Читать книгу In 18 Morden um die Welt - Heidi Troi - Страница 15

Ingrid Werner Die grüne Göttin

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Apoll, in den letzten 2000 Jahren leicht gealtert, sitzt auf einem Stein und singt. Mit den zotteligen Locken und dem gebräunten, ehemals muskulösen, jetzt nur noch nackten Oberkörper könnte man ihn für einen übrig gebliebenen Hippie halten. Um ihn herum die frühsommerstrotzende Macchia, aus der Ginsterbüsche wie knallgelbe Ausrufezeichen hervorleuchten. Bienen umsummen den blühenden Salbei, weiße Schmetterlinge spielen Fangen und eine Ziegenherde zieht meckernd vorüber. Von seiner Position aus kann Apoll den Blick hinunter auf die Bucht von Gerakas genießen. Das Meer liegt satt und träge in der Sonne.

Er schlägt seine Lyra an. »Zakynthos, Du Sohn des Dardanos, Prinz von Troja …«

»Apoll, ich bitte dich, Bruder, halte ein!« Artemis, auch ihre langen Haare inzwischen ergraut, lässt sich vom Pferd gleiten. Der Köcher mit den Pfeilen und der silberne Bogen landen unsanft im Oreganobusch.

»Schwester, was hast du für eine schlechte Laune?«

»Ach.« Sie schenkt ihm einen tiefen Seufzer. »Mir ist sterbenslangweilig.«

Apoll verdreht die Augen. Diese Leier kennt er zur Genüge. »Das mit dem Sterben funktioniert aber nicht, meine Gute.« Er entlockt dem Instrument ein paar Töne. »Lass uns stattdessen singen! Zakynthos, Du …«

»Bloß nicht!« Sie hält sich die Ohren zu. »Gehen wir hinunter. Wir waren schon lange nicht mehr bei Nikos. Lass uns schauen, was die Menschen so treiben.«

»Von mir aus.« Behutsam legt er die Lyra beiseite und sieht sich nach einem Hemd um.

»Beeil dich doch!«

»Sigá, sigá, meine Gute, langsam, langsam. Ich komm ja schon.«

Die göttlichen Zwillinge entschweben, um sich im nächsten Augenblick in der Taverne Nikos am blaugestrichenen Holztisch wiederzufinden. Die Bougainvillea über ihnen nickt im leichten Wind und gleich hinter der niedrigen Steinmauer glitzert das Meer, glatt wie Olivenöl. Vom Strand weht der Geruch von Sonnencreme zu ihnen herüber.

An den Nebentischen ist einiges los. Die einen beenden gerade ihr Frühstück, die anderen bestellen schon den griechischen Salat und ein Glas Weißwein zum Mittagessen. Theodoros, der Kellner, läuft mit einem voll beladenen Tablett auf der Schulter an ihnen vorüber.

Apoll hebt die Hand. »Einen Frappé mit Milch, ohne Zucker, und für mich einen Elenikó, halbsüß, parakaló.«

Prompt steht das Gewünschte vor ihnen. Theodoros kann nicht aus seiner Haut. Schnelligkeit war schon immer sein Ding und Götter bedient er am liebsten. Im letzten Jahrhundert änderte er seinen Namen. Er war es leid, immer über die dummen Witze der Touristen zu lachen. Was sind schon internationale Paketdienste im Vergleich zu seinen Fähigkeiten?

Abends wird hier noch mehr los sein und die Klientel wechseln. Das Nikos ist im ganzen Ionischen Meer für seine Fischspezialitäten bekannt. Die Genießer kommen in Scharen. Per Jeep oder auch per Yacht.

Gerade legt wieder eines dieser weißen Schiffchen am Steg vor der Taverne an. Die Bootsbesatzung, in blau-weiß geringelten T-Shirts, springt an Land, um die Taue festzumachen. Auch wenn die Yacht noch so viel Reichtum ausstrahlt, interessiert das höchstens die Touristen, die Einheimischen haben sich längst daran gewöhnt.

