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Kapitel 1


„Eine Reise gleicht einem Spiel.

Es ist immer etwas Gewinn und Verlust dabei –

meist von der unerwarteten Seite.“

(Johann Wolfgang von Goethe)

„Sag mal, spinnst du jetzt total?“, entgeistert schaute Christiane ihren Mann an.

„Reicht es nicht, dass du uns während der Woche hier allein lässt? Willst du jetzt auch noch deinen Urlaub allein verbringen?“

„So ist das nicht!“, verteidigte sich Leo vehement. „Ich brauch einfach mal Zeit für mich. Ich brauche eine Auszeit! Außerdem will ich nicht Urlaub machen, sondern Pilgern gehen. Das ist etwas ganz anderes!“

Trotzig starrte Leo Christiane an, was sie unweigerlich zur Weißglut trieb. Manchmal verhielt sich ihr Mann nicht wie ein Erwachsener, sondern wie ein Kind, das einfach seinen Willen durchsetzen will.

„Du hast mir schließlich das Buch gegeben!“, rechtfertigte sich Leo. „Und jetzt wirfst du mir vor, dass ich es gelesen habe und Lust bekommen habe herauszufinden, was der Weg mit mir macht?“

Das Buch, welches Leo anführte war der Bestseller „Ich bin dann mal weg“ von Hape Kerkeling. Ein Buch, in dem der Autor, ein berühmter Komiker und Entertainer, über den Jakobsweg schreibt und von seinen Erfahrungen auf diesem Weg berichtet. Ein Buch, das auch Christiane sehr begeistert hatte, was sie aber beiseitegelegt hatte mit dem traurigen Gedanken, dass man nicht „einfach mal eben“ den Jakobsweg gehen konnte, wenn man zwei Kinder hatte, einen Halbtagsjob und einen Mann, der im Fernverkehr beschäftigt war. Dass das doch „einfach mal eben“ möglich war, davon versuchte Leo sie just in diesem Moment zu überzeugen…

Nur zu gut erinnerte sich Christiane auch heute noch an dieses Gespräch. War es doch irgendwie der schicksalhafte Beginn von allem gewesen, was in den darauffolgenden drei Jahren geschehen würde…

„Blödsinn!“, schalt sich Christiane. Einen genauen Punkt bestimmen zu wollen an dem das Schicksal seinen Anfang nahm, war schlichtweg unmöglich!

Vielleicht hatte das Schicksal ja schon seinen Schatten vorausgeworfen, als Leo bei einem schweren Unfall ein Jahr vor diesem Gespräch quasi dem Tod von der Schippe gesprungen war und wie durch ein Wunder unversehrt aus seinem schrottreifen LKW gestiegen war. Unversehrt zumindest was das Körperliche anbelangte. Seelisch machte ihm diese Geschichte nämlich noch lange Zeit massiv zu schaffen und verfolgte ihn bis in seine Träume oder raubte ihm sogar gänzlich den Schlaf…

Oder war Leos Schicksal schon vorherbestimmt, als er mit 18 Jahren einen schlimmen Autounfall gehabt hatte, bei dem er sowohl einen vierfachen Beckenbruch erlitten hatte, als auch nahezu sämtliche Organe im Bauchraum in Mitleidenschaft gezogen worden waren?

„Unmöglich und unsinnig!“, schalt Christiane sich nun noch einmal. War es wichtig wann ein Unheil seinen Lauf genommen hat? Änderte das irgendetwas am Lauf der Dinge? War das Schicksal vielleicht ohnehin schon vorher bestimmt oder hätte irgendeine andere Entscheidung an irgendeinem Punkt diese Kettenreaktion verhindert oder zumindest verändert?

Unweigerlich musste Christiane an die Theorie denken, nach der der Flügelschlag eines Schmetterlings einen Tornado am anderen Ende der Welt auslösen konnte. Diese wissenschaftlich nicht bewiesene aber dafür recht poetisch anmutende Theorie – auch Chaostheorie genannt – besagte schließlich, dass letztlich alles unvorhersehbar ist, weil eine einzige veränderte Anfangsbedingung großen Einfluss auf den weiteren Lauf der Geschichte haben konnte…

Und wenn man schon infrage stellte, wo alles seinen Ursprung hatte, dann musste man auch noch eine andere Frage stellen: Welche Rolle spielt bei dieser Geschichte verdammt noch mal Gott, wenn es ihn wirklich gab?

Die blaue Muschel

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