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DER MANN AUS SAMANGAN

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WENN DER BLITZ EINSCHLÄGT

Schließlich rollt sie auf die Startbahn. Stolz und zielgerichtet. Diese große, weiße Maschine, die mich wieder nach Hause bringen soll. Es beginnt zu regnen. Die kleinen Fenster des Flugzeugs sind überzogen von dicken Regentropfen, die die bunten Lichter der Startbahn verzerren und wie ein Netz aus bunten Lichtern aussehen lassen. Beruhigend und aufregend zugleich, wie in der Silvesternacht zuvor. Leider sitze ich diesmal nicht am Fenster. Diesmal leistete ich mir keinen Fensterplatz, nachdem es schon mein dritter Flug nach Paris, innerhalb kürzester Zeit ist. Ich fühle mich traurig, weil ich nicht länger bei ihm bleiben konnte, und weil ich ihn nicht mit nach Hause nehmen kann. Dort, wo er eigentlich sein sollte! Ich vermisse ihn in meiner Wohnung, in der ich mit ihm so viele Monate lang glücklich war. Die Kraft des Flugzeugs drückt mich gegen die Rückenlehne. Ich liebe dieses fantastische Gefühl, wenn die Maschine ihre Höchstgeschwindigkeit aufbaut und bis zur Take-off Geschwindigkeit steigert. Dann - dieses befreiende und angenehme Gefühl des Abhebens – der Schwerelosigkeit, der Leichtigkeit. Das Flugzeug schwingt sich hinauf in die Lüfte und verschwindet im Nebel, der wegen des Regens, der Erde bereits sehr nah gekommen ist. Zurück bleiben die bunten Lichter, die schönen Erinnerungen und ein geliebter Mensch.

„Nein, wir können uns leider heute nicht treffen. Ich habe den Jungs versprochen, dass ich sie heute besuche“, erklärte ich meiner Freundin Sabrina und es tat mir leid, weil eigentlich wollte ich mich gerne mit ihr treffen. „Ich habe es versprochen und das schaut dann blöd aus, wenn ich jetzt absage.“ – „Okay“, sagte sie schließlich. „Dann feiern wir deinen Geburtstag eben nächste Woche nach, weil morgen geht’s bei mir nicht“, schlug sie vor. So kam es, dass ich mich am Nachmittag vor meinem 47. Geburtstag, dem 8. Februar, auf den Weg machte, um meine afghanischen Freunde zu besuchen. Es waren vier Burschen im Alter von 20 bis 30 Jahren. Hamid und Arash hatte ich eine Saisonarbeit besorgt, bei Sahel hatte ich leider weniger Glück und Farid kam erst gar nicht in meine Beratung, weil er dachte, dass es ihm sowieso nichts bringen würde. Ich kannte ihn nicht. Die vier Jungs lebten zusammen in einer kleinen Wohnung. Ich arbeite seit vielen Jahren selbstständig als Sozialberaterin und Trainerin. Ich konnte mir meine Aufträge halbwegs aussuchen und zahlte brav, aber nie pünktlich, die unmöglichen, hohen Steuer- und Versicherungssätze. Aus politischen Gründen wurden aber dann meine Aufträge immer weniger und ich verlor einige davon, weil anscheinend die Öffentlichkeit an sozialen Hilfen und an Sozialprojekten kein Interesse mehr hatte. So verlor ich auch meinen Auftrag als Jobcoach, bei dem ich genau diese drei Afghanen kennlernte. Ja, der Kampf um die Arbeit, gerade im Sozialbereich, wurde immer schwieriger und ich hatte Geldsorgen wie noch in keinem Jahr zuvor. Aber dennoch war es mir wichtig, die drei Jungs zu besuchen und mich trotzdem weiter um sie zu kümmern. Sie waren alle in einer schlechten Situation, weil sie immer noch Asylbewerber waren, die darauf hofften, endlich einen positiven Bescheid zu bekommen.

Die Wohnung der Jungs war im Innenhof eines alten Bauernhofes, mitten in einem idyllischen Dorf. Die Eingangstür zur Wohnung der vier Jungs, war eine normale, weiße Zimmertür mit einem Glasteil darin. Die Tür erinnerte an eine alte Küchentür. Weil ich nirgends eine Klingel entdeckte, klopfte ich an die Glasscheibe. Der grüne Stoffvorhang, der den Blick in die Wohnung verdeckte, wurde ein Stück weit aufgezogen und Hamid schaute mir fröhlich lachend entgegen. Schnell öffnete er die Tür. „Hallo Adriana! Herzlich willkommen!“, begrüßte er mich. Während wir uns umarmten, kamen auch Sahel und Arash, um mich zu begrüßen. Sie freuten sich, als sie mich vor ihrer Tür sahen. In dem Moment wusste ich, dass es richtig war, hierher zu kommen. Sie haben extra für mich die Wohnung geputzt. Es war eine kleine, muffige Wohnung, in der vor Feuchtigkeit der Putz von der Wand bröckelte. Ich setzte mich auf die durchgesessene, grüne Couch und wartete auf den Grünen Tee, der mir frisch und heiß serviert wurde. Die drei setzten sich entspannt auf die anderen Sitzmöbel. Ich hatte für Hamid ein paar Monate vorher einen Brief verfasst, damit er seine Chancen auf einen positiven Bescheid eventuell verbessern konnte. „Es wird schon“, sagte Hamid. „Ich werde sicher Positiv bekommen!“ Er wirkte sehr zuversichtlich. Während wir eine Zeit lang so plauderten, ging die Eingangstür auf und er kam herein: Farid. Er hatte eine schwarze Eisbär-Mütze tief in seine Stirn gezogen und warf mir mit seinen schwarzen Augen einen Blick zu, der mich in der Sekunde wie ein Pfeil traf. Ich hatte das Gefühl, für ein paar Sekunden keine zu Luft bekommen. „Hallo Adriana“, sagte er sanft und reichte mir die Hand. „Schön, dich kennenzulernen! Ich habe ja schon viel von dir gehört!“, sagte er weiter. „Hallo Farid“, antwortete ich verlegen und versuchte ihm frech die Mütze wegzunehmen. Aber eigentlich war es nur ein Versuch, meine Unsicherheit zu verbergen, die ich momentan empfand. „Nein, ich will nicht, dass du mich so siehst“, erklärte er. „Ich war beim Friseur und ich bin nicht zufrieden mit dem Ergebnis.“ Er setzte sich auf die Couch daneben und nahm auch einen Tee für sich selbst. Die Mütze behielt er auf. Wir unterhielten uns weiter, aber es war von diesem Moment an anders für mich. Plötzlich achtete ich besser darauf, was ich sagte und wie ich wirkte. Immer wieder zupfte ich meine Haare zurecht. Nachdem wir eine Stunde lang geplaudert haben, schlug Hamid vor: „Komm! Wir gehen jetzt Pizza essen!“ Er sprang von seiner Couch auf. „Wir wollen dich einladen, weil du so viel für uns gemacht hast.“ Ich wollte das eigentlich nicht und wehrte ab. Aber es gelang mir nicht. Die vier bestanden darauf, dass ich mit ihnen essen gehe. Also verließen wir die kleine, muffige Wohnung und gingen hinaus in den kalten, dunklen Februarabend. Ich war stolz, mit den vier Jungs die Pizzeria betreten zu dürfen. Mit vier attraktiven, jungen Männern unterwegs zu sein, putzte mein Ego stark auf. Die Leute schauten skeptisch. Egal, was sie dachten. Was die Leute denken, war mir schon lange egal. Ich wollte den Abend mit meinen Freunden genießen. Farid setzte sich neben mich und versuchte mich immer wieder zu necken. Wir hatten sehr viel Spaß an diesem Abend. Und es war schon spürbar, dass er auch Interesse an mir zeigte. „Weißt du überhaupt wie alt Adriana ist?“, fragte plötzlich Hamid seinen Freund. „Ja natürlich“, antwortete Farid. Ja, ich bin 20 Jahre älter als er. Aber es fühlte sich so an, als wäre ich keinen Tag älter als diese Jungs. Ich fühlte keinen Unterschied. „Mir ist es egal, wie alt sie ist“, sagte Farid weiter.

