Читать книгу Die blaue Muschel - Heike Grave - Страница 9

„Alle sagten immer das geht nicht, dann kam jemand der das nicht wusste und hat es einfach gemacht!“

Оглавление

Christiane hatte sich an diesem Abend eine Kanne Kräutertee gemacht und goss sich nun eine Tasse davon ein. Dann machte sie es sich mit einer kuscheligen Decke auf dem Sofa bequem. Die Kinder waren bereits in ihren Zimmern und somit herrschte im Haus eine friedliche Stille.

Trotz der entspannten Atmosphäre nahm sie das kleine schwarze Notizbuch mit einem leichten Gefühl des Unbehagens in die Hand. Dieses Notizbuch hatte Leo während seiner Zeit auf dem Jakobsweg als Tagebuch gedient.

Sie hatte es erst gestern vom Speicher geholt nachdem sie es im Herbst letzten Jahres, zusammen mit anderen Erinnerungsstücken an Leos Jakobsweg, dort oben in einem Karton verstaut hatte. Sie hatte sich damals die Sachen nicht wirklich angeschaut, denn ansonsten hätten ihre Gefühle sie vermutlich überwältigt. Da waren Trauer, Wut, Verzweiflung und immer noch das Unvermögen das Unfassbare zu begreifen.

Christiane atmete tief durch und fing an in dem recht ramponiert ausschauendem Notizbuch zu blättern. Ehrlich erstaunt stellte sie dabei fest wie viel Mühe Leo sich damit gemacht hatte. Er hatte viele Seiten mit seiner leicht krakeligen Handschrift gefüllt und immer wieder Platz für Postkarten, Fotos und andere Andenken gelassen, die er wohl gesammelt beziehungsweise zu einem späteren Zeitpunkt nach seiner Rückkehr ausgedruckt hatte, um sie dann an den entsprechenden Stellen aufzukleben. Christiane berührte es tief in ihrem Inneren, dass Leo trotz seiner nicht zu leugnenden feinmotorischen Defizite die Geduld und die Konzentration aufgebracht hatte, dieses Tagebuch zu schreiben und zu gestalten.

Sie blätterte nun zurück auf die erste Seite. Im Mai vor drei Jahren hatte Leo begonnen in diesem Notizbuch, seinem Jakobsweg-Tagebuch, zu schreiben, denn schließlich und endlich war es so weit gewesen: Nach all den Vorbereitungen auf den Camino, wie der Jakobsweg auch genannt wurde, und auch all den Auseinandersetzungen, die es deswegen gegeben hatte, machte Leo sich auf den Weg.

Christiane erinnerte sich noch sehr gut an diese teils doch recht langwierige und nervenaufreibende Vorbereitungszeit auch wenn ihr Anteil an der Planung und Umsetzung eher gering gewesen war. In dem Feuereifer, mit dem Leo sich auf seinen Jakobsweg vorbereitete, war seine Familie, mit ihren Bedürfnissen und Erwartungen an ihn, nämlich spürbar in den Hintergrund getreten. Sie hatte sich deshalb ganz bewusst und konsequent – und vielleicht auch ein bisschen eingeschnappt - aus dieser Angelegenheit herausgehalten!

Auch an Leos Aufbruch nach Spanien erinnerte Christiane sich. Da sie die Kinder schlecht mitten in der Nacht alleine lassen konnten, hatte ein guter Bekannter Leo an jenem frühen Montagmorgen zum Flughafen nach Düsseldorf gebracht und Leos großes Abenteuer hatte begonnen…

1. Tag. Ankunft in St. Jean - Pied-de-Port

Nun sitze ich hier an meinem ersten Abend auf dem Jakobsweg auf dem bequemen Bett meines Zimmers in der kleinen Pension, welches das Reiseunternehmen für mich reserviert hatte. Irgendwie kann ich immer noch nicht glauben, dass ich wirklich hier bin. Obwohl ich durch meinen Job schon viel in Europa rumgekommen bin und auch schon oft in Spanien war, ist dies hier jetzt etwas ganz anderes. Ich bin weder aus beruflichen Gründen hier noch um Urlaub zu machen. Ich bin hier um zu pilgern. Ich !!?

