parieren.
»Und Sie?«
Er zuckte ebenfalls mit den Achseln und zog an seiner Zigarette. »Vor zwanzig Jahren bin ich einmal von zu Hause weggelaufen, war aber zum Abendessen wieder da.« Seine Augen funkelten amüsiert. »Man weiß die seidenen Laken und den Hummer Newburg erst richtig zu schätzen, wenn man einige Zeit fort war. Ich habe in Vietnam gedient, mich danach in Europa und im Nahen Osten umgesehen und ebenfalls gelernt, dass man ohne die Dinge leben kann, die man liebt.« Obwohl auch dies im Wesentlichen der Wahrheit entsprach, hatte er ihr nicht das Geringste über sich verraten. Und umgekehrt galt das genauso.
Craig drückte seine Zigarette aus und sprang mit einer eleganten Bewegung auf. »Ich überlasse Sie jetzt Ihrem Bad«, sagte er vergnügt und ging grinsend davon.
Die erste Runde war beendet.
Blair erhob sich langsam und begann ihre Bluse aufzuknöpfen, während sie Taylors breiten Rücken zwischen den Büschen verschwinden sah. Mit zitternden Fingern nestelte sie an ihrer Kleidung. Verdammt, was ist nur los mit mir?, stöhnte sie innerlich.
Je länger sie mit ihm sprach, je öfter sie ihn sah, desto mehr begehrte sie ihn. Und sie glaubte nicht, dass er abgeneigt wäre – das Problem bestand darin, es ihn wissen zu lassen …
Sie sprang in den Bach.
Das herrlich kühle Wasser wirkte beruhigend auf ihren Körper, der heute nicht nur von der Sonne aufgeheizt war.
Als sie sich ausmalte, wie es wäre, vollkommen aufrichtig mit Craig zu reden, musste sie kichern. Entschuldigung, Mr Taylor, zuerst sollte ich Ihnen vielleicht sagen, dass ich Ihnen noch nicht einmal so weit vertraue, wie ich Sie werfen kann, aber ich glaube, ich würde trotzdem gern mit Ihnen ins Bett gehen. Ich sage »ich glaube«, weil mir ein wenig graut. Wissen Sie, es gab eine Zeit, da hatte ich einfach alles … aber ich habe es verloren, und ich habe Angst. Würde es Ihnen daher etwas ausmachen, sehr einfühlsam und tolerant zu sein?
»Hey! Wie ist das Wasser?«, unterbrach Kate ihre lüsternen Gedanken. Sie lief auf das Ufer zu und entledigte sich dabei noch auf dem Pfad schamlos ihrer verschwitzten Kleidungsstücke.
»Schön kalt, Kate!«, rief Blair.
Unglücklicherweise nicht kalt genug.
Craig Taylor hatte versprochen, das Abendessen am Freitag mit einem »besonderen Leckerbissen« zu bereichern, und er hielt Wort. Er hatte gleich mehrere Flaschen französischen Weines in seinem Seesack ins Land geschmuggelt.
Der Vorrat würde schnell aufgebraucht sein, aber dem Team auf jeden Fall einen unvergesslichen Abend bescheren.
Unter fröhlichem Geplauder und den anerkennenden Rufen der anderen entkorkte Craig die erste Flasche. Blair schoss durch den Kopf, dass sie auf keinem Staatsbankett jemals solch grundehrliche Freude und liebenswürdige Kameradschaft erlebt hatte. Das einfache Abendessen im Kreis dieser Menschen war glanzvoller als ein Souper unter Kronleuchtern.
»Jetzt fehlen nur noch die seidenen Laken!«, verkündete sie lachend und reichte Craig ihren Becher, damit er ihr einschenkte. Im selben Moment wurde ihr die Zweideutigkeit ihrer Bemerkung bewusst, und sie hoffte, dass der Schein des Lagerfeuers die plötzliche Röte in ihrem Gesicht verbarg. Bevor sie verlegen zu Boden blickte und ihre kastanienbraunen Wimpern halbmondförmige Schatten auf ihre Wangen warfen, entdeckte sie etwas in Craigs Löwenaugen, das sie noch nie zuvor dort gesehen hatte und das weder von Gefahr noch von Neugier oder Lust zeugte.