Und so verging der Abend mit viel Lachen und Flirten. Es war allen klar, dass auch er Interesse an mir hatte. Der Funkenflug war wohl kaum zu übersehen. „Ich begleite dich noch zum Auto“, sagte Farid, als wir nach einigen gemeinsamen Selfies auf dem Stadtplatz, wieder auf das Wohnhaus der Jungs zugingen. Ich war froh, dass er mich alleine begleiten wollte. Insgeheim habe ich genau darauf gewartet und es wäre zu schade gewesen, wenn ich mich einfach nur verabschiedet hätte und nach Hause gefahren wäre. Aber es kam so, wie ich es mir gewünscht hatte. Farid begleitete mich bis zum Auto. Beim Auto standen wir noch lange und redeten über seine Situation. Darüber, dass er eigentlich schon seit Monaten das Land verlassen müsste, weil er vom obersten Gericht einen negativen Bescheid erhalten hat. Er hat sogar schon eine Polizeistrafe bekommen, weil er immer noch im Land war. Eine Polizeistrafe über eine lächerlich hohe Summe, die er als Asylbewerber natürlich niemals zahlen konnte. Und so unterhielten wir uns noch lange beim Auto, bis er mich plötzlich fragte: „Darf ich dich küssen?“ Genau das war der Moment, auf den ich die ganze Zeit gewartet habe. Ich nickte leicht und lächelte, während ich mich zu ihm drehte. Es war ein intensiver, heißer Kuss. Obwohl ich in meinem Leben schon viel erlebt und auch viele Erfahrungen in Beziehungen gemacht habe, muss ich sagen, dass dieser Kuss unvergleichbar war. Einzigartig! Genau wie sein Name! Farid bedeutet „einzigartig, einmalig, wertvoll“ – genau die Eigenschaften, die ich unmittelbar bei ihm spürte. Ich kannte ihn nicht und hatte ihn auch nie zuvor gesehen, aber ich wusste, dass er für mich tatsächlich einzigartig und wertvoll war. Man muss nicht unbedingt jemanden lange kennen, um diese Verbundenheit spüren zu können. Dass diese Küsse von Farid etwas Einzigartiges für mich bedeuteten war mir klar, wie noch nie zuvor bei einem Mann. Ich spürte sofort, dass da mehr war zwischen uns! Eine sehr tiefe Verbundenheit! Es fühlte sich an, als würden wir uns schon ewig kennen. Es war, als hätten wir uns wiedergefunden. Seine Küsse waren so feurig wie Blitze am Himmel. Er war der Seelenpartner, den ich in meinem Leben noch treffen sollte. Ich wusste es vom ersten Moment an, als ich ihm in seine dunklen Augen schaute. Es war ein Gefühl der tiefsten Vertrautheit. Und nicht nur das! Es war so, als würde ich ihn schon seit einer Ewigkeit kennen! Ich fühlte mich glücklich, weil ich ihn endlich gefunden hatte! Sofort wusste ich, dass ich ihn liebte In Vergangenheit du Zukunft.

Von den vielen Beziehungen und Bekanntschaften, die ich in meinem Leben hatte, habe ich die wahre Liebe nur zweimal kennengelernt. Farid war dieser Zweite und ich wusste, dass ich diese Liebe nicht mehr verlieren wollte. Meine Mutter hat mir einmal gestanden, dass sie, obwohl sie zweimal verheiratet war, nie in ihrem Leben einen Mann wirklich geliebt hatte, und dass sie überzeugt war, gar nicht zu wissen, was Liebe eigentlich ist. Es ist für mich auch heute noch sehr traurig, wenn ich an diese Worte von meiner Mutter denke. Vor allem an den traurigen Blick, den sie damals machte, als sie mir das erzählte. Allein der Gedanke an diesen Satz schmerzt mein Herz immer wieder. Meine Mutter war zum Schluss leider ein todunglücklicher Mensch. Sie starb mit dem Gefühl, etwas im Leben versäumt zu haben. Der Tod ist nichts Schlimmes – schlimm ist nur, dass die meisten Menschen nie richtig gelebt haben! Meine Mutter zählte leider zu diesen Menschen. Zu spät hat sie erkannt, dass Geld und Luxusgüter, die Liebe nicht ersetzen können, und vor allem, dass diese materiellen Dinge nicht in die Ewigkeit mitgenommen werden können. Die Liebe aber schon!