Heute Morgen ging es um 4 Uhr mit meinem gut verpackten Fahrrad und leichtem Gepäck mit dem Pickup von meinem Kumpel Helmut nach Düsseldorf. Helmut hat zwar den Kopf geschüttelt und gemeint „Du warst ja schon immer etwas verrückt“, aber dennoch hat er mir ganz ehrlich alles Gute gewünscht.

Der Abschied von meinen Kindern gestern Abend und Christiane heute früh viel mir relativ leicht. Ich brauche diese Auszeit von allem nämlich ganz dringend, weil ich langsam das Gefühl habe, dass ich den Anforderungen an mich als Familienvater - neben meinem anstrengendem Beruf und allem, was mir sonst noch im Kopf herumschwirrt – nicht mehr gewachsen bin. Immer wenn ich nach Hause komme schauen mich drei Augenpaare ganz erwartungsvoll an. Dabei will ich doch nur ein wenig Ruhe haben! Die ganze Woche bin ich im LKW unterwegs, lebe und arbeite gleichzeitig auf wenigen Quadratmetern während meine Zeit eng getaktet wird durch die gesetzlichen Ruhe- und Lenkzeiten und dem Druck meine Fracht pünktlich ans Ziel zu bringen.

Ja, grundsätzlich liebe ich meinen Job und das Leben als Trucker mit all seinen Vor- und Nachteilen, aber auch ich brauche einfach mal Pause!

Aber nun zurück zum heutigen Tag: Schon am Flughafen in Düsseldorf traf ich auf die ersten Pilger, was ein leichtes Prickeln in mir hervorrief. Alle hatten große Rucksäcke dabei und von allen strömte eine gewisse Euphorie aus, eine freudige Anspannung und eine Art friedliche Gelassenheit. Sie wirkten so ganz anders, als die wichtig blickenden Geschäftsleute und die nach Erholung lechzenden Urlauber. Und ich bin jetzt einer von ihnen, ein Pilger.

In diesem Jahr möchte ich mit dem Rad in zehn Tagen von St. Jean-Pierre-de-Port in den Pyrenäen bis nach León fahren, um dann im nächsten Jahr, nach einer weiteren 10-Tages-Reise, Santiago de Compostela zu erreichen. So Gott will!

Mein Flieger war pünktlich gestartet und nach einem Zwischenstopp in Madrid ging es reibungslos weiter nach Pamplona, wo ich gegen 14 Uhr eintraf und wo bereits ein Mitarbeiter des kleinen Reiseunternehmens wartete, bei dem ich meine Reise gebucht hatte.

Nachdem meine Frau, die sonst bei uns für das Organisatorische zuständig ist, mir klar und deutlich zu verstehen gegeben hatte, dass sie zwar ihr Okay zu meiner Reise gegeben hatte, aber dass alles, was mit diesem „blöden Weg“ (O-Ton Christiane!) zusammenhinge nicht ihre Angelegenheit sei, hatte ich ein wenig im Internet recherchiert und dieses Ein-Frau-Unternehmen gefunden, welches sowohl die Flüge, als auch den Transfer inklusive Fahrrad und die Übernachtungen in kleinen Hotels und Pensionen am Weg für mich organisiert hatte. Na bitte! Ich schaffe das auch allein!

Das Fahrrad war mit wenigen Handgriffen in dem kleinen Transporter verstaut und schon brachte der Fahrer mich nach St. Jean Pied-de-Port, dem klassischen Startpunkt für all die Pilger, die den Camino Francès komplett gehen oder fahren wollen. Die Sonne schien vom Himmel und auch ich hatte das Gefühl zu strahlen! Ich fühlte mich frei von allen Verpflichtungen und Zwängen!

Interessanterweise führte uns die Strecke zu dem kleinen altertümlichen Dorf mit etwa 1.500 Einwohnern im französischen Teil der baskischen Pyrenäen genau dort entlang, wo ich auch morgen auf meiner ersten Tagesetappe mit dem Fahrrad langfahren würde.