Es war Zärtlichkeit, aber eine mit Schmerz gepaarte Zärtlichkeit.
Doch als sie ihren Becher zurückbekam und wieder aufblickte, war es verschwunden, als sei es nie da gewesen.
Craig füllte seinen eigenen Becher und nahm sich einen Teller mit Eintopf.
»Essen wir doch da drüben unter der Eiche«, schlug er vor und wies mit dem Becher in der Hand auf einen Baum mit tief herabhängenden Ästen, die ein wenig Sichtschutz und Ungestörtheit boten.
Blair nickte stumm und ging voraus.
Sie setzten sich auf den Boden, eingehüllt vom Halbdunkel, das bereits wenige Meter vom Feuer entfernt begann und sie von den anderen trennte, die näher bei den Zelten lachten und sich miteinander unterhielten.
Craig stieß mit ihr an. Die Becher schepperten leise. »Auf diejenigen von uns, die zugeben können, dass sie Seidenlaken bevorzugen. Wann haben Sie eigentlich vor, sich diesen Luxus wieder zu gönnen?«
»In ein paar Monaten«, erwiderte Blair und machte sich über ihre Portion Eintopf her, die hauptsächlich aus Gemüse und einheimischen, kartoffelähnlichen Wurzeln bestand. Als Mitarbeiter der Hungerhilfe konnte man unmöglich dick werden. »Ich habe mich für zwei Jahre verpflichtet.
Ich gehe erst zurück, wenn diese Zeit um ist und Ersatz für mich eintrifft.«
»Wartet zu Hause jemand auf Sie?«, erkundigte sich Craig ungeniert.
»Nein«, murmelte sie und konzentrierte sich auf das Gemüse. »Doch, mein Vater.«
»Ich meinte, außer einem Elternteil«, sagte er leise. »Ich weiß, dass Sie verwitwet sind, aber das ist ja schon eine Weile her. Gibt es vielleicht einen Freund, einen Partner –«
»Nein«, unterbrach ihn Blair schnell. »Niemanden.«
Craig schwieg und nahm seinen Teller. Seine Fragen waren zu persönlich, möglicherweise schmerzhaft für sie, dessen war er sich bewusst. Er bewegte sich auf dünnem Eis und ging damit vielleicht zu weit. Er wusste nicht, warum er ihr diese Frage überhaupt gestellt hatte, es sei denn, weil er die Antwort aus ihrem eigenen Mund hören wollte. Man konnte nicht von ihm erwarten, dass er immer dachte wie eine verfluchte Maschine.
»Sie sind an der Reihe.«
»Wie bitte?« Er sah auf und begegnete ihrem offenen Blick.
»Sie sind an der Reihe«, wiederholte sie ausdruckslos. »Wartet jemand auf Sie? Ehefrau, Freundin?«
»Nein. Ich bin immer sehr viel gereist und wollte das keiner Frau zumuten.«
Blair bemerkte, wie er plötzlich erstarrte. Seine scharfen Augen suchten wachsam die Umgebung ab, während er langsam den Teller abstellte.
»Was –«, begann sie verwirrt, doch er berührte mit dem Zeigefinger ihre Lippen, zeigte dann auf die dunkle Blättermasse hinter ihnen und sprang mit der lautlosen Gewandtheit einer Raubkatze auf die Füße. Nach wenigen Schritten griff er mit einer blitzschnellen Bewegung zwischen die Bäume.
Er zog einen bebenden Miguelito hervor. »Mein Gott, Junge! Warum schleichst du in der Dunkelheit zwischen den Bäumen herum?«, fragte Craig. Blair stellte überrascht fest, dass sein Spanisch völlig akzentfrei und dem ihren weit überlegen war.