Mit dem Strohhalm sticht Artemis im hohen Kaffeeglas zwischen den Eiswürfeln hindurch, es klackert vergnügt. Ihre Augen saugen jede Bewegung der Menschen auf, ihre Ohren sind gespitzt. Stimmengewirr und Sprachgebabel sind für sie kein Problem. Sie liebt es, auszukundschaften, was die Sterblichen umtreibt. Liebesgeflüster, Eifersuchtsdramen, Bruderzwist, das alles erinnert sie an zu Hause und lässt sie sentimental werden. Wie lange war sie schon nicht mehr im Olymp!

Apoll hat sich zurückgelehnt und summt ein Lied. Plötzlich stößt Artemis ihm den Ellbogen in die Seite. Er schrickt auf. »Was?«

»Scht …. leise«, raunt sie ihm zu. »Schau jetzt nicht hin, aber da hinten vor der Küchentür steht so ein Ringel-Seemann und ordert bei Nikos selbst das Abendessen für seine Herrschaft.«

Apoll entspannt sich und senkt die Lider. »Das ist ja nichts Neues.«

Sie brummt. »Wenn es sich dabei aber um eine Fischsuppe aus Caretta Caretta handelt, schon.« Ihre grünen Augen funkeln erbost. »Selbst die Menschen sind inzwischen zu der Einsicht gekommen, dass die Wasserschildkröten geschützt werden müssen. Die sind nicht zum Essen da!«

Nun ist Apoll doch wach. Behutsam dreht er seinen Kopf nach hinten, um einen Blick auf die Szene zu werfen. Da piekt sie ihn mit dem Strohhalm in die Brust, er fährt herum. »Au!«

»Du sollst dich nicht umdrehen, hab ich gesagt!« Ihre Stimme ist rau vor Wut. »Wenn ich doch nur meinen Bogen dabeihätte, dann würd ich den Mann erledigen, auf der Stelle.«

Apoll schüttelt den Kopf. »Du weißt doch, dass wir keine Macht mehr über die Menschen haben. Die Funk- und Handystrahlen haben unseren Kräften den Garaus gemacht. Nur das bisschen Metamorphose und Teleportieren ist uns noch geblieben. Dein giftgetränkter Pfeil könnte ihre Haut noch nicht einmal einritzen. Vergiss es.« Er macht eine wegwerfende Handbewegung. »Sie sind selber schuld, wenn sie alles ausrotten. Auch sich selbst. Am Schluss werden nur noch wir übrig bleiben. Dann wird es sein wie zu Anbeginn der Zeit.« Verträumt schaut er aufs Meer.

Artemis hat ihm nicht richtig zugehört. Das macht sie nie, wenn er etwas erzählt, was nicht in ihrem Sinne ist. Sie beobachtet intensiv das Geschehen vor der Küchentür. Nach einer kurzen Diskussion nickt der Gastwirt und putzt sich seine Hände am weißen Geschirrtuch ab. Der Matrose schlägt ihm auf die Schulter und wendet sich mit einem Grinsen zum Gehen. Einem schmierigen, wie Artemis findet. Ihre Nase ist spitz vor lauter Ärger.

»Ich werde mit Poseidon sprechen«, sagt sie mehr zu sich selbst als zu ihrem Bruder. »Er soll sich darum kümmern, die Schildkröte ist schließlich eins seiner Geschöpfe.«

»Was soll er denn dagegen ausrichten?«

Artemis blubbert mit dem Halm Luft in den Rest ihres Frappés und spricht durch die kaum geöffneten Zahnreihen. »Die brodelnde Lava eines Vulkans unter Wasser überschüttet das Schiff und zieht es in die Tiefen, hinab zu den Seeungeheuern, die damit ihren Schabernack treiben.« Sie richtet sich auf und gestikuliert mit den Händen. »Ein Wasserbeben türmt Wellen zu haushohen Wogen und begräbt die Schänder der Natur unter sich. Das …«

»Poseidon hat dafür keine Zeit«, unterbricht sie ihr Bruder. »Hast du das vergessen? Er muss sich um die Türken kümmern.«

»Stimmt.« Sie schlägt mit der Hand auf den Tisch. »Dann mach ich das. Sag du dem Wirt, dass sich die Bestellung von diesem Seemann erledigt hat. Adio.« Sie schnappt sich ihre lederne Umhängetasche und eilt dem Matrosen hinterher. Im Lauf wandeln sich ihre grauen Haare zu einem schimmernden Rot und die Falten in ihrem Gesicht verschwinden. Ihre Figur muss sie nicht verjüngen, die Jagd trainiert den Körper in ausreichendem Maße, nur die Oberweite plustert sie ein wenig auf. Die langen Hosenbeine verkürzen sich zu knappen Shorts und aus den Reitstiefeln werden Flip-Flops.

