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2.1.1 Was ist eine Theorie?

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Uneinheitlicher Begriff

Der Begriff „Theorie“ ist reichlich unscharf und wird zwischen sowie innerhalb der Sozial- und Naturwissenschaften ganz uneinheitlich gebraucht. So können ein mathematisches Modell für einen Bergsturz oder konkrete Aussagen über empirisch beobachtbare soziale Zusammenhänge, z.B. das kommunikative Handeln unter Unternehmensgründerinnen und -gründern in Form eines „Netzwerks“, als „Theorie“ bezeichnet werden. Aber auch sozialphilosophische Gesellschaftsentwürfe – wie beispielsweise in der Soziologie die „Theorie sozialer Systeme“ von NIKLAS LUHMANN –, Zukunftsszenarien wie die „Theorie der Individualisierung“ von ULRICH BECK oder Universalentwürfe aus der physikalischen Chemie wie die „Theorie dissipativer Strukturen“ von ILYA PRIGOGINE fallen unter den Begriff der Theorie (alle genannten Theorien spielen auch in der Geographie eine Rolle, siehe z.B. Kap. 3.2.3 und 3.2.4).

Definitionssuche

Sucht man nach Definitionen für den Begriff, so findet man in der Logik (als Lehre vom vernünftigen Schlussfolgern) den allgemeinen Hinweis, dass

„Theorien bestimmte Systeme oder Klassen von Sätzen sind. Die Untersuchungen konzentrieren sich auf ein Studium der Ableitungsbeziehungen, die zwischen den Elementen dieser Klassen bestehen“ (STEGMÜLLER 1973, S. 2).

Folgerichtig versteht eine für die Sozialwissenschaften angepasste Definition unter Theorie „ein System logisch widerspruchsfreier Aussagen über soziale Phänomene“ (ATTESLANDER 1984, S. 23 – Auflage 11 des gleichen Bandes aus dem Jahr 2006 weist interessanterweise keine Definition des Begriffs „Theorie“ mehr auf). Im „Wörterbuch Allgemeine Geographie“ (LESER 1998) findet sich keinerlei Eintrag zu dem Stichwort „Theorie“, während das „Penguin Dictionary of Geography“ gleich drei Definitionen anbietet:

1 in general, an organized body of ideas, an integrated system of hypotheses, put forward as the truth of something, supported bya number of facts relating to it, but sometimes resulting from speculation. 2 scientific, a structure resting on a series of steps of observations and assumptions, each supported by the preceding step, put forward to explain a particular class of phenomena. 3 a process of investigation based on logical or mathematical reasoning rather than on experiment“ (CLARK 2002, S. 421).

Zu einer definitorischen Klärung des Begriffs der Theorie kann diese Aufzählung nur marginal beitragen, denn sie verweist auf drei völlig unterschiedliche Verwendungsaspekte von Theorie: (1) Demnach wäre im allgemeinen Verständnis eine Theorie ein Zusammenschluss von Ideen (oder Hypothesen), die mit Wahrheit zu tun haben; diese Ideen können auf Tatsachen oder aber allein auf Spekulationen beruhen; (2) in der Wissenschaft dagegen sind Theorien eine Struktur, die auf Beobachtung und Annahmen beruht und zur Erklärung einer bestimmten Klasse von Phänomenen dient; und schließlich (3) sind Theorien ein Prozess des logischen Schließens (siehe hierzu auch Kap. 2.3).

Definition Theorie

Den Begriff der Theorie zu klären scheint also keine leichte Angelegenheit zu sein. Ich bevorzuge eine ganz einfache Definition für den Begriff „Theorie“, die meines Erachtens für alle Wissenschaften Geltung hat und die darüber hinaus einen Aspekt betont, der mir wichtig erscheint: Theorien sind Annahmen über kausale Zusammenhänge. Das heißt, beobachtete Phänomene werden über eine Theorie aufeinander bezogen und in einen Ursache-Wirkungs-Zusammenhang gebracht (zur Kausalität siehe Kap. 2.2.4). Zentral ist hier der Begriff der Annahme, denn Theorien sind keine Aussagen über die Realität, sondern Aussagen über Annahmen über die Realität. Dieser Punkt ist zentral, denn auch wenn es eine hohe Korrespondenz zwischen formulierten wissenschaftlichen Theorien und beobachtbaren empirischen Phänomenen gibt, bleibt die Theorie dennoch eine Theorie und damit eine Annahme über kausale Zusammenhänge. Dies berührt auch die Frage, ob und inwieweit Wissenschaft die „Wirklichkeit“ überhaupt erreichen kann (siehe Kap. 2.2.2).