Auf Englisch erklärte der Fahrer mir, dass wir 1000 Meter über dem Meeresspiegel seien und grinste mich dabei vielsagend an. Unweigerlich kamen mir nun doch für einen kurzen Moment ein paar nicht mehr ganz so leise Zweifel: St.-Jean-Pied-de-Port lag gerademal auf 320 Metern Höhe. Es würde morgen also durchweg steil bergauf gehen! Dagegen war die Strecke bis nach Aachen sicherlich ein Klacks gewesen! Das wollte ich wirklich mit dem Rad fahren? Warum eigentlich? Warum wollte ich mir DAS antun???

Ehrlich gesagt weiß ich das auch nicht so genau, aber ich weiß schon jetzt, dass dieser Weg irgendetwas an sich hat, was mich unwiderruflich in seinen Bann gezogen hat. Darum denke ich nicht weiter darüber nach, welche Anstrengungen ich mir damit aufgehalst habe, sondern beschließe einfach ab jetzt einfach alles auf mich zukommen zu lassen und alle Sorgen zu vergessen…

Christiane schnaubte leise. Grundsätzlich war Leo immer schon ein bisschen sorglos gewesen. Er grübelte nicht lang, sondern machte einfach, was ihm in den Sinn kam. Gar zu oft ohne abzuwägen und ohne über die Konsequenzen nachzudenken. Eigentlich unsinnig, dass er es jetzt noch extra erwähnte.

Kopfschüttelnd las Christiane weiter:

Neben seiner berühmten Funktion als Ausgangsort für den Camino Francés ist St. Jean-Pied-de Port als Wintersportort bekannt und seine historische Altstadt mit den engen Gassen ist wirklich sehenswert.

Nachdem ich in meiner Pension eingecheckt hatte, machte ich mich zu Fuß auf den Weg das Städtchen zu erkunden. Sehr schnell entdeckte ich dann den ersten Hinweis auf den Jakobsweg, eine gelbe Jakobsmuschel auf blauem Grund.

Soweit ich weiß, findet sich diese Muschel mit ihrem charakteristischen Aussehen auf allen Wegweisern entlang des Jakobsweges. Sie wird also fortan mein steter Begleiter sein. Diese Erkenntnis berührte mich irgendwie und mir wurde plötzlich ganz feierlich zumute...

In dieser Nacht werde ich vermutlich nicht viel schlafen, denn ich kann es nicht erwarten mich morgen endlich aufs Fahrrad zu schwingen!

2. Tag - gefahrene Strecke: 37,62 Kilometer

St.-Jean-Pied-de-Port - Arnéguy – Puerto de Ibaneta – Roncesvalles – Zubiri

Was soll das alles? Bin ich eigentlich nur bescheuert? Ich bin etwa die ersten 25 km auf meinem Jakobsweg gefahren und davon 15 km bergan! Nebenbei habe ich auch noch bei Arnéguy die Grenze nach Spanien überquert. Am Berg habe ich mein Fahrrad sogar gute 5 km geschoben und alles an Schimpfwörtern gebraucht, was ich kenne!

Dann sah ich endlich das Rolandsdenkmal vor mir, welches an die Zeit der Reconquista erinnern soll, als Spanien von den Mauren beherrscht wurde. Der Legende nach soll an dieser Stelle Roland, der Heerführer Karl des Großen, in einem Hinterhalt den Tod gefunden haben. Im Verlauf der Geschichte wurde Roland zu einer Heldengestalt, die in verschiedenen Geschichten und Gedichten verewigt wurde.

Aha, scheinbar hatte Leo sich nicht nur mit den für seine Reise wichtigen Informationen zum Jakobsweg beschäftigt, sondern auch mit den geographischen und auch historischen Fakten. Christiane musste zugeben, dass alles was mit Geschichte zusammenhing immer schon interessant war für Leo. Es wunderte sie allerdings schon, dass er es sogar in sein Tagebuch einfließen ließ, welches erstaunlich ausführlich geschrieben war. Christiane wurde plötzlich bewusst, welche Bedeutung dieses Tagebuch als Erinnerung an Leo haben würde – für sie und ihre Kinder.