Die Liebe nimmst du mit auf deinen Seelenweg, wenn dieses Leben zu Ende ist! Nichts ist schlimmer als die Erkenntnis, dass man in seinem Leben nie wirklich geliebt hat. Welchen Wert hat das Leben denn ohne Liebe? Ich glaube, keinen. Ich war mehr als vier Jahre single nach meiner letzten Beziehung und hatte während dieser vier Jahre auch mehrere Männerbekanntschaften. Aber es war niemand dabei, der es auch nur annähernd in mein Herz geschafft hätte. Die Liebe begegnet einem eben nicht oft und nur mit Glück begegnet sie uns überhaupt. Sie trifft dich genauso selten wie ein Blitz dich treffen kann. Ich wünschte mir dieses tiefe Gefühl der Liebe so sehr! Das Gefühl, für einen Menschen alles tun zu wollen und für ihn immer da zu sein. Und dann traf mich Farid mit seinem Blick wie ein Pfeil ins Herz. Niemand weiß, wie sich das Herz entscheidet. Niemand kann sich aussuchen, in wen er sich verliebt. Es ist ein geheimnisvolles, mystisches Band, das uns verbindet. Wir kennen die Wege nicht, die unsere Seelen wählen, um einander wiederzufinden. Oder gibt es überhaupt nur eine Seele, die nach ihren Anteilen sucht? Es war so schön, dieses Gefühl zu spüren. „Soll ich mit dir nach Hause fahren?“, fragte er plötzlich und zitterte vor Kälte. Zuerst war ich geschockt über diese Frage und lehnte erstmal ab. Aber dann dachte ich mir, was ist schon dabei? Ich habe morgen Geburtstag! Ich werde morgen 47 Jahre alt! Warum sollte ich ihn nicht einfach als mein schönstes Geburtstagsgeschenk mit nach Hause nehmen? Ein ganz besonderes Geschenk. Und ich stellte mir vor, wie ich alleine nach Hause fahre und mich ärgern würde, wenn ich ihn nicht mitnehme. Ich möchte in meinem Leben nichts mehr bereuen müssen. Und am meisten bereut man die Dinge, die man nicht getan hat. Es gab schon zu viele Dinge in meinem Leben, die ich aus Angst vermieden hatte. Also wandelte ich mein Nein in ein Ja um und wir machten uns auf den Weg. Wir hatten fast eine Stunde Fahrt vor uns. Ich war sehr aufgeregt und angespannt, aber ich glaube, ihm ging es nicht anders. In meiner Wohnung wartete mein Hund Felix. Felix ist ein süßer, rotbrauner Cocker Spaniel. Eigentlich wollte ich ihn gar nicht so lange allein lassen. Nachdem wir kurz mit Felix draußen waren, stürzten wir uns aufeinander. Farids Küsse waren elektrisierend! Er war fordernd und wenn er mich zwischen den Küssen anschaute, konnte ich dieses starke Feuer zwischen uns spüren. Seine fast schwarzen Augen zogen mich in ihren Bann und fesselten mich in den tiefsten Abgründen meiner Seele.

Wir standen immer noch im Vorraum und genossen dieses unbeschreibliche Gefühl des Verlangens. Fordernd streifte ich ihm seine Lederjacke von den Schultern. Er zog langsam den Reißverschluss meiner Jacke hinunter. Wir küssten uns die ganze Zeit, während ein Kleidungsstück nach dem anderen auf dem Boden landete. Die Energie zwischen uns steigerte sich ins Extreme. Wenn ich meine Augen schloss, konnte ich dieses lodernde Feuer zwischen uns spüren. Nein, wir schafften es nicht einmal bis ins Schlafzimmer, so groß war das gegenseitige Verlangen. Als würden wir miteinander tanzen, bewegten wir uns eng umschlungen auf die Couch zu. Und schon spürte ich die kalte Ledercouch auf meinem Rücken. Sie war nicht lange kalt. Schnell wurde sie heiß! Unsere beiden Körper heizten sie viel zu schnell auf. Ich genoss es, wie er auf mir lag. Meine Finger gruben sich in seinen Rücken, um dann wieder sanft über seine muskulösen Schultern und Arme zu streicheln. Dann begannen wir küssend den Körper des anderen zu erforschen. Es war wie eine ekstatische Reise durchs Universum. Ich verlor jedes Gefühl für Zeit und Raum. Es schien mir, als würde es nur noch Farid und mich auf dieser Welt geben. Wir ließen uns sehr viel Zeit für das feurige Liebesspiel und wir hatten es nicht eilig, zum eigentlichen Höhepunkt zu kommen. Obwohl wir beide gierig danach waren, endlich miteinander zu schlafen, wollten wir dennoch intuitiv damit warten, um dieses lodernde Feuer noch weiter zu entfachen. Wir wollten es so weit hinauszögern, bis es nicht mehr auszuhalten war. Wir drehten und bewegten uns in alle Richtungen, um keinen Zentimeter unserer Körper zu vernachlässigen.

Er saß auf der Couch, als ich begann, seinen Körper mit meinem Mund zu erforschen. Seine durchtrainierte Statur und seine Männlichkeit, ließ mich noch tiefer in dieses ekstatische Gefühl verfallen. Wie ein Cowboy schwang ich mich schließlich auf meinen wildgewordene Hengst. Es musste sein – plötzlich konnte ich es nicht mehr länger aushalten! Seine Hände umfassten meine Taille und gaben einen strengen Rhythmus vor. Noch nie zuvor hatte ich einen lustvolleren Höhepunkt. Farid war mir so fremd und gleichzeitig so vertraut. Danach blieben wir noch lange in dieser Position. Wir konnten nicht aufstehen – als hätten wir Drogen genommen – so intensiv und berauschend war dieses Erlebnis. Erst als es uns auf der Couch allmählich zu kalt wurde, schafften wir den Weg ins Badezimmer und dann ins Bett. „Wahnsinn! Es ist schon 2.00 Uhr!“, bemerkte er. „Alles Gute zum Geburtstag“, sagte er dann sanft und küsste mich wieder. Die Zeit ist tatsächlich relativ! Unsere erste sexuelle Begegnung dauerte zwischen einer gefühlten halben Stunde und einer Ewigkeit. Irgendwo zwischen einer halben Stunde und der Ewigkeit lag die Wahrheit – sofern es sie gab. Nach einer kurzen Ruhepause wurden seine Küsse wieder fordernder. So wie es aussah, dachte er nicht daran, in dieser Nacht zu schlafen.

Wir liebten uns die ganze Nacht. Immer wieder und wieder. Geschlafen haben wir nur zwei Stunden. Ich wollte diesen Moment – diese Nacht – für immer festhalten. Ich wusste, in welcher Situation er war und ich wusste jetzt schon, dass ich ihn liebte, obwohl ich ihn erst ein paar Stunden kannte. Für die echte Liebe ist es egal, wie lange man sich kennt. Man spürt es sofort. Liebe muss sich nicht entwickeln. Es ist ein Gefühl, tiefster Verbundenheit – wenn es echt ist. Ein Zauber, der uns umgibt und der uns jede Sekunde an diesen Menschen denken lässt.