»Wartet auf mich!«

Der Typ betritt bereits den Steg, als sie ihn eingeholt hat. Sie tippt ihm auf die Schulter. »Fahrt Ihr vielleicht nach Marathonisi hinüber, guter Mann?« Diese Information hat sie von seinem Gespräch mit dem Wirt aufgeschnappt.

Er schaut sie misstrauisch an. »Wer will das wissen?«

»Na, ich!« Ihre Augen werden groß und strahlen – wie sie hofft – voller Unschuld. »Ich müsste dringend nach Marathonisi. Ich habe gestern mein Portemonnaie am Strand liegen lassen und jetzt kein Geld, um mir noch mal ein Schiff zu chartern. Könntet Ihr mir helfen?« Sie klimpert mit dichtem Wimpernkranz und reckt ihm den straffen Busen entgegen. Diese Bewegung fängt sofort seinen Blick. Mit der Aufmerksamkeit in ihrem Dekolletee schiebt er die Mütze nach hinten und kratzt sich am Kopf.

»Da muss ich erst mal fragen. Warte hier.« Er schwingt sich an Deck. Bald darauf tritt ein Mann aus der Kabine. Die hellen Haare reichen ihm bis zum Kragen seines schwarzen Hemdes und die Goldkette blinkt in der Sonne. Zwar verdeckt die Ombre-Brille seine Augenpartie, trotzdem kann sie nicht verstecken, dass er die Fünfzig schon weit überschritten hat. Hinter ihm erscheint eine Frau, blondiert und mit allerlei kostspieligen Tricks auf Neunundvierzig getrimmt. Beide starren Artemis an. Die winkt und lächelt, obwohl sie die taxierenden Blicke der beiden körperlich spürt.

Das Paar berät sich – oder besser gesagt, die Frau redet auf den Mann ein und hält ihn am Ärmel fest, als er einen Schritt nach vorn machen will. Er schüttelt ihre Hand ab und geht an die Reling.

»Du willst also nach Marathonisi?«, ruft er zu Artemis hinüber.

Die nickt heftig mit dem Kopf.

»Du hast Glück. Wir brechen gerade dorthin auf. Komm an Bord.«

Artemis wirft die Arme in die Luft. »Wunderbar! Danke! Danke! Danke!« Leichtfüßig springt sie an Deck.

Der Mann reicht ihr beide Hände und grinst wie ein Haifisch. »Willkommen! Schön, dass du unser bescheidenes Boot mit deiner Anwesenheit bereicherst. Wir lieben Gäste.« Seine Frau dreht sich ohne ein Wort um und verschwindet in der Kabine. Unbeeindruckt fährt er fort: »Besonders wenn sie so charmant sind wie du.« Er neigt sich über ihre Hand.

Dieser Schmalzbacken, denkt sich Artemis. Mit dem hab ich ein leichtes Spiel.

Sie legen ab und die Yacht nimmt Kurs aufs offene Meer. Der Mann führt Artemis zur strahlend weißen Sitzgruppe und lässt Champagner kommen. Oliver heißt er, ein Selfmademan, der jetzt mit seiner Frau Olga die eingeheimsten Millionen unters Volk bringt. Diese Info scheint sein üblicher Gesprächseinstieg zu sein.

Artemis räkelt sich in den Kissen und stößt mit ihm an. »Ein prächtiges Boot habt Ihr.« Sie schaut sich um. »Und schnell. Da müssen die Sklaven sich mächtig in die Ruder hängen.«

Nach einer kurzen Stille lacht er schallend los. »Humor hast du auch!« Er schlägt sich auf die Oberschenkel. »Schön und witzig, das findet man nicht alle Tage.«

Sie lässt ihren Blick türkisgrün werden. »Seid Ihr oft in Hellas unterwegs?«

»Hellas? Hä? Ach, Griechenland. Nein, das ist das erste Mal. Bisher war es uns zu …« Er schwingt die Hand durch die Luft, um den passenden Ausdruck einzufangen. »… zu popelig.«