Theorie und Realität

Gerade bei naturwissenschaftlichen Erkenntnissen ist man leicht versucht, Theorien für die Realität zu nehmen, insbesondere wenn sich viele Belege für die Theorie finden lassen. So hat der Biologe JOSEF REICHHOLF aus Anlass des Darwin-Jahres 2009 und in einem Versuch der Auseinandersetzung mit dem Kreationismus bemerkt:

„Evolution ist keine Theorie. […] Die Evolution ist als Geschichte des Lebens ebenso Gegebenheit wie Erdgeschichte und Geschichte des Kosmos; Naturgeschichte eben und nichts anderes“ (REICHHOLF 2009, S. 165, Hervorhebungen H.E.).

Unterschied zwischen Theorie und Objekt

In einer unmittelbaren Antwort darauf hat der Architekturwissenschaftler WOLFGANG SONNE zu Recht darauf hingewiesen, dass es einen „Unterschied zwischen Theorie und Objekt“ gibt, und dass

„die Wissenschaft den Streit [mit dem Kreationismus] argumentativ nur gewinnen kann, gerade indem sie darauf insistiert, dass Darwin eine Theorie entwickelt hat“ (SONNE 2009, S. 272).

Denn nur so sei es möglich, eine Aussage zu belegen oder zu falsifizieren, während für die Schöpfungsgeschichte nichts außer dem Glauben an sie spräche. Verstehen wir die Evolutionstheorie als Tatsache und Gegebenheit, wird die Auseinandersetzung über das Zutreffen oder Nicht-Zutreffen der Evolution oder der Schöpfungsgeschichte zu einem Glaubenskrieg, den – wie bei jedem anderen Glaubenskrieg – niemand gewinnen kann. Über Theorien lässt sich streiten, über Glaubensinhalte nicht.

Nützliche Erkenntnis = wahre Erkenntnis?

Die beiden ursprünglich einmal getrennten Seiten der Wissenschaft – Verstehen auf der einen Seite und die Mittel, die Nützlichkeit auf der anderen Seite – wurden im Laufe der Wissenschaftsgeschichte zu einem Amalgam verschmolzen, so dass der praktische Nutzen der Wissenschaft (z.B. Technik) dazu herhalten muss, wissenschaftliche Theorien für „wahr“ zu halten; dies hat der Wissenschaftshistoriker PETER DEAR an vielen Beispielen aus der Naturwissenschaftsgeschichte gezeigt (DEAR 2006). Dass etwas „funktioniert“, heißt noch lange nicht, dass es ein wissenschaftliches Verständnis darüber gibt oder dass dieses Verständnis „richtig“ ist. Ein Beispiel:

Beispiel Newtons Gravitationsgesetz

Die Gravitation nach ISAAC NEWTON gilt gemeinhin als „Naturgesetz“, als eine physikalische Kraft, die immer und überall Gültigkeit hat. Neue Erkenntnisse über Satellitengalaxien in der Milchstraße bringen jedoch die Astrophysik in gravierende Erklärungsnöte (vgl. METZ et al. 2009, HÄNSSLER 2009; DAMBECK 2009). Diese hat bislang viele unerklärliche Beobachtungen in der Kosmologie mithilfe der so genannten „Dunklen Materie“ erklärt. Unklar ist, ob es diese Substanz überhaupt gibt; die „Dunkle Materie“ dient als eine Art Platzhalter für das Sammelsurium an Beobachtungen, die mit den aktuellen Theorien nicht erklärt werden können, unter anderem eben das Vorhandensein von Satellitengalaxien, in denen extrem schwache Beschleunigungen herrschen. Auch NEWTON hat in seinem Buch „Principa“ von 1687 keine Erklärung für die Gravitation im Sinne des oben genannten „Verstehens“ angeboten, sondern allein eine detaillierte Beschreibung geliefert, die sehr gut zu den Beobachtungen passte (vgl. DEAR 2006, S. 12). Die Theorie

„beschreibt zwar die Alltagseffekte der Schwerkraft auf der Erde, die wir sehen und messen können. Die tatsächliche Physik hinter der Gravitation kennen wir aber noch gar nicht“ (PAVEL KROUPA, Universität Bonn, und CHRISTIAN HENSLER, Universität Wien, in einer Presseerklärung über die Beobachtungen in Satellitengalaxien vom 08. 05. 2009, siehe UNIVERSITÄT WIEN 2009).

Es gibt also eine gewisse Wahrscheinlichkeit, dass wir in einem nicht-newtonschen Universum leben. Verlässt man NEWTONS Theorie der Gravitation, bräuchte man beispielsweise den Platzhalter der „Dunklen Materie“ nicht mehr, um beobachtete Phänomen zu erklären. Es ist nicht das erste Mal, dass NEWTONS Theorie ins Wanken gerät; sie hat im Laufe der Wissenschaftsgeschichte bereits in drei Bereichen ihre Gültigkeit verloren: bei hohen Geschwindigkeiten (durch die Theorie der speziellen Relativität), in der Nähe großer Massen (durch die allgemeine Relativitätstheorie) und bei sehr kleinen Raumabständen (durch die Qantenmechanik).