Und dann wollte er plötzlich weg. Ich machte Frühstück. „Ich muss heute noch einem Freund helfen“, sagte er. Ich war schon ein bisschen enttäuscht, weil ich eigentlich hoffte, dass er mit mir meinen ganzen Geburtstag verbringen würde. Aber ich wollte ihm das auch nicht so sagen. Auf keinen Fall wollte ich mich aufdrängen! Wenn jemand nicht bleiben will, dann möchte ich ihn auch nicht aufhalten. Plötzlich fiel mein Blick auf seinen Unterarm. Ich bemerkte vier runde Narben, mit jeweils etwa zwei Zentimetern Durchmesser, die sehr eigenartig aussahen. „Was ist das?“, fragte ich neugierig und zeigte auf die Narben hin. „Das habe ich mir selbst angetan“, antwortete er. „Ich habe mich mit Zigaretten verbrannt, als ich erst ganz kurz in Österreich war“, erzählte er weiter. Er erklärte mir, wie angespannt, unter Strom und völlig überfordert er war, von dem Stress, den er während der Flucht erlebte und auch von dem Stress, dem er in seiner Heimat über die ganzen Jahre hindurch ausgesetzt war. Völlig unbewusst verbrannte er sich selbst, als dieser Stress in Österreich – in der vermeintlichen Sicherheit – dann nachließ. Er hat keine Schmerzen dabei gespürt. Sein Bewusstsein war während dieser langen Jahre des Krieges und der Angst vor den Taliban und von der Angst, auch diese Flucht eventuell nicht zu überleben, so abgespalten, dass er sich selbst überhaupt nicht mehr spüren konnte. Ich will nicht immer davon sprechen, wie leid er mir tat und wie sehr sein persönliches Schicksal in meiner Seele brannte. An sehr vielen Stellen meiner Geschichte wird diese Tatsache erwähnt, weil ich nur aus meinem Herzen sprechen kann und mich in meinen Empfindungen nicht einschränken möchte. Dennoch soll mein Mitleid nicht seine Existenz als Mann schmälern. Seine Lebensgeschichte bereitet mir immer Seelenschmerz, wenn ich daran denke, aber gleichzeitig auch Stolz und Bewunderung, so einen Menschen zu kennen und zu lieben. Sanft streichelte ich mit einem Finger über seine Narben. Zu gerne wollte ich seine Wunden heilen. Die sichtbaren und die unsichtbaren. Dann begann er mich zu drängen. „Komm, fahren wir jetzt bitte!“, sagte er. „Um 10.00 Uhr geht mein Zug!“ Wir tranken unseren Kaffee aus und gingen zum Auto. Während der Fahrt wussten wir beide nicht, was wir miteinander reden sollten. Die ganze Zeit überlegte ich, was ich sagen könnte, damit wir uns wieder treffen. Auf keinen Fall wollte ich, dass das nur ein One-Night-Stand war. Andererseits wollte ich mich auf keinen Fall aufdrängen. „Ich werde dich nicht anrufen und dir auch nicht schreiben“, sagte ich zu ihm, bevor er aus meinem Auto ausstieg. „Warum nicht?“, fragte er. „Weil ich mich nicht aufdrängen möchte“, gab ich zur Antwort. „Wenn du mich treffen willst, dann musst du dich bei mir melden.“ – „Okay“, sagte er, küsste mich noch einmal und stieg aus. Da war es. Dieses Gefühl des unglücklich-Verliebtseins. Dieses Gefühl, dass er vielleicht nicht genauso empfand wie ich. Das Gefühl, sich in irgendeine hoffnungslose Sache zu verlaufen, aus der man nur schwer wieder rausfinden konnte. Das Gefühl, jemandem begegnet zu sein, der einem das Herz brechen konnte. Es gibt nur wenige Seelenpartner, die uns im Leben begegnen. Nicht nur in sexuellen oder partnerschaftlichen Beziehungen. Ich glaube, unsere Bestimmung ist es, diese Seelenpartner wiederzufinden. Man trifft sie nicht an jeder Straßenecke! Sie begegnen einem zufällig. Ich nenne sie auch Engel, weil sie einen Meilenstein für unsere persönliche und vor allem emotionale Entwicklung bedeuten. Manche dieser Engel begleiten einen nur kurz und hinterlassen gewaltige Spuren in unserer Seele. Sie unterstützen uns bei wichtigen Aufgaben. Andere bleiben für immer, oder zumindest für eine lange Zeit. Aber sie alle haben eines gemeinsam: Sie sind uns schon in einigen Leben vorher begegnet und mit einigen verbindet uns sogar die Ewigkeit. Wenn ich mir den Tod vorstelle, dann stelle ich mir einen Bahnhof vor. Einen ganz alten, einsamen Bahnhof, mit einem alten, verlassenen Wartehäuschen. Wenn deine Todesstunde dann bevorsteht, rollt ganz langsam und leise ein uralter Zug ein und bleibt direkt vor dir stehen, sodass du nur noch von deiner Bank, auf der du geduldig auf diesen Zug gewartet hast, aufstehen musst. Sobald du aufgestanden bist, öffnet sich die Tür des Waggons. Du gehst auf diese offene Tür zu und steigst ein. Vielleicht ängstlich – vielleicht traurig – vielleicht aber auch voller Hoffnung und Freude? Niemand außer dir befindet sich in dem Zug und du wählst einen Platz am Fenster aus. Der Zug rollt an und fährt mit dir durch bekannte Landschaften und Situationen. Du siehst alle Plätze, die du in deinem Leben gesehen hast und die für dich eine Bedeutung hatten. Du siehst spezielle und prägende Situationen aus deinem Leben. Du lächelst, während du durch die Fensterscheibe deine Lebensgeschichte im Vorbeifahren siehst. Auf diese Weise kannst du das Gesamtbild gut erkennen und du freust dich über die Bilder, die du siehst. Bilder aus einer Vergangenheit, die bisher noch deine Vergangenheit war und nun immer mehr und mehr zu einer Geschichte wird, die anscheinend irgendjemand irgendwann erzählt hat. Mit der Zeit hast du genügend Abstand zu den Bildern deines Lebens bekommen, sodass du dich nun auf das Ziel deiner Reise freust und die vorbeiziehenden Bilder langsam loslässt. Schließlich kommst du am Ziel an. Du spürst, wie der Zug immer langsamer wird und dann an einem Bahnhof anhält, der umgeben ist von einer paradiesischen Landschaft und von unglaublicher Schönheit. Du siehst schon durchs Fenster, wer gekommen ist, um dich von deiner Reise abzuholen. Voller Freude steigst du aus und läufst deinen Lieben, die schon auf dich gewartet haben, entgegen. Du begrüßt die Menschen und Tiere, die du in deinem Leben unendlich geliebt hast und die bereits vor dir an diesen Ort gekommen sind. Du freust dich, sie wiederzusehen. Mit ihnen verbindet dich der Hauch der Ewigkeit und gemeinsam verschmelzt ihr zu hellem Licht, steigt auf und erstrahlt in der reinsten, ewigen Liebe, während unter euch die Illusion des Bahnhofs verschwindet.