Artemis stockt der Atem. Oliver merkt nichts davon, fährt in schwärmerischem Ton fort. »Wir waren in der Karibik, das ist ein Wasser! Und diese kaffeebraunen Schönheiten sind auch nicht zu verachten.« Er hebt mehrmals die Augenbrauen. »Danach Kuba, Tahiti, Hawaii, die Seychellen, die Malediven und Mauritius. Du merkst, wir haben alles gesehen.«

»Und jetzt geben wir dem alten Europa eine Chance.« Olga ist hinter sie getreten, beugt sich vor und schenkt sich ebenfalls ein. Sie hat sich umgezogen. Ein hautenger Jumpsuit zeigt detailliert die Künste der Chirurgie. »Zakynthos ist unsere erste Station. Bis jetzt ist es erträglich nett.«

»Wie bitte?« Artemis verbirgt ihre Entrüstung. Aber sie möchte schon gern wissen, warum dieses Kleinod einer Insel im wunderbarsten Land der Erde nur erträglich nett sein soll.

Olga gleitet auf den Platz neben ihrem Mann und schlägt die langen Beine über. »Nun ja, das Meer ist ganz passabel. Die Strände sind so lala. Die Sprache einfach unverständlich und das Essen ungenießbar.«

Artemis steht der Mund offen. Bevor sie etwas erwidern kann, kommt ihr Oliver zuvor. »Wenn man sich nicht selbst darum kümmert, dass man etwas Ordentliches auf den Tisch bekommt.«

Ah, jetzt sind wir am Punkt, denkt Artemis und wendet sich ihm zu. »Eine Dorade zum Beispiel, sanft über dem Feuer gegrillt.« Sie küsst ihre Fingerspitzen. »Köstlich!«

Olivers Lächeln changiert ins Mitleidige. »Für die einfachen Gemüter. Sicher. Aber wir leben für das Besondere, nicht wahr, Olga?« Er prostet seiner Frau zu, dann lehnt er sich zu Artemis hinüber und sagt in vertraulichem Ton: »Heute Abend zum Beispiel gibt es Schildkrötensuppe. Das ist wahrhaft köstlich. Wenn du willst, sei unser Gast.«

»Danke.« Artemis schluckt ihre eigentliche Erwiderung hinunter. »Die Einladung nehme ich gern an. Aber … darf man Schildkröten jagen? Sind die nicht geschützt?«

»Ach was! Das geht schon in Ordnung. Vassilis hier hat das mit dem Wirt klargemacht. Für Geld bekommt man alles.« Er schwenkt die leere Flasche und ruft. »Vassilis, mehr Schampus!«

Das Paar trinkt, Artemis schüttet den Alkohol in unbeobachteten Augenblicken über Bord. Sie gönnt sich manchmal ein Glas von ihrem Artemisia-Likör, aber dieses zügellose Bechern würde nur Dionysios gefallen. Die Yacht umrundet das Kap Gerakas und biegt in die Bucht von Laganas ein. Rechts erstreckt sich ein langer Sandstrand, in der Mitte breitet sich das Dorf Laganas mit seinen bunt zusammengewürfelten Häusern aus und links lässt ein Gebirgszug die Küste steil ansteigen. Der Bucht vorgelagert liegen zwei kleine Inseln. Die größere hat die Form einer dem offenen Meer zutreibenden Schildkröte: Marathonisi. Der Steuermann drosselt die Geschwindigkeit.

»Was ist passiert? Warum werden wir langsamer? Ist das Ding kaputt?« Olga stupst Oliver an. »Mach doch was!«

Der schreit: »Vassilis, was soll das? Go on! Volle Kanne voraus!«

»Wir sind im Nationalen Meerespark«, brüllt der zurück. »Da dürfen wir nicht schneller.«

»Egal. Hau drauf!« Oliver stößt sein Glas in die Luft, dass der Champagner über den Rand schwappt.

»Das kostet Strafe.«

»Was soll‘s! Gib Gas! Wir sind hier nicht auf ‘ner Kaffeefahrt!«

Die Yacht beschleunigt, dass die drei in die Sitze gedrückt werden. Olga jauchzt.