Der Junge stand schlotternd vor Angst vor dem hoch gewachsenen Mann und wandte sich mit einem Mitleid erregenden Blick an Blair. Sie betrachtete die beiden, schüttelte leicht den Kopf und krümmte die Schultern. Dann richtete sie ihre ganze Aufmerksamkeit auf das Kind und redete beruhigend auf es ein. »Niemand wird dir etwas tun, Miguelito. Du hast uns erschreckt. Du solltest zu Hause im Dorf bei deiner Mutter sein. Was machst du hier draußen?«
Es gab eine einfache Erklärung, die der Junge in Bruchstücken stammelte. Miguelito hatte das Essen gerochen. Er hatte dem verlockenden Duft nicht widerstehen können und war zum Camp zurückgelaufen.
»Ach du Schande!«, murmelte Craig. »Darum geht es also?«
»Was haben Sie denn erwartet?«, entgegnete Blair und legte beschützend den Arm um den Jungen.
Craig schüttelte einfach nur den Kopf, für ihn war das Thema erledigt. Er bückte sich nach seinem Teller und streckte ihn dem kleinen Jungen entgegen. »Guten Appetit, Miguelito. Aber erzähl deinen compadres nichts davon, okay? Mehr gibt es heute Abend nämlich nicht.«
Blair hatte Gewissensbisse, weil sie ihre eigene Portion so schnell hinuntergeschlungen hatte, dass sie dem Jungen nun nichts mehr anbieten konnte. Und wenn sie an das gerade Erlebte dachte, liefen ihr immer noch Schauer über den Rücken. Während ihr überhaupt nichts Verdächtiges aufgefallen war, hatte Craig auf der Stelle und dermaßen professionell reagiert, dass sie dies beunruhigender fand als den Gedanken, heimlich beobachtet worden zu sein.
Er hatte ihr erzählt, dass er in Vietnam gewesen war. Bestimmt hatte er die Feinheiten des Dschungelkampfes dort gelernt. Darüber hinaus fiel es ihr schwer, einem Mann zu misstrauen, der seine wohlverdiente Mahlzeit gerade einem hungrigen Kind überlassen hatte.
»Was werden Sie denn jetzt essen?«, fragte sie ihn leise auf Englisch.
Er zuckte gleichgültig die Achseln. Das wachsame Funkeln war aus seinen Augen gewichen und hatte einer milden Ironie Platz gemacht. »Ich werde irgendwann wieder Hummer Newburg essen. Miguelito höchstwahrscheinlich nie.«
Ja, aber dafür wirst du heute hungern, dachte Blair bewundernd. Craig hatte an diesem Tag gearbeitet wie ein Pferd, und bei seinem Körperbau würde er in der Nacht garantiert quälenden Hunger bekommen.
Miguelito vertilgte den Eintopf in rasender Geschwindigkeit und warf Craig danach einen Blick zu, der nichts weniger als Verehrung verriet. »Muchas gracias, señor«, sagte er schüchtern. »Muchas gracias.«
»De nada, de nada«, antwortete Craig ein wenig ungeduldig. »Und jetzt lauf nach Hause, kleiner Miguel, pronto! Ich möchte dich nicht mehr im Dunkeln durch die Büsche kriechen sehen, das kann gefährlich werden.«
Nachdem der Junge leichtfüßig in Richtung Dorf verschwunden war, ließen sich Craig und Blair wieder unter dem Baum nieder, diesmal allerdings weniger sorglos. Blair hörte sich die gleiche Frage aussprechen, die ihr Tom Hardy wenige Tage zuvor gestellt hatte.
»Wissen Sie vielleicht mehr als ich? Sind wir hier in Gefahr?«
»Nein«, versicherte ihr Craig mit ausdrucksloser Miene. »Soweit ich weiß, sitzt die neue Regierung fest im Sattel.« Das stimmte, für die Mitarbeiter der Hungerhilfe bestand keine Gefahr. Wahrscheinlich war auch Blair nicht in Gefahr. Aber er hatte den Auftrag, sie zu schützen, und er besaß einen scharfen Instinkt. Dank seiner jahrelangen Aufenthalte in krisengeschüttelten Regionen nahm er schon die kleinste Veränderung, einen Lufthauch oder das Rascheln eines Blattes wahr. »Ich mache mir einfach nur Sorgen, wenn Kinder nachts allein draußen sind«, erklärte er und zuckte mit den Schultern.