Ich fuhr weiter. An diesem Tag wollte ich nicht traurig oder unglücklich verliebt sein. Ich wollte meinen Geburtstag feiern und mir vorstellen, dass er mich auch vermissen wird und an mich denkt. Also traf ich mich mit ein paar Freundinnen und hatte wirklich viel Spaß an diesem Tag. Keine Sorgen wegen Geld oder Liebe belasteten mich. Ich war einfach nur glücklich und auch froh darüber, diesen Geburtstag so dermaßen intensiv erlebt zu haben. Nie würde ich diesen Tag vergessen. Dessen war ich mir bewusst. „Und du hast ihn einfach mitten in der Nacht mit nach Hause genommen, obwohl du ihn noch nie vorher gesehen hast?“, fragte Sabrina erstaunt, als ich ihr von meiner Begegnung mit Farid erzählte. „Der hätte dich vergewaltigen oder ermorden können!“, warnte sie mich. Ich wehrte ab und schüttelte entschlossen den Kopf. Schließlich wusste ich, dass mir nichts passiert wäre. Es war ein Wissen tief in mir! Aber es ist schwierig, jemandem zu erklären, was man selbst tief im Innersten weiß. Also versuchte ich es erst gar nicht.

Die Tage vergingen und Farid meldete sich nicht. Ich schaute sein WhatsApp Profil an. Er war online und meldete sich nicht. Ich schaute auf sein Instagram. Er war online und meldete sich nicht. Mit jedem Tag, der verging, wurde ich immer enttäuschter. Verdammt! Warum habe ich ihm gleich mein Herz gegeben? Das kann doch nicht sein! Ich wusste genau, dass es eben nicht einfach nur ein One-Night-Stand war! Für mich zumindest nicht! Aber leider, vielleicht sah er es anders? Sonst hätte er sich doch sicher gemeldet? Eine Woche später dachte ich nur noch daran, ob ich mich melden sollte. Aber nein! Das wollte ich auf keinen Fall! Wie sieht das denn aus? Erst sage ich ihm, dass er sich melden muss, wenn er Interesse an mir hat und dann melde ich mich? Das geht doch gar nicht! Schließlich machte ich mich auf den Weg nach Hause, nachdem ich meinen Vater besucht habe und blieb noch kurz bei einem Bankomaten stehen. Mein Vater wohnte in meiner Heimatstadt, nicht ganz eine Stunde Fahrt von meiner Wohnung entfernt, zusammen mit seiner Pflegerin. Ich besuchte ihn für gewöhnlich einmal pro Woche. Sehnsüchtig nahm ich das Handy und schaute es beschwörend an. „Warum schreibst du nicht?“, sagte ich laut. Und plötzlich schrieb er wirklich: „Hey! Hallo! Wie geht’s? Möchtest du mich in zwei Stunden vom Bahnhof abholen?“ Überrascht und überglücklich über dieses Lebenszeichen von Farid, gab es für mich nur eine Antwort. Natürlich! Und wie ich möchte! Obwohl ich ein bisschen beleidigt war, weil er sich eine Woche lang nicht gemeldet hat, wollte ich trotzdem meine Enttäuschung nicht zeigen. Ich wollte ihn einfach nur wiedersehen. Wie ein frisch verliebter Teenager fuhr ich schnell nach Hause, räumte meine Wohnung schnell auf und zauberte mir einen verführerischen Style ins Gesicht und auf den Körper. Selbstverständlich war ich rechtzeitig am Bahnhof und wartete im Auto, als er mit zehn Minuten Verspätung aus der Bahnhofshalle marschierte. Mein Herz schlug bis zum Hals hinauf, so aufgeregt war ich und so voller Vorfreude über das, was mich heute Nacht erwarten würde. Und so war es auch. Wir küssten uns im Auto, hielten uns die Hand während der Fahrt und kaum waren wir in meiner Wohnung angekommen, fielen wir übereinander her. Jetzt erst konnte ich ihm sagen, wie enttäuscht ich darüber war, die ganze Woche lang nichts von ihm gehört zu haben. „Mach das nie wieder, weil du bist mir nicht egal!“, flüsterte ich ihm vorwurfsvoll ins Ohr, während ich ihm zärtlich den Hals küsste. Ich konnte den Sex mit ihm so intensiv genießen. Seine feurige Leidenschaft und sein kraftvoller Körper machten mich immer wieder scharf auf ihn. Und so liebten wir uns wieder die ganze Nacht. Es war fantastisch und ich war sehr glücklich und wieder wollte ich diesen Moment – diese Nacht – für immer festhalten. Aber auch diese fantastische Nacht endete und wieder machte ich Frühstück am nächsten Morgen und wieder wollte er spätestens um 10.00 Uhr wieder am Bahnhof sein. Wieder hatte er irgendwas wahnsinnig Wichtiges zu erledigen. Und wieder meldete er sich tagelang nicht. Dieses Spielchen machte mich verrückt. Warum machte er das? Hatte er eine Freundin? War das Absicht? Es war einfach nur grausam! Aber ich wollte ihn nicht weiter darauf ansprechen und ich wollte ihm nicht schreiben. Ich war zu stolz dafür und ich hatte Angst, abgewiesen zu werden.

