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2.1.3 Funktionen von Theorien
ОглавлениеBeispiele über Praktiken der Wissenschaft
Theorien als zentrales Element der wissenschaftlichen Arbeit erfüllen eine große Zahl an Funktionen. GERHARD HARD hat dies in seinem sehr schönen Aufsatz von 1987 über „Die Störche und die Kinder, die Orchideen und die Sonne“ (HARD 2003, S. 315ff.) anhand zweier anschaulicher Beispiele auf den Punkt gebracht. Das erste Beispiel, eine „paradoxe Anekdote“ (ebd., S. 316), handelt von einer Gruppe kritischer Bevölkerungsgeographen, die die Dogmen des Kinderglaubens und die Mythen des Volkes – dass die Störche die Kinder bringen – einer strengen empirischen Überprüfung unterziehen wollen. Im zweiten Beispiel berichtet HARD von seiner eigenen Arbeit zu submediterranen Pflanzengesellschaften (genauer: Trespenkalktrockenrasen), dessen Gedeihen – gemäß der Befunde in der Literatur – stark vom Expositionsklima abhängig sein sollte und das er so im Gelände nicht vorfand. Anhand dieser überaus amüsant erzählten, sehr lehrreichen Beispiele über die Praktiken der Wissenschaft verdeutlicht HARD mit einem ironischen Augenzwinkern die Vielzahl an Funktionen, die Theorien haben. Die folgende Aufzählung der Theoriefunktionen lehnt sich diesem Beitrag an; die erwähnten Beispiele beziehen sich somit auf die „Storchentheorie“ oder den „Expositionseffekt“.
Hypothesenerzeugungsfunktion
Zunächst einmal haben Theorien eine Hypothesenerzeugungsfunktion. Aus jeder Theorie lassen sich überaus große Mengen an Prüfungshypothesen ableiten. Beispielsweise: je mehr Störche, umso höher die Geburtenrate; je mehr Storchennester, umso höher die Geburtenrate; je mehr Feuchtbiotope, umso höher die Geburtenrate; je mehr Frösche, umso höher die Geburtenrate usw. Hard bezeichnet Theorien daher auch als ein „intellektuelles perpeteuum mobile“ (ebd., S. 316, Hervorhebung H.E.).
Forschungserzeugungsfunktion
Daneben haben Theorien auch eine Forschungserzeugungsfunktion. Jede Theorie bringt Forschung über ihre Berechtigung und ihren Geltungsbereich (oder über die Möglichkeiten ihrer Widerlegung und ihre Ungültigkeit) hervor. Der Glaube (oder Unglaube) an die Storchentheorie führt zu einem Forschungsprogramm, in dessen Zentrum die Storchentheorie selbst steht. Dabei verläuft die Forschung in der Regel „normalwissenschaftlich“ (siehe Kap. 3.1.1) und damit entgegen den Forderungen des Kritischen Rationalismus nach Falsifikation (Widerlegung; siehe Kap. 2.2.2). „Normalwissenschaftliche“ Forschung heißt: Theorien zu verifizieren (zu belegen). In der Praxis bedeutet das, dass sich die Geographin oder der Geograph ein besonders geeignetes „Feld“ für die Arbeit sucht und dort eine bekannte Ordnungsstruktur (Theorie) auf die neue Situation anwendet. In der pointierten Sprache von GERHARD HARD lautet das: Der Geograph „beweist eine Theorie durch geglückte Anwendungen, die er zuvor sorgsam arrangiert hat“ (HARD 2003, S. 321).
Normierung der Forschung und Normierung der Wirklichkeit
Damit wird zugleich eine weitere Funktion von Theorien deutlich: die Forschungs- und Wirklichkeitsnormierungsfunktion. Denn ohne die Theorie würde diese spezifische Studie in jenem bestimmten Gebiet gar nicht durchgeführt. Über die Auswahl und die angewendete Forschungspraxis arbeiten die Forschenden gleichsam die Theorie in die Wirklichkeit hinein, und über Vergleichstudien werden die unterschiedlichen Gebiete im Hinblick auf die Theorie normiert. Man denke z.B. an Studien über postmoderne Stadtentwicklungen oder an Arbeiten zu den Resten glazialzeitlicher Vegetation. Zugleich strukturiert die Theorie das Vorgehen innerhalb des Forschungsprojektes und normiert so die Praxis der Forschenden.