Artemis streckt die Hand aus und zeigt auf einen kleinen schwarzen Punkt, der aus der glatten Meeresoberfläche ragt. »Schaut, dort!«

Die anderen sehen in die angezeigte Richtung und kneifen die Augen zusammen. »Ihhh! Ist das eine Schlange?«, kreischt Olga.

»Nein.« Artemis muss gegen den Brechreiz ankämpfen, der so viel Ignoranz bei ihr auslöst. »Das ist eine Caretta Caretta, eine Wasserschildkröte, sie streckt beim Schwimmen den Kopf aus dem Meer. Ist sie nicht wunderschön?«

»Vassilis, da entlang! Fahr drüber! Dann kommt die auch in die Suppe!« Oliver winkt mit beiden Armen in Richtung der Schildkröte und die Yacht beschreibt eine Kurve.

Artemis verschlägt es die Sprache. Das Schicksal der beiden ist besiegelt. War es schon von Anfang an, aber jetzt wird sie sich die grausamste, ekelerregendste, widerwärtigste Tötungsmethode für sie ausdenken, die in den letzten Aeonen erschaffen wurde.

Wenn sie bloß ihre alte Macht hätte! Sie stöhnt. So muss sie sich wohl etwas anderes überlegen.

Die Caretta taucht unter, die Yacht schwenkt auf ihren Kurs zurück und steuert Marathonisi an.

»Wollt Ihr noch mehr Schildkröten sehen?«, fragt Artemis in neutralem Ton. »Dann müssen wir auf die Westseite der Insel, zu den Grotten.«

»Grotten? Wie cool«, kommt es von Olga, und Oliver gibt die Anweisung, die Insel zu umrunden. »Wir bringen einfach selbst ein paar Viecher mit, wer weiß, ob der Grieche das hinkriegt.« Seine Sprache ist bereits etwas verwaschen.

Sie sind an der Rückseite der Insel angekommen. Kein anderes Schiff ist hier unterwegs. Niemand schwimmt im azurblauen Meer. Im Schritttempo passieren sie den steinernen Bogen, der die Einfahrt markiert, tauchen in die Kühle der Grotte ein. Meter um Meter verschwindet der wärmende Sonnenschein. Am Anfang werfen die sanften Wellen noch glitzerblaue Spiegelungen an die Felswände. Aber je weiter sie vordringen, desto farbloser wird die Welt. Die Augen müssen sich erst an die Düsternis gewöhnen. Alles erscheint grau in grau.

»Da sind wir«, ruft Artemis aus, schleudert die Flip-Flops von den Füßen und springt ins Wasser. »Kommt! Ich zeige euch, wo die Schildkröten ihre Nester haben.«

Oliver will, dass die Yacht hier ankert. Aber der Skipper weigert sich diesmal standhaft. Er könne seine Lizenz verlieren.

»Lass ihn doch fahren«, mischt sich Artemis in den Disput. »Er soll uns einfach in zwei Stunden wieder abholen. Wir amüsieren uns schon.« Sie zwinkert Oliver zu und hat ihn bereits überzeugt.

Olga braucht mehr Überredung. Aber die Aussicht, ihren Mann mit dieser Nymphe allein zu lassen, bringt sie am Ende doch dazu, sich in die Arme von Oliver fallen zu lassen, der sie – ganz Gentleman – ans Ufer trägt und vorsichtig auf ihren hohen Hacken abstellt. Gemeinsam sehen sie der Yacht zu, wie sie im Schneckentempo rückwärts aus der Grotte fährt. Nun sind sie allein.

Artemis klatscht in die Hände. »Dann wollen wir mal.« Sie zieht sich das T-Shirt über den Kopf, steigt aus den Shorts und steht im knappen Bikini vor ihnen. In Olivers Augen tritt ein lüsterner Glanz. Die Göttin hängt sich ihre Tasche quer über die Schulter und schaut die beiden auffordernd an. »Hab ich nicht gesagt, dass wir ein bisschen schwimmen müssen? Ihr habt ja sicherlich auch Badezeug unter euren Sachen an.«

»Schwimmen? Wohin?« Olga fröstelt und sieht wenig begeistert aus.