Als ich eine Woche später meine frische Wäsche in den Kasten legen wollte, überraschte mich ein enormer Hexenschuss. Es war mir unmöglich, mich aufzurichten. „Ach, das ist nur ein Hexenschuss. Der vergeht in ein paar Tagen von selber wieder“, beruhigte ich mich selbst. Farid meldete sich nicht und meine Rückenschmerzen wurden stärker anstatt besser. Sie wurden so stark, dass ich einige Tage später den ärztlichen Notdienst anrufen musste. Der Notdienst konnte mir nicht helfen, das Gelenk war zu sehr verschoben und der Arzt stellte eine eigenartige und schmerzhafte Erhebung in meinem Rücken neben dem Gelenk fest. „Das muss man anschauen lassen“, sagte er. „Ich empfehle Ultraschall. Ich schreibe Ihnen eine Überweisung zum Radiologen.“ So verbrachte ich die nächsten Tage bei Ärzten und Farid meldete sich nicht. Es sind schon fast zwei Wochen vergangen und ich erhielt kein Lebenszeichen von ihm. In so einer Situation, wenn du Angst und Schmerzen hast und niemand ist für dich da, fühlst du dich erst so richtig elend und allein. Kein Lebenspartner – niemand! Du bist völlig allein! Erst dann wird dir bewusst, wie gut es die Menschen haben, die in eine intakte Familie integriert sind. Selbstverständlich riefen mich meine Freunde an! Sabrina fragte täglich nach, wie es mir ging und auch Thomas. Aber niemand war hier bei mir! Niemand nahm mich in den Arm und tröstete mich! Es ist ein Unterschied, ob jemand anruft, oder ob jemand hier bei dir ist. So toll die modernen Technologien auch sind, aber sie können nicht die Anwesenheit eines Menschen ersetzen. „Das ist ein Tumor, drei Zentimeter groß und nicht abgegrenzt“, erklärte mir der Radiologe, nachdem er das Ding in meinem Rücken gefühlte zehn Sekunden untersucht hat. „Das muss sofort operiert werden!“, bemerkte er weiter. Ich war fertig mit den Nerven. Das konnte doch nicht sein! Wieso ein Tumor? Woher kommt das? Plötzlich erinnerte ich mich daran, dass meine Schwägerin mit 48 an Krebs verstorben war. Das ist doch nicht möglich! Wie ferngesteuert fuhr ich nach der Untersuchung nach Hause. Keine Ahnung, mit wem ich während der Fahrt telefoniert habe. Ich war verzweifelt und erschüttert über dieses Ergebnis. Vielleicht war es sogar gut, dass sich Farid überhaupt nicht meldete? Ich wollte mich ihm doch gar nicht so hilflos und schwach zeigen. Er hatte selbst schon genug Probleme, da brauchte er meine Sorgen nicht auch noch! Am nächsten Tag hatte ich Befundbesprechung bei meiner Hausärztin. Ich hoffte darauf, dass sie die Aussage des Radiologen relativieren würde. Es gibt doch immer Ärzte, die maßlos übertreiben! Der Warteraum war voller Leute, die durcheinander husteten und niesten. Und ich saß mitten unter ihnen. Ich, wo ich mich doch noch so jung fühlte! Jung genug, um einen jungen, attraktiven Mann zu lieben! Auf einmal fühlte ich mich schlecht und vor allem hatte ich Angst, dass mein Leben eine dramatische Wendung nehmen könnte. Als mein Name aufgerufen wurde, schämte ich mich, wie eine alte Frau, mit gekrümmten Rücken aufzustehen und in die Praxis zu krabbeln. Die Schmerzen im Rücken waren seit über einer Woche gleichbleibend stark. Es war schon längst nicht mehr nur ein Hexenschuss. Die Ärztin saß mir gegenüber und schaute mich besorgt an. „Ja, leider ist das ein Tumor in Ihrem Rücken“, erklärte sie mit besorgter Stimme. „Ich muss Sie zu einem Chirurgen überweisen. Zu welchem möchten Sie gerne gehen?“, sagte sie weiter. Entsetzen machte sich in meinem Gesicht breit. Ich spürte einen dicken Knoten im Hals und konnte kaum Antwort geben. Mein Herz schlug wie wild und erst jetzt fühlte ich mich wirklich einsam, allein und hilflos. „Ja leider“, sagte die Ärztin weiter. „Wir müssen schnell operieren, damit wir sehen können, ob der Tumor gut- oder bösartig ist.“ Ich war schockiert, aber es half nichts. Wir einigten uns auf einen Chirurgen mit einer eigenen Praxis, denn ich wollte auf keinen Fall ins Krankenhaus gehen. Aufgeregt und völlig fertig mit den Nerven, schnappte ich mir die Überweisung und schleppte mich aus der Ordination hinaus. Der Weg durch den Warteraum und durch den Gang bis zum Empfang beim Eingang, schien mir plötzlich länger zu sein als noch vor zwei Stunden, als ich hierher gekommen bin. „Moment!“, rief mir eine der beiden Assistentinnen nach. „Sie bekommen noch ein Rezept für die Schmerztabletten!“ Das musste ich wohl überhört oder vergessen haben, dass ich noch ein Rezept erhalte. Langsam drehte ich mich um und schleppte mich zu dem Pult. Innerlich kochte ich! Etwas braute sich in mir zusammen, wie eine große, rotierende Kugel. Es war der laute Aufschrei der Verzweiflung, den ich wohl noch eine Weile unterdrücken musste. Ich trommelte unbewusst ein wildes Tremolo auf das Pult. „Hier, bitte!“, sagte die Assistentin und händigte mir das Rezept aus. „Bitte maximal zwei Tabletten am Tag! Wollen Sie einen neuen Termin haben?“ Ich vereinbarte einen Termin für die nächste Woche. Die Ärztin sagte mir schließlich, dass ich bei dem Chirurgen sicher schnell einen Termin bekommen würde. Dann verabschiedete ich mich und schleppte mich gebückt zur Tür hinaus. Jede weitere Sekunde wäre für mich zur Qual geworden. Erst im Auto begann ich laut zu weinen. Warum passiert mir sowas? Ich hatte Angst. Bisher hatte ich immer nur Angst, dass ich nicht genug Geld am Konto hatte, oder einen Job oder Auftrag verlieren könnte. Meine Lebensängste drehten sich meistens um Geld. Schließlich ist Geld das Lebensblut unserer Gesellschaft und irgendwie war ich immer völlig am Limit, egal wie viel ich auch arbeitete. Aber diese Angst jetzt war stärker und wichtiger als die Angst um Geld und Job. Plötzlich lag eine echte Existenzbedrohung vor! Plötzlich relativierten sich alle angstvollen Gedanken aus der Vergangenheit. Ich fühlte mich allein, wie noch nie zuvor und ich war allein! Meine Mutter war schon lange gestorben. Ich konnte nicht einmal sie anrufen, um mich bei ihr auszuweinen! Mein Vater hatte Demenz und außerdem wollte ich ihn nicht auch noch damit belasten. Ich hatte sonst keine Familie, außer meinen Hund. Und auf Farid wartete ich vergebens. Ihm schien es völlig egal zu sein, wie es mir ging. Wahrscheinlich wäre es sowieso keine gute Idee gewesen, die Beziehung gleich mit so einem schweren Problem zu beginnen. Vielleicht war es sogar gut, dass er sich gerade jetzt nicht meldete. Die schlimmsten Bilder stiegen in mir hoch, während ich meine Stirn auf das Lenkrad stützte und meinen Tränen freien Lauf ließ. Ich fühlte mich außerstande, jetzt nach Hause zu fahren. In diesem Moment würde ich jemanden brauchen, der mich in den Arm nimmt und tröstet. „Was willst du denn haben?“, fragte mich meine Mutter immer, wenn ich traurig war und wenn ich Angst vor dem Zahnarzt hatte. Meistens bekam ich dann von ihr eine Marzipanfigur oder ein Eis, damit ich mich wieder etwas besser fühlte. „Mama, ich vermisse dich!“, sagte ich verzweifelt und laut. „Warum hast du mich verlassen? Warum habt ihr mich alle alleine gelassen? Ich schaffe dieses Leben nicht!“ Mir war, als würde meine Mama in diesem Moment neben mir im Auto sitzen und mich liebevoll anschauen. Deshalb schaute ich auf den Beifahrersitz. Tatsächlich saß sie da! Sie hatte ein selbstgeschneidertes, modisches Kleid an und hatte schön frisierte rote, lockige Haare. Sie sah wesentlich jünger aus als in den letzten Jahren ihres Lebens. Um einige Jahrzehnte jünger und sie sah sehr attraktiv und glücklich aus. Ihre Erscheinung wirkte so real, dass ich mich gar nicht anstrengen musste, diese scheinbare Projektion von ihr aufrecht zu erhalten. Ein lieblicher Duft strömte in meine Nase. „Chanel Nr. 5“, der Lieblingsduft meiner Mama. Es war so, als würde sie tatsächlich neben mir sitzen – in der besten Version ihres vergangenen Lebens. Ich war verwirrt und froh zugleich. „Sei nicht so traurig, Mäuschen“, sagte sie mit sanfter Stimme zu mir. „Es wird alles gut, du wirst es sehen!“, fuhr sie fort. Und so beruhigte ich mich wieder einigermaßen. Ich spürte ihre Anwesenheit so stark! Die Energie meiner Mutter füllte den Innenraum meines Autos. „Mach die Untersuchung, denke positiv und du wirst sehen, dass alles gut wird!“, betonte sie. Ich schloss meine Augen und wischte mit einem Arm die Tränen aus meinem Gesicht. Meine Mama konnte mich mit ihren sanften Worten immer schon sehr gut beruhigen. Als ich wieder auf den Beifahrersitz schaute, war sie nicht mehr da. Zurück aber blieb der Duft von „Chanel Nr. 5“.