Datenerzeugungsfunktion
Die Datenerzeugungsfunktion der Theorie ist ein Nebenprodukt, das gleichsam unbeabsichtigt mit der Theorie einhergeht. Denn bei den vielen (in der erzählten Geschichte fehlgeschlagenen) Versuchen, die Storchentheorie zu widerlegen, haben sich große Mengen an Daten über Störche, Storchennester, Feuchtbiotope, Frösche und Geburtenraten angesammelt, die auch in ganz anderen Zusammenhängen und Fragestellungen von Interesse sind.
Hilfshypothesenerzeugungsfunktion
Bei jeder Forschung treten üblicherweise kleine Irritationen auf. Gemeint sind damit Phänomene, die sich mit der gewählten Theorie nicht erklären lassen, die jedoch so unübersehbar sind, dass man sie nicht ignorieren kann. Im Fall der Storchentheorie ist es der Befund, dass es Gegenden gibt, die keine Korrelation zwischen Storchendichte und Geburtenrate aufweisen. Die Lösung ist schnell gefunden: Die Nullkorrelation auf der Erscheinungsebene wird über das Vorliegen einer Multikausalität für die Geburtenrate erklärt, denn es gibt ja noch andere kinderbringende Tiere (wie Krähen, Raben, Eulen und andere). Dies führt zu der Hilfshypothese, dass in sehr abgelegenen Gegenden anstelle der Störche andere, zum Teil sehr seltene kinderbringende Tiere für die hohe Geburtenrate verantwortlich sind. Die Prüfung der Hilfshypothesen zeitigt auch Erfolge, und die auf den ersten Blick bedrohte Storchentheorie hat sich „glänzend bewährt und zugleich ihren empirischen Gehalt erhöht“ (vgl. ebd., S. 317). Es zeigt sich: Über die Hilfshypothesenerzeugungsfunktion können Theorien sowohl aus Erfolgen als auch aus Misserfolgen Gewinn ziehen.
Immunisierungsfunktion
Aus dem vorgenannten Punkt ließe sich schließen: Eine Theorie erhält sich selbst, ist sie erst einmal in der Welt. Und tatsächlich spricht auch einiges dafür. In dem fiktiven Beispiel der Storchentheorie, die sich bislang erfolgreich gegen jegliche Versuche der Falsifizierung wehren konnte, erscheint nun die Studie eines begabten Nachwuchswissenschaftlers, der darin aufzeigt, dass die Geburtenrate im Rheinland in erster Linie mit dem Grad der Urbanisierung/Industrialisierung und vermutlich erst in zweiter Linie mit dem Storch zusammenhängt. Er wird vernichtend rezensiert – das Ergebnis sei trivial und außerdem sprächen die Befunde nicht gegen, sondern vielmehr für die Storchentheorie, da der junge Kollege verkannt hätte, dass die Urbanisierung/Industrialisierung selbstverständlich die Zahl der Störche reduziere, was wiederum zum Sinken der Geburtenrate führe. Er hätte in seinen Berechnungen die Storchendichte konstant halten müssen, da es sich um einen typischen Fall von intervenierenden Variablen handle, die zu berücksichtigen seien. Das beschreibe doch jedes Methodenlehrbuch. Der Nachwuchswissenschaftler überprüft noch einmal seine Befunde in einer Nachuntersuchung unter Beachtung der methodischen Hinweise und kommt zu dem Befund: Die Kritiker hatten recht. Auf den Punkt gebracht besteht die Immunisierungsfunktion einer Theorie darin, dass keine noch so sorgfältige Empirie eine Theorie gefährden kann, „selbst wenn diese Theorie ein Ammenmärchen ist und wenn alle Beteiligten sich rational verhalten“ (HARD 2003, S. 318). Um eine Theorie als nicht zutreffend zu entlarven, hilft nur eine weitere Theorie – und keine noch so ausgeklügelte Empirie. Entscheidend ist an dieser Stelle noch ein weiterer Aspekt: „Alle diese Theorien schmarotzen auf den gleichen Daten, und die Pointe ist es ja, dass auf der Ebene der Empirie die Entscheidung (noch) unmöglich ist“ (ebd., S. 319).
Eliminieren von negativen Befunden
Ein – weder wissenschaftlich noch alltagsweltlich schöner, aber dennoch häufig auftretender – Effekt von Theorien ist das Ausblenden von Daten und Befunden, die in das bisherige und oftmals schwer erarbeitete Bild über Phänome nicht „passen“. HARD beschreibt den Vorgang wie folgt:
„Was nicht passt, bleibt ungesehen; wenn es nicht mehr zu übersehen ist, wird es verschwiegen; wenn es nicht mehr verschwiegen werden kann, wird es bagatellisiert; wenn es nicht mehr bagatellisiert werden kann, wird es weginterpretiert“ (ebd., S. 323).