»Na, weiter in die Grotte hinein. Dort hinten sind die Nester. Habt Ihr schon mal Schildkröteneier geschlürft? Besser als jede Auster. Eine Speise für Götter!« Artemis spekuliert darauf, dass die zwei keine Ahnung haben. Eiablage in kühlen Grotten? Na klar.

Die beiden sehen sich unschlüssig an.

»Ihr werdet doch keine Angst haben, so weitgereist wie Ihr seid? Ein kleines Abenteuer peppt jeden Urlaub auf.« Artemis steigt in das niedrige Becken und spritzt neckisch etwas Wasser auf Oliver.

»Na, komm schon!«

Er knöpft sein Hemd auf.

»Du willst doch nicht wirklich da reinsteigen?« Olga fährt sich über die nackten Arme, um die Gänsehaut zu verjagen. »Mir ist kalt. Ich will hier weg.« Sie schaut zum Ausgang der Grotte, aber auch dahin müsste sie schwimmen, die Felsen werden steil in Richtung Meer, es gibt keinen Pfad, der aus der Grotte hinausführt.

Langsam geht Artemis rückwärts, weiter in die Grotte hinein, lockt Oliver mit schlängelnden Fingern hinter sich her. Er lässt sein Hemd fallen und steigt ebenfalls ins Wasser.

»Oliver«, schreit Olga, »bleib bei mir!« Aber ihr Gatte hört nicht, stattdessen folgt er Artemis, die mit kräftigen Bewegungen in die Dunkelheit schwimmt.

Mit einem Fluch schmeißt sich Olga ins Wasser und krault hinter ihnen her.

Nach einer Weile passieren sie eine Engstelle. Die kalten Wände lassen nur einen schmalen Durchgang und streichen den Dreien, als sie sich hindurchquetschen, mit eisigen Händen über die Haut. Dahinter eröffnet sich eine noch größere Kuppel. Weit über ihnen klafft ein Spalt im Felsen und Licht fällt wie sonnengelbe Fäden auf sie hinunter, lässt die nassen Steinwände funkeln.

Das Wasser wird seichter. Artemis gelangt als erste ans Ufer, steigt vorsichtig über den glitschigen Boden hinauf. Sie weiß, unter den grünen Algenflusen spitzen Muscheln mit scharfer Schale hervor. Die anderen wissen das nicht.

Kaum steht sie außerhalb des Wassers, schon hört sie hinter sich Schreie und Platschen. Olga kreischt, schon wieder, nur diesmal zu Recht. Der abschüssige Algenteppich verweigert ihr den Halt, lässt sie auf die Spitzen fallen und mit Händen und Knien über die Muschelkanten schaben. Mit Mühe kann Oliver sie nach oben, nach draußen schieben. Er selbst blutet aus mehreren Schnitten.

»Was zum Teufel machen wir hier?« Seine Stimme übertönt mit Leichtigkeit das hysterische Weinen seiner Frau.

»Ihr wolltet doch Schildkröten jagen. Hier gibt es die größten.« Artemis nimmt die Tasche von ihrer Schulter. »Aber lasst uns auf den Schreck erst einmal etwas trinken. Setzt Euch auf den Felsen.« Ohne sich um den tobenden Oliver zu kümmern, holt sie eine Flasche heraus und öffnet sie. Nach einem kräftigen Schluck hält sie das Gefäß Olga an den Mund. »Hier trinkt. Danach geht es Euch gleich besser.«

»Was … was ist das?« Hicksend und mit verweinten Augen schaut Olga zu ihr auf.

»Ein Heilmittel aus Kräutern der Insel. Mein Bruder braut das für mich. Er kennt sich aus. Artemisia und anderes. Trink ruhig. Trink.«

Vorsichtig nimmt Olga einen Schluck und verzieht das Gesicht. Artemis beobachtet sie, wartet auf die gewünschte Reaktion. Und tatsächlich: Schon nach kurzer Zeit entspannen sich die Gesichtszüge der anderen. »Das ist gut. Es tut schon gar nicht mehr weh.« Sie setzt die Flasche gleich noch einmal an.

Jetzt kommt auch Oliver näher. Sein Kopf ist rot vom Schreien, Haarsträhnen kleben an seiner Stirn. Er reißt seiner Frau die Flasche aus der Hand. Mit großen Schlucken rinnt die Flüssigkeit durch seinen Hals, der Adamsapfel springt. »Ah.« Er fährt sich mit dem Handrücken über den Mund. »Das tut gut. Was ist das?« Er sucht ein Etikett. Vergebens.