Schließlich bin ich oben auf dem Ibaneta-Pass auf 1057 Metern Höhe. Ich habe den härtesten Anstieg des heutigen Tages hinter mich gebracht und bin mächtig stolz auf mich! Wie die anderen Pilger geschaut haben bei meinem Jubelschrei, der aus tiefstem Herzen kam. Irgendwie fühle ich mich nun auch wie ein Held!

Andererseits kann ich immer noch kaum glauben, dass ich wirklich unterwegs bin... Das was ich hier erlebe ist so anders, als mein normaler Alltag, dass das vermutlich auch kein anderer glaubt, der mich kennt! Aber dank einer freundlichen Kanadierin habe ich als Beweis jedoch ein Foto.

Gedankenverloren betrachtete Christiane das Foto für das Leo extra eine Stelle in seinem Tagebuch freigehalten hatte. Ja, das war ihr Mann: Freudestrahlend und stolz wie Oskar stand er da oben auf dem Ibaneta-Pass. Welt, ich zeig dir was ich kann!

Nun ging es erst einmal bergab und als ich die Klostermauern von Roncesvalles am Fuß des Ibaneta-Passes vor mir sah war klar, dass nun erst einmal eine große Pause anstand.

Der Ort Roncesvalles liegt immer noch auf 900 Metern und ist eine wichtige Station vor allem für die Fußpilger, deren erste Etappe auf dem Jakobsweg meist hier endet. Im alten Augustinerkloster können die Pilger sogar in einem Saal aus dem 12. Jahrhundert schlafen!

Jetzt gerade genieße ich meinen ersten Café con Leche des Tages und vermutlich wird es auch noch einen zweiten geben. Nebenbei schreibe ich meine Erlebnisse und Gedanken auf. Ich muss auf diese Weise erst einmal sortieren, was mir alles durch den Kopf geht…

Nachdem beim mühseligen Anstieg sämtliche Gedanken aus meinem Kopf verschwunden waren, sind sie nun allesamt wieder da! Nicht, dass der Tod des Heerführers Rolands hier oben irgendetwas mit mir zu tun hätte, aber trotzdem fangen meine Gedanken an, um dieses eine leidige Thema zu kreisen. Der unausweichliche Tod, der einen jederzeit und überall ereilen kann. Niemand weiß an welchem Ort und auf welche Weise einen dieser treffen wird. Und für die wenigsten wird dann ein Denkmal errichtet! Im Gegenteil: Die meisten werden irgendwann einfach vergessen…

Irgendwie ist der Tod ein Thema, über das ich nie gerne nachgedacht habe. vielleicht weil ich ihm bei verschiedenen Begebenheiten immer wieder nahe gekommen bin, sei es durch meine eigenen beiden Unfälle, bei denen ich dem Tod noch einmal von der Schippe gesprungen bin oder dem qualvollen Tod von meinem schwerkranken Vater vor zwei Jahren oder weil ich bei meinem „Leben auf der Straße“, wie meine Frau es manchmal spöttisch nennt, immer wieder mit schweren und gelegentlich tödlichen Unfällen konfrontiert werde.

Gerade mein letzter Unfall, hat mir echt zu knacken gegeben: Aufgrund von Blitzeis war ich auf der spiegelglatten Autobahn mit dem LKW ins Schleudern geraten, wobei die Maschine sich querstellte. Ein nachfolgender LKW, der nicht mehr bremsen konnte, ist voll in meine Beifahrerseite gerast.

Ich hätte tot sein können! Und wenn man sich im Nachhinein die Fotos von meinem LKW anschaut weiß man, dass das keine Untertreibung ist, sondern dass mein Überleben an ein Wunder grenzt. Scheinbar war da oben jemand der Meinung, dass ich noch was zu erledigen habe…

Seit dieser Nacht denke ich allerdings immer wieder an dieses Gefühl der Ohnmacht, welches ich empfand, als ich den anderen LKW auf mich zuschlittern sah. Und diese Machtlosigkeit absolut nichts tun zu können, lässt mich nicht einschlafen, wenn ich mal zu zweit fahre und mein Beifahrer das Steuer übernimmt, so dass ich mich hinlegen kann.