Klassifikation von Theorien

In der Konsequenz heißt das, Theorien haben eine bestimmte Reichweite, sie gelten in einem bestimmten Kontext und in einem spezifischen Maßstab. Es gibt bislang keine für alle theoretischen Ansätze gültige Ordnung, die es erlauben würde, Theorien eindeutig zu klassifizieren. Für die Erklärungen gesellschaftlicher Phänomene hat der Soziologe RENEENÉ KÖNIG eine viel zitierte Ordnung vorgeschlagen, in der er Theorien nach dem Maß ihres wachsenden Abstraktionsgrades sortiert hat (vgl. KÖNIG 1973, S. 4 sowie Abb. 1):


Abb. 1: Abstraktionsgrad von Theorien und Häufigkeit ihrer empirischen Überprüfung (leicht verändert nach ATTESLANDER 2006, S. 30)

 Demnach ist die bloße Beobachtung von empirischen Regelmäßigkeiten nur eine deskriptive Feststellung von Erscheinungen; sie lassen in der Regel eine auch nur teilweise Erklärung (Theorie) über das Entstehen der beobachteten Regelmäßigkeit vermissen.

 Dagegen erlauben ad-hoc-Theorien zeitlich-räumlich eingegrenzte Aussagen über bestimmte Erscheinungen zu einer bestimmten Zeit, an einem bestimmten Ort, z.B. bei einer Fallstudie über Naturrisiken in einer Megacity oder einem Gebirgstal oder bei einer Fallstudie über Krimi-Tourismus in Südschweden. Die Ableitung von Erkenntnissen allgemeiner Art ist bei ad-hoc-Theorien nicht möglich.

 Der Begriff der Theorien mittlerer Reichweite geht auf ROBERT K. MERTON zurück und bezeichnet Theorien, die Phänomene in vergleichbaren (zeitlich-räumlichen) Kontexten zu erklären versucht (vgl. MERTON 1995). In der Physiogeographie wären das beispielsweise die verschiedenen Theorien zur Gebirgsbildung und den Strukturen der Erde oder die Theorie der Kontinentalverschiebung (1912) von ALFRED WEGENER (1880 – 1930); in der Humangeographie sind die Regulationstheorie, die Theorie sozialer Netzwerke oder die Handlungstheorien Beispiele für Theorien mittlerer Reichweite. Diese Theorien fallen in den Bereich der Grundlagenforschung; sie ermöglichen die Erklärung von Erscheinungen in verschiedenen zeitlich-räumlichen Kontexten, dienen als guter Hypothesengenerator (siehe Kap. 2.1.3) und lassen sich empirisch überprüfen.

 Der empirischen Überprüfbarkeit weitgehend entzogen sind dagegen die relativ seltenen Theorien hoher Komplexität, in den Sozialwissenschaften auch „große Erzählungen“ genannt. Beispiele hierfür sind Komplexitätstheorien wie sie am Santa Fe Institut in New Mexico oder am Center for Study of Complex Systems an der Universität Michigan vertreten werden – Systemtheorien wie beispielsweise die Theorie sozialer Systeme von NIKLAS LUHMANN – oder die Theorie der Differenz und Distinktion von PIERRE BOURDIEU.

Adäquatheit von Theorien

Unabhängig von dem Anlass der Forschungsarbeit stellt sich zu Beginn jedes einzelnen Projektes die Frage nach den adäquaten Theorien, die dann als Hypothesen (siehe Kap. 2.1.2) die Grundlagen der Studie bilden. Adäquat ist eine Theorie, wenn sie erlaubt, die spezifische Fragestellung angemessen zu bearbeiten. Grundsätzlich ist zu klären, ob für die eigene Problemstellung bereits Theorien mittlerer Reichweite vorliegen oder ob und inwieweit diese Theorien entwickelt oder weiterentwickelt werden müssen. Bei Arbeiten zur Grundlagenforschung liegen die Hypothesen oftmals in Form von Theorien mittlerer Reichweite vor, in Fällen angewandter Forschung (z.B. über das Image einer bestimmten Stadt oder das Überflutungsrisiko eines Dorfes in Tallage) werden die Hypothesen vorwiegend in Form von ad-hoc-Theorien formuliert.

Vorwurf: Empirismus

Die Suche nach adäquaten Theorien für die eigene Arbeit ist unabdingbar, um sich nicht dem (sehr ernsten) Vorwurf des Empirismus auszusetzen. „Empirismus ist das Ignorieren von theoriegleitetem Forschen“ (ATTESLANDER 2006, S. 6). Ein Fall von Empirismus liegt also immer dann vor, wenn die Beziehung zwischen einer Theorie und den aufgestellten Hypothesen unklar bleibt, weil sie entweder nicht vorhanden ist oder sie zu wenig explizit formuliert wurde. Denn dann kann weder der Gang der Forschungsarbeit nachvollzogen werden, noch sind die gewonnenen Ergebnisse der Studie tatsächlich wissenschaftlich verwertbar, da sie mehr oder minder willkürlich entstanden sind. Empiristisch erzielte Erkenntnisse sind damit weder verlässlich noch gültig.

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