Artemis lächelt ihn an. »Artemisia, auch Wermut genannt. Ein Heilmittel. Gegen alle Art von Unbill.«

Olga robbt zu ihm, packt sein nasses Hosenbein, zieht sich hoch. »Lass mir noch etwas übrig. Gib her!« Die Flasche wechselt wieder zu ihr. Sie trinkt gierig. Manches läuft daneben, ihren Hals hinunter. Sie verschmiert die Flüssigkeit über ihrer Brust, lässt sie über die zerschnittenen Handflächen rinnen. Stöhnt.

Oliver entwindet ihr die Flasche. »Das ist nicht alles für dich, du Schnepfe.« Er legt den Kopf zurück, es gluckert laut. Der Inhalt der Flasche scheint grenzenlos.

»Was ist das?« Olga schreit auf. »Da! Lauter Krabben! Sie kommen auf uns zu! Oliver, mach sie weg!«

»Wo? Ich sehe nichts.«

»Da!« Olga springt auf und trampelt mit den Füßen. »Sie sind überall! Überall!«

»Du spinnst.« Er schwenkt die Flasche. »Ich sehe nichts. Gar nichts. Das bildest du dir nur ein.« Er nimmt einen großen Schluck. Rülpst.

Olga kreischt schon wieder. Springt herum, versucht, Krabben zu zertreten, die nur sie sieht.

Artemis gleitet zurück ins Wasser. Sie ist zufrieden mit dem Lauf der Dinge. Alles entwickelt sich, wie sie es wollte. Ihre Arbeit ist getan, sie kann sich zurückziehen. In Rückenlage schwimmt sie zu der Engstelle zurück, die beiden fest im Blick. Oliver hat die Arme ausgebreitet, lallt vor sich hin und tanzt Sirtaki. Alexis Zorbas ist nichts gegen ihn. Plötzlich verharrt er. Erstarrt. Mit unsicheren Schritten fällt er zurück, bis er an die Felswand stößt. Die Flasche in der ausgestreckten Hand zittert. »Eine …eine Schild… Schildkröte. Uahhh! Riesig. Sie kommt, sie kommt auf mich zu. Sperrt ihr Maul auf. Sie will mich fressen. Was …? Hilfe! Hilfeeee!«

Artemis drückt sich durch den Spalt. Sie weiß, die beiden sind beschäftigt. Werden weiterhin beschäftigt sein. Artemisia absinthium gemischt mit ein paar Tropfen Atropa belladonna wirkt. Halluzinationen. Wahnvorstellungen. Desorientierung. Die beiden toben sich aus – und werden nie mehr ans Tageslicht finden.

Apoll hebt sein Glas Ouzo. »Auf den guten Ausgang der Geschichte. Yamas

»Yamas!« Artemis stößt mit ihm an. »Die beiden haben bekommen, was sie verdienten. Ein Fluch liege auf ihrer Asche.«

»Asche wird es von denen nicht geben.« Er kichert. »Die Fische werden sie fressen.«

»Oder die Caretta.« Artemis fällt in sein Lachen ein. Als sie den Wirt auf sich zukommen sieht, wird sie wieder ernst. Sie winkt ihn heran.

»Nikos, mein Freund, auf ein Wort.« Sie schenkt ihm einen Ouzo ein und reicht ihm das Glas. »Du wolltest den Reichen nicht wirklich eine Schildkrötensuppe kredenzen, oder?«

Der Wirt winkt ab. »Wo denkst du hin? Ich hatte das Kalbfleisch schon gekauft. Das Ganze mit Karkassen aufgekocht und sie hätten nie im Leben den Unterschied gemerkt. Ist ja nicht das erste Mal, dass solche Idioten das bestellen.«

Artemis reißt freudig das Glas in die Höhe. »Ein Hoch auf unsere Köche!«

»Ein Hoch auf die Caretta!«

»Ein Hoch auf Hellas!«

Die Gläser klingen.

Und vor ihnen versinkt die Sonne blutrot im Meer.

In 18 Morden um die Welt

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