Ich kann noch so lange auf den Beinen gewesen sein und noch so müde sein, sobald ich versuche die Augen im fahrenden LKW zu schließen, fangen meine Gedanken an zu rattern und ich sehe die beängstigenden Bilder vor mir. Ich habe wirklich Todesangst in diesen Momenten. Ich habe auch regelmäßig Albträume, in denen die Schrecken jener Nacht wieder lebendig werden. Weder mit offenen noch mit geschlossenen Augen kann ich meinen Ängsten entkommen.

Ja, ich bin feige: Ich kenne die Ursache meiner Schlafprobleme und weiß, dass ich sie nicht ohne weiteres loswerde, aber dennoch scheue ich davor zurück mir professionelle Hilfe zu suchen. Nicht mal mit Christiane kann ich wirklich offen darüber sprechen. Dann würde sie sich nur noch mehr Sorgen machen…

Ich gestehe, dass ich höllische Angst vor dem Tod habe. Niemand weiß wann er kommt, wie es passiert und schon gar nicht, was danach kommt. Ich habe Angst vor dieser Ungewissheit, Angst vor Schmerzen und Leid, Angst davor ins Nichts zu fallen! Was bleibt von mir nach meinem Tod? Wofür habe ich gelebt? Wo gehe ich bzw. meine Seele hin?

Christiane hielt nach diesem Absatz betroffen inne beim Lesen. Leos Angst vor dem Tod war ihr durchaus bekannt und sie erinnerte sich auch an die zugegebenermaßen seltenen und leider auch eher oberflächlichen Gespräche, die sie deswegen mit Leo geführt hatte. Dass ihn das Ganze wirklich so sehr belastete, hatte sie nicht gedacht.

Obwohl – oder gerade weil? – sie bislang noch keine nennenswerten Erfahrungen mit dem Tod an sich gemacht hatte, konnte sie mit dem Thema Tod recht gut umgehen. Nicht, dass sie sich grundsätzlich nicht mit dem Thema auseinander gesetzt hätte. Nein, im Gegenteil: Gerade weil sie sich damit auseinander gesetzt hatte, was der Tod eigentlich ist und wie es danach weitergehen könnte, hatte sie keine Angst davor.

Eine der wenigen Freiheiten, die sie sich zugestanden hatte und wegen der sie sich sogar ab und an einen Babysitter gegönnt hatte, war nämlich regelmäßig zu Meditationsabenden ins Buddhistische Zentrum zu gehen. Zwar war dieses in der nächstgrößeren Stadt und der Aufwand dorthin zu kommen groß, aber sie genoss die friedvolle Atmosphäre und die inspirierenden Gespräche mit den Buddhisten auch wenn sie sich nicht mit allen Aspekten der buddhistischen Lehre identifizieren konnte. Sie hatte sich in dieser friedvollen Gemeinschaft nicht nur mit dem Buddhismus im Allgemeinen beschäftigt, sondern sich explizit auch mit dessen Aussagen zum Tod und dem was danach kommt auseinandergesetzt. Sie hatte es geschafft, den Tod als etwas Unausweichliches zu akzeptieren und vertraute darauf, dass dieser dennoch nicht das Ende bedeutete, sondern eher die Transformation in eine neue Daseinsform. Ja, sie wusste, das klang für viele befremdlich und abgehoben, aber das war eine Vorstellung von Tod, die sie persönlich glauben konnte und die ihr Mut statt Angst machte. Für sie gab es weder Himmel noch Hölle, in denen die Seelen sämtlicher Wesen sich mittlerweile stapeln mussten, sondern ein Fortleben in einem anderen Körper in einer anderen Dimension.