»Er sollte wirklich nicht draußen sein«, murmelte Blair. »Aber ich bin froh, dass Sie ihm Ihren Teller gegeben haben. Diese Kinder haben so wenig …«
Craig blickte arglos, unschuldig, ganz der nette Junge von nebenan. Nein, kein netter Junge, dafür war er zu beeindruckend, sein Blick zu wissend. Und es war zu aufwühlend, in seiner Nähe zu sein.
»Noch ein wenig Wein?«, fragte er lächelnd. »Ich glaube, es sind noch ein paar Flaschen übrig.« Mit einer galanten Verbeugung nahm er ihr den verbeulten Becher aus der Hand. »Erlauben Sie, meine Dame.«
Er trat zu den anderen an das Feuer, um die »Gläser« aufzufüllen. Blair beobachtete ihn und hörte ihn mit ihren Kollegen plaudern und lachen. Er hatte das gesamte Team für sich eingenommen. Das war ja auch kein Wunder. Selbst in der dicht bevölkerten, zivilisierten Welt wäre er eine eindrucksvolle Erscheinung. Hier draußen war er geradezu ein Wunder. Er war intelligent, kraftvoll, großzügig, geduldig, kein Drückeberger und hatte einen scharfen Verstand. Er war höflich, zuvorkommend, freundlich und außerdem atemberaubend attraktiv.
War Craig Taylor vielleicht ein Fantasiegebilde?
O nein, er existierte wirklich und kam nun mit funkelnden Augen zu ihr zurück. In seinem schlichten Hemd und der engen Jeans sah er aufregend gut aus. Er nahm beide Becher in eine Hand und streckte ihr die andere entgegen.
»Lust auf einen Spaziergang im Mondschein?«
Blair blickte skeptisch gen Himmel, an dem eine schmale, nur schwach glimmende Mondsichel hing.
»Schon gut.« Er lachte leise. »Wie wäre es mit einem Spaziergang im Licht der Sterne?«
Der Nachthimmel war übersät mit Sternen.
»Ich weiß nicht«, erwiderte sie und erhob sich trotzdem. »Sollten große Kinder nachts allein draußen sein?«
»Nur, wenn ich dabei bin«, gab er sanft zurück und zog leicht die Augenbrauen hoch. »Der Bach ist nachts bestimmt wunderschön …«
Sie gingen tatsächlich spazieren, schlenderten in ihre Unterhaltung vertieft langsam zum Bach hinunter und ließen sich an derselben Stelle des Ufers nieder wie zuvor. Nachts war der Dschungel wie ein Garten Eden: Der Hibiskus verströmte seinen Duft, das Gras war wie ein weicher Teppich, der Wasserfall rauschte und der Tümpel spiegelte den Mond wider und glitzerte wie ein Meer von Diamanten.
Blair vergaß Raum und Zeit, vergaß, wer sie war, vergaß sogar, sich zu fragen, wer er war …. Auf einmal war alles so leicht. Sie redeten über Bücher, Musik, Filme und ihre Lieblingsgerichte. Über nichts allzu Persönliches oder Kontroverses. Und während sie miteinander plauderten, legte er irgendwann ganz selbstverständlich den Arm um ihre Schultern. Blair protestierte nicht, sondern begann nach einiger Zeit ebenso selbstverständlich, langsam mit den Fingern über seine Hand zu streichen.
Noch nie hatte sie sich bei einem Mann so wohl gefühlt, so sicher – und dennoch so angenehm erregt. Sie genoss das Gefühl, ihren Kopf an seine Schulter zu lehnen, seine Stärke zu spüren und seinen herrlich maskulinen Geruch einzuatmen, der wie eine Droge auf sie wirkte.
Nach einer Weile erhob er sich und half ihr auf. »Wir sollten jetzt besser zurückgehen«, sagte er bedauernd, und seine Stimme klang heiser und ein wenig angespannt. Er zog seinen Arm nicht weg, machte jedoch keine Anstalten, sie zu küssen, und sie empfand ein merkwürdiges Gefühl der Enttäuschung. Sie war sicher, dass er sie gern geküsst hätte und sich lediglich zurückhielt.