An diesem Tag belohnte ich mich nicht mit einer Marzipanfigur oder einem Eis. Jetzt erst wusste ich, was es wirklich heißt, wenn die Existenz gefährdet war. Es ging dabei nicht darum, dass man Geld verlieren könnte, oder Aufträge, oder einen Job. Wenn die Gesundheit gefährdet ist, dann ist es das Schlimmste, was passieren kann. Ich weiß nicht mehr, was ich an diesem Tag machte. Ich war wie traumatisiert – wie ferngesteuert. Und Farid meldete sich nicht. Wahrscheinlich fühlte er nicht, was ich fühlte. Wahrscheinlich hat er sich schließlich gedacht, dass ich ihm zu alt bin. Wahrscheinlich hat er ohnehin eine Freundin. Was könnte es sonst für einen Grund geben, dass er immer um 10.00 weg musste? Also beschloss ich, allein weiterzukämpfen. Warum musste ich mein Herz so schnell an diesen Mann verlieren? Ich entschied mich, ein paar Tage in eine ganz ruhige, abgelegene Therme zu fahren. Thomas empfahl mir eine wunderschöne Therme, die noch dazu ein geheimer Tipp war und deshalb nur mäßig besucht wurde. „Komm dort zur Ruhe!“, empfahl er mir. Thomas ist einer meiner besten Freunde und hatte immer einen guten Rat für mich parat. Ich buchte ein Zimmer, schnappte Felix und fuhr am nächsten Tag los.

Glücklicherweise waren in der Therme wirklich kaum Leute und trotzdem schämte ich mich, gebückt wie eine alte Frau zu gehen, weil die Schmerzen im Rücken und vor allem an der Stelle, wo sich der Tumor befand, einfach nicht besser wurden. Im warmen Wasser ging es mir etwas besser. Aber schlimm war der Moment, an dem ich das Wasser verlassen wollte. Einmal hatte ich keine Ahnung, wie ich da rauskommen sollte. Ich wollte schon jemanden um Hilfe bitten. Aber das war mir dann doch zu peinlich. Nach einer Weile begann ich damit, mich in die warme, angenehme Infrarotkabine zu setzen. Die Behandlung dauerte 20 Minuten. Ich nutzte die Zeit, um mich ganz intensiv mit mir selbst zu beschäftigen. Mentaltraining war mein Spezialgebiet in der Beratung. Also konnte ich diese Methode nun für mich selbst einsetzen. Ich arbeitete schon jahrelang damit. Und so programmierte ich mich in der Infrarotkabine auf Gesundheit, auf eine erfolgreiche Zukunft und darauf, den Menschen an meiner Seite zu haben, den ich liebe. Der intensive Gedanke an eine positive Zukunft, zauberte mir wie von selbst ein Lächeln ins Gesicht und ich spürte, wie meine Schmerzen immer weniger und weniger wurden. Ich ließ die Angst einfach los. Sie sollte keinen Platz in meinem Leben einnehmen. Ich wusste, dass ich meine Realität selbst erschaffe. Und wenn ich an Angst dachte, dann würde genau das in mein Leben kommen, wovor ich Angst hatte. So wie es auch in der Bibel steht: „Was du befürchtest, wird über dich kommen!“ Meine finanzielle Situation hatte es mir oft bewiesen, dass ich mit meinen negativen Gedanken darüber nur Negatives erhalten hatte. Und doch fällt es manchmal so schwer, auch mit diesem Wissen, die eigenen Gedanken zu ändern. Aber jetzt ging es um mein Leben! Um Schmerzen, um meine Gesundheit! Deshalb gelang es mir, mich auf eine positive und gesunde Zukunft zu konzentrieren. Insgesamt war ich drei Tage an diesem abgelegenen, einsamen Ort. Mehrmals am Tag machte ich meine Übung zur Selbstheilung und programmierte mich auf Gesundheit, Glück und Liebe. Ich erkundete mit Felix die einsamen Wälder und nach drei Tagen fuhren wir wieder nach Hause. Diesmal aber frei von Schmerzen! Ich konnte auch wieder aufrecht und normal gehen! Aber Farid meldete sich nicht. Ich dachte schon nicht mehr daran, dass er sich überhaupt noch melden würde. Mittlerweile sind drei Wochen vergangen, seit ich ihn zum letzten Mal gesehen habe. „Wahrscheinlich ist es sogar besser so“, sagte ich traurig zu Felix. Felix war immer mein bester Zuhörer. Ihm konnte ich alles sagen und er schien mich immer zu verstehen. „Weißt du“, erzählte ich weiter. „Er hat eine so schlechte Situation in unserem Land. Er darf nicht bleiben. Er muss das Land verlassen. Was will ich mit ihm? Ich kann ihm doch auch nicht helfen? Das wäre nur wieder eine unglückliche Liebe gewesen. Wahrscheinlich ist es besser so. So hatten wir zweimal Spaß und diesen Geburtstag werde ich in meinem Leben nie vergessen! Das ist doch auch schon was, oder nicht?“ Felix schaute mich an und tat so, als würde er jedes Wort verstehen. Er spürte, dass sein Frauli traurig war. Zu Hause machte ich mir ein entspannendes Bad bei Meditationsmusik und Kerzenschein. Um besser entspannen zu können, zündete ich einige Kerzen am Fußende der Badewanne an. Am nächsten Tag war der Termin beim Chirurgen zur Besprechung. Ich fühlte mich schon viel stärker und hatte seit meiner Selbstprogrammierung keine Schmerzen mehr. Das warme Wasser war so angenehm und ich konzentrierte mich nur auf den orientalischen Duft meines Schaumbades und auf die sanften, entspannenden Klänge. „Aua! Was ist das?“, schreckte ich plötzlich aus meinem Entspannungsbad auf. Etwas Heißes ist mir über die Füße gelaufen. Schnell setzte ich mich in der Badewanne auf und tapste im Wasser herum.