Die weiter vorne erwähnte „dunkle Materie“ in der Astrophysik ist ein Beispiel für das Weginterpretieren, eine Art Ausflucht, in die man alle Daten packen kann, die mit der geläufigen Theorie nicht erklärt werden können. In der Statistik – egal ob bei Messreihen über Bodenproben oder bei quantitativen Daten einer sozialwissenschaftlichen Erhebung über die Standortentscheidungen von Startup-Unternehmen – fällt dieser Vorgang unter „Datenbereinigung“. Dabei werden „Ausreißer“, also Befunde, die zu stark vom Mittelwert abweichen (so genannte strange facts), eliminiert. Obwohl vielleicht gerade hier ein interessantes Ergebnis auf seine Entdeckung gewartet hätte (und möglicherweise zu einem Nobelpreis geführt hätte, siehe DOHERTY 2008). Dies geschieht in der Regel weder mutwillig noch (im Sinne der Theorie) bewusst, sondern scheint gleichsam in der „Natur der Sache“ zu liegen: Offensichtlich steht uns der Zweifel an uns selbst (an unserer Fähigkeit, im Sinne einer bestimmten Theorie zu arbeiten) näher, als der Zweifel an einer (etablierten) Theorie. So folgt auf den Zweifel fast reflexartig der oben bereits erwähnte Effekt der Hilfshypothesenerzeugung, um die gewählte Theorie zu retten und auszubauen.
Erzeugung und Stabilisierung von „Tatsachen“
Folgt man der Theoriepraxis in der Wissenschaft, dann braucht man keine konstruktivistische Erkenntnistheorie (siehe Kap. 2.2.2) als Grundlage, um zu dem Schluss zu gelangen, dass unpassende Befunde (strange facts) erst über eine neue Theorie als „Tatsache“ in die Welt gelangen. Es braucht eine Theorie, die das beobachtete Phänomen als Tatsache in einen kausalen Zusammenhang stellt, sonst existiert diese Tatsache nicht. Dies widerspricht der allgemeinen Annahme, dass Theorien durch beobachtbare Tatsachen bestätigt oder widerlegt werden. Die Wissenschaftspraxis legt nahe, dass vielmehr Theorien Tatsachen erzeugen (und stabilisieren), indem erst eine Theorie aus einer Tatsache auch eine Tatsache macht und sie im weiteren Verlauf als Tatsache bestätigt.
Theorien als Entscheidungen
Theorien sind also – sind sie erst einmal in der Welt – eine Art selbst laufender Motor der Wissenschaft, indem sie Forschung initiieren, wissenschaftliche und außerwissenschaftliche Wirklichkeiten erzeugen und anschließend stabilisieren. In diesem Sinne sind Theorien Entscheidungen, die unausweichlich sind und jede Forschung – ob implizit oder explizit – begleiten. Die Wahl der Theorie entscheidet darüber, was im Forschungsprozess bedeutsam ist, was als Unwichtiges abgedunkelt, was als ursächlich und nichtursächlich (kausal) angenommen wird. Trotz der Unausweichlichkeit der Entscheidung über Theorie im Forschungsprozess, ist die Wahl der Theorie in hohem Maße kontingent (siehe Exkurs „Kontingenz“), d.h. sie wäre in jedem einzelnen Forschungsfall auch ganz anders möglich gewesen.
Exkurs: Kontingenz
(von lat. contingere = sich berühren, zusammenfallen, sich ereignen; spätlat. = Möglichkeit)
Entsprechend der formalen Logik ist alles kontingent, was weder notwendig noch unmöglich ist. Anders gesagt: Alles, was ist, ist (weil es ist) nicht unmöglich und wäre auch anders möglich (wenn es nicht notwendigerweise so ist, wie es ist). Wenn etwas als kontingent bezeichnet wird, beinhaltet es also auch noch andere Möglichkeiten. Die Antwort auf eine Frage beispielsweise ist kontingent, da die Frage zwar vielleicht auf einen bestimmten Sachverhalt hin abzielt, aber die Antwort durch die Frage weder vorherbestimmbar ist, noch muss sie eindeutig so lauten, wie sie erwartet wurde. In den Sozialwissenschaften wird mit Kontingenz auch die prinzipielle Offenheit und Ungewissheit menschlicher Lebenserfahrungen und sozialer Situationen bezeichnet.