Das Lagerfeuer im Camp war bis auf die gelb-rote Glut heruntergebrannt und lag verlassen. Die anderen hatten sich bereits in ihre Zelte zurückgezogen.
Craig begleitete Blair zu ihrem Zelt und blieb vor dem Eingang stehen. Seine goldenen Augen kamen ihr magischer und eindringlicher vor als jedes Feuer. Für einen Moment gaben sie seine Gefühle preis, und Blair entdeckte in ihnen das Verlangen, das sie zu sehen gehofft hatte, und die Anspannung und das Bedauern, die sie zuvor in seiner Stimme gehört hatte.
Sie befeuchtete ihre Lippen und war sich nicht bewusst, dass ihr die Sehnsucht nach dem bisher Unerfüllten deutlich in das Gesicht geschrieben stand. Craig hatte den Eindruck, zwei Smaragde vor sich zu haben, die schimmerten wie das Meer und seinen Blick erwiderten. Als sie ihm ihren Kopf entgegenhob, fiel ihr Haar wie ein tiefroter Wasserfall über ihren Rücken. Ihre vollen Lippen glänzten, waren leicht geöffnet und wirkten unwiderstehlich einladend.
Ein Stöhnen stieg in ihm auf, jagte Schauer durch seinen Körper und entrang sich seiner Kehle als keuchender Laut der Begierde. Verdammt, er war keine Maschine, kein verfluchter Roboter.
Hungrig presste er seine Lippen auf die ihren. Er war leidenschaftlich und zärtlich, er forderte und eroberte. Seine Zunge drang tief in ihren Mund, der diesem Angriff willig nachgab. Er trank ihren reinen, wohl riechenden Duft, der ihn verführte wie nichts zuvor.
Zum ersten Mal in seinem Leben verlor er die Kontrolle.
Und er verlor sie völlig, während ihr Mund feucht auf dem seinen lag. Anfangs hatten ihre Lippen gezögert, nicht erschrocken, aber scheu. Doch nun waren sie wie eine Blume, die sich an den ersten Sonnenstrahlen berauscht. Blair entgegnete seine Zärtlichkeit, als sei sie ein behütetes junges Mädchen, sie lernte und gab dann mit einer Schönheit zurück, die all seine Sinne durchtränkte. Er hielt sie in den Armen, und sie war so weich, so anschmiegsam, so wundervoll weiblich und warm.
Blair erbebte und stieß einen tiefen, ächzenden Laut aus, ohne es zu bemerken.
Craigs Berührung war alles, was sie je gewollt hatte, und noch mehr. Die Empfindungen, die er mit seinem sinnlichen, hungrigen Mund in ihr auslöste, versetzten sie in einen glückseligen Rausch. Ihr Körper drückte sich zitternd an seinen. Mit jeder Bewegung seiner Zunge, jedem Streicheln seiner Hände zeigt er ihr, dass sie eine Frau war, und riss sie mit sich in eine wilde, hemmungslose Selbstvergessenheit. Sie spürte, wie gut ihr dieser Mann tat, nach der langen Zeit der Einsamkeit, und dass ihre Gefühle nun ebenso beteiligt waren wie ihr Körper.
Seine Finger wühlten sich in ihr Haar, leidenschaftlich und Besitz ergreifend. Sie wollte sich nie wieder von ihm lösen. Seine Wärme durchdrang ihre Haut und sein Kuss entfachte ein Feuer in ihr, das nicht mehr zu löschen war.
Zu spät, viel zu spät wurde ihr klar, dass sie es gewesen war, die ihm ihre Lippen angeboten und dann durstig und voller Erstaunen alles genommen hatte, was seine raue, maskuline Leidenschaft ihr geben konnte.
Doch da sie ihm im Gegenzug ein Stück ihres Herzens geschenkt hatte, konnte sie ihm nichts mehr verweigern …
Sein Mund löste sich von ihren Lippen, aber er zog sie fester an sich und hielt sie, während sie Atem schöpften und sich ihr rasender Herzschlag langsam beruhigte.
Er war wieder Herr der Lage. Sein Verstand hatte die Sehnsucht seines Körpers in Ketten gelegt, doch sein Körper hasste ihn dafür.