Da war was. Eine der Kerzen ist kaputt gegangen wahrscheinlich ist sie schief gestanden. Das Wachs hat sich durch die Kerzenwand einen Weg gebahnt und ist über den Wannenrand in das Wasser gelaufen. Schließlich konnte ich das ausgelaufene Wachs im Wasser ertasten. Ich hob ein seltsames Gebilde heraus. Durch das Wasser wurde das Wachs sofort hart. Es sah aus wie eine wunderschön geformte Lilie, mit dunklen und hellen Blüten. Als ich diese Lilie in meiner Hand sah und bemerkte, wie wunderschön und zufällig diese Blume in meinem Badewasser entstanden ist, hörte ich ganz tief in mir drin meine innere Stimme sagen: „Alles wird gut! Mach dir keine Sorgen!“ Es war ein Gefühl von Freiheit und von einem tiefen Wissen. Ich wusste, mir konnte nichts passieren. Ich wusste, diese Lilie hat mir das Universum geschickt, damit ich fest an mich selbst und an eine gute Zukunft glaubte und mich von dieser Stimme leiten lasse. Auch wenn die Zeiten schwierig waren wusste ich, dass ich nur auf mein Innerstes zu hören brauchte. Diese Lilie gab mir, zusammen mit dem Mentaltraining, das ich gemacht hatte, ein gutes Gefühl und eine unglaubliche Kraft.


Am nächsten Tag fuhr ich zu dem Chirurgen. Ich hatte zu dem Zeitpunkt überhaupt keine Schmerzen mehr. Ich legte mich auf die Liege und der Doktor drückte auf meinem unteren Rücken herum. „Hm“, brummte er. „Wo ist das denn? Wo ist das denn?“ Er drückte eine ganze Weile und ich hatte überhaupt keine Schmerzen dabei. „Ah! Da ist etwas!“, rief er plötzlich. „Naja, so groß wie eine Erbse“, sagte er weiter. „Also die Operation wird sicher komplizierter als dieses Ding ist“, erklärte er mir. „Weil es an einer ungünstigen Stelle ist, gleich beim Becken. Da geht sicher öfters die Naht auf. Also einfach wird die Sache nicht.“ Er schien an dem Ding in meinem Rücken kein besonderes Interesse zu haben. „Also würden Sie sagen, ich sollte das nicht operieren lassen?“, fragte ich ihn. „Das hab ich nicht gesagt“, sagte er. „Das müssen Sie selbst entscheiden. Wollen Sie einen Termin, oder nicht?“ Ich nickte. Der Arzt begleitete mich zur Ordinationshilfe, die beim Eingang ihren Platz hatte und sagte: „Einen Termin im August!“ Dann reichte er mir die Hand, wünschte mir alles Gute und verschwand wieder. Ich war überrascht. „Ein Termin im August? Meine Hausärztin sagte, es wäre dringend und müsste sofort operiert werden?“, fragte ich erstaunt und sah die Ordinationsassistentin verwirrt an. „Wenn der Herr Doktor der Meinung wäre, dass es dringend ist, dann hätten Sie einen Termin nächste Woche bekommen!“, antwortete sie. „Dann brauche ich den Termin im August auch nicht“, erklärte ich ihr, bedankte und verabschiedete mich. Im Auto war ich überzeugt von meiner mentalen Stärke und von dieser mysteriösen Lilie, die ich am Vorabend aus meiner Badewanne, zusammen mit dieser inneren Botschaft erhalten habe. „Es ist viel mehr da, als wir uns vorstellen können“, sagte ich zu mir selbst. „Wir haben unsere Helfer in der Matrix, oder was immer das ist! Es ist alles erfunden und alles ist in uns! Es ist ein Spiel! Aber eigentlich habe ich keine Ahnung, was es wirklich sein soll. Keine Ahnung, was die Wirklichkeit ist!“

Ich meldete mich wieder gesund und erklärte meiner Ärztin, dass ich mich nicht operieren lassen würde. Sie machte einen besorgten Gesichtsausdruck und riet mir trotzdem ganz dringend zu dem Schritt. Trotzdem war sie auch sehr überrascht davon, dass der Chirurg plötzlich den Tumor nur noch als erbsengroß wahrgenommen hat und ich auch überhaupt keine Schmerzen mehr hatte. Sie konnte mich schließlich nicht davon überzeugen, mich operieren zu lassen und so machte ich mich auf den Weg nach Hause, schließlich musste ich meine Arbeit wieder aufnehmen. Ich war ja schließlich selbstständig und für das Laufen meiner Geschäfte selbst verantwortlich. Und ich war zum ersten Mal in 15 Jahren Selbstständigkeit im Krankenstand! Glücklich, motiviert und voller Tatendrang wegen dieser drei Wochen, die mich diese Krankheit beschäftigt hat, habe ich mein Verliebtsein zwar nicht vergessen, aber etwas in den Hintergrund gedrängt. Und genau in dem Moment, wo ich es überhaupt nicht mehr erwartete, schrieb er mir.

Der Mann aus Samangan

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