Zur Hölle, nach diesem Auftrag würde er definitiv den Dienst quittieren.
Blair kam langsam wieder zur Besinnung. Er war wirklich ein ungewöhnlicher Mann, denn er hätte alles haben können, was er wollte. Oder hatte er die Angst gespürt, die sie trotz ihrer Erregung immer noch empfand?
Er gab sie frei, umfasste sanft ihr Kinn und flüsterte: »Gute Nacht, Blair.« Dann drehte er sich um, steckte die Hände in die Hosentaschen, ballte sie frustriert zu Fäusten und ging an dem verlöschenden Lagerfeuer vorbei zu seinem eigenen Zelt auf der anderen Seite des Geländes.
Blair sah ihm nach mit einem Kloß im Hals und musste sich eingestehen, dass sie dabei war, sich in diesen Mann zu verlieben, obwohl er im Grunde zugegeben hatte, dass in seinem Leben kein Platz für eine Bindung war.
Aber es war so wunderbar, wieder etwas zu empfinden. Es war sogar wundervoll, zu lieben, wenn diese Liebe nur Schmerz bringen konnte.
Wahrscheinlich war er gegangen, weil er wusste, dass er ihr keine dauerhafte Beziehung bieten konnte. Aber sie war davon überzeugt, dass er sie ebenso begehrte wie sie ihn.
Sie wollte ihn, und wenn es nur für eine Nacht war, oder nur für eine Stunde. Obwohl sie ihm nicht über den Weg traute.
Innerlich bebend betrat Blair ihr Zelt. Sie zog sich mit zitternden Händen aus und schlüpfte in ein langes Baumwollhemd. Selbst als sie schon im Bett lag und das grüne Leinendach anstarrte, hämmerte ihr Herz noch.
Craig würde viel Zeit haben, Vertrauen in ihr zu wecken. Er gehörte nun zum Team, also würde sie ihn Tag für Tag sehen.
Ja, sie begehrte ihn. Aber der Gedanke, ihn womöglich tatsächlich zu bekommen, jagte ihr Angst ein und verhalf ihr zu einer schlaflosen Nacht.
Craig Taylor zog sich in sein Zelt zurück, doch anstatt wenigstens ein paar Stunden zu schlafen, starrte auch er mit leerem Blick auf grünes Leinen.
Noch nie in seinem Leben hatte er eine Frau so sehr begehrt, und er war sich schmerzlich bewusst, dass sein Verlangen diesmal weit über körperliche Anziehungskraft hinausging.
Es war nicht nur Chemie … es war elektrisierend, eine Kraft, die mit nichts zu vergleichen war, was er bisher erlebt hatte. Und er ließ sich davon betören, verzaubern … Es lag in der Meerestiefe ihrer Augen, im weichen Klang ihrer Stimme, in ihrem natürlichen Stolz, in ihrer Hingabe, ihrem Mitgefühl, ihrer Intelligenz …
Moment mal, ermahnte er sich und bemerkte, dass ihm ein Schauer über den Rücken lief. Fünf Tage waren vergangen. Nur fünf lausige Tage. Wie sollte er in Zukunft damit umgehen, wenn eines Nachts …
Kein noch so hartes Training hätte verhindern können, dass er sich erbärmlich fühlte, und zwar vor allem deswegen, weil er zum ersten Mal dermaßen in den Bann geschlagen war.
Stunden vergingen und die vereinbarte Zeit kam. Lautlos entfernte sich Craig vom Camp. Niemand sah ihn, niemand hörte ihn, während er wie ein Schatten durch den Dschungel glitt.
Um Mitternacht erreichte er eine Lichtung. Gewitterblitze schienen das umliegende Blattwerk zu streifen. Aber es waren keine Blitze, sondern ein Code, den Craig mit seiner Taschenlampe und in rasender Geschwindigkeit von der Lichtung zu einer Hügelkuppe funkte.
BIN ANGEKOMMEN … STOPP … ALLES OKAY … STOPP
Die Antwort kam sofort.
BIS AUF WEITERES STELLUNG HALTEN … STOPP
Die Dschungelkatze schlich im Schutz der Nacht zurück.