Christiane las weiter im Tagebuch:

Auf dem Jakobsweg ging es nun erst einmal weiter bergan und bei einem Tageskilometerstand von 37,62 km ging dann gar nichts mehr. 15 km vor meinem heutigen Ziel gab ich resigniert auf. Sowohl die wirklich schwere Passauffahrt von St. Jean-Pied-de-Port nach Roncesvalles, als auch meine dunklen Gedanken haben mich fertig gemacht. Aber wie durch ein Wunder kam keine fünf Minuten später ein Taxi vorbei und nahm mich mit zu meinem Etappenziel Zubiri.

Früher war Zubiri ein sehr beliebter Ort bei Wegelagerern, weil diese an der Brücke über den Rio Arga, den Reisenden erfolgreich auflauern konnten. Diese Brücke musste auch ich überqueren, aber zum Glück saß ich im Taxi und es war kein Wegelagerer in Sicht.

In einer kleinen Bar, wie man sie überall hier in den Orten am Camino findet, gönnte ich mir erst einmal einen weiteren Café con Leche. Und nachdem ich mich in meiner Unterkunft, einer kleinen Pension, frisch gemacht hatte, traf ich mich mit Bernhard aus Fulda, den ich in der Bar kennengelernt hatte, zum Abendessen.

Extra für Pilger gibt es in den meisten Restaurants und Bars am Weg das "Menu del peregrino", das Pilgermenü, welches immer um die 10 € kostet und Vorspeise, Hauptspeise und Dessert sowie eine Flasche Wasser oder Wein beinhaltet.

Letztlich saß ich an diesem ersten „richtigen“ Abend auf dem Camino mit neun weiteren Deutschen am Tisch. Der Spaß kam nicht zu kurz, aber manchmal wurde es auch ganz ernst, denn der Rotwein löste die Zunge. Um Ende des Abends waren es zehn Flaschen Rotwein, die wir gemeinsam geleert haben... Darum wird es auch nun dringend Zeit fürs Bett. Hicks.

3. Tag - gefahrene Strecke: 52,92

Zubiri - Pamplona – Astrain - Puente la Reina

Das Aufstehen heute Morgen fiel mir nach dem vielen Rotwein doch recht schwer… Nun, da war ich ja selber schuld, aber der schöne Abend war es trotzdem wert!

Nach einem recht bescheidenen Frühstück, was auch irgendwie nicht so richtig schmecken wollte, startete ich gegen 7:30 Uhr Richtung Pamplona. Zwar ist Pamplona in erster Linie aufgrund des Stiertreibens anlässlich des Festes zu Ehren San Fermìns, dem Patron dieser Region, ein Begriff, jedoch hat die Stadt noch einiges mehr zu bieten! Neben der kleinen atmosphärischen Altstadt sollen besonders die Kathedrale und das Diözesanmuseum sehr beeindruckend sein.

Ich erreichte Pamplona zwar recht schnell, doch leider fehlten mir die Zeit und die innere Ruhe diese Sehenswürdigkeiten zu bestaunen, weil ich wusste, dass mein Weg heute noch lang sein würde...

Mittags um 12 Uhr war ich in dem Örtchen Astrain und hatte schon erstaunliche 37 km geschafft. Für meine Verhältnisse war das der blanke Wahnsinn! Nach dem unvermeidlichen Café con Leche und nachdem ich meine Wasserflasche wieder aufgefüllt hatte, ging es wieder in die Berge. Hurra! Man beachte die Ironie…

Der Ausblick auf die umliegenden Landschaften war traumhaft und entschädigte mich dann redlich für die Strapazen des Weges. Dieser führte über den Bergzug bei Alto del Pardón, wo auch die oft fotografierte Skulptur eines Pilgerzuges steht. Letztlich war der Pass aber gar nicht so schlimm wie ich befürchtet hatte. Nur die Abfahrt über 10 km mit bis zu 8% Gefälle hatte es in sich und forderte meine ganze Konzentration.

Meine Endstation am heutigen Tag war das mittelalterliche Städtchen Puente la Reina, welches bekannt ist für seine Brücke. Diese wurde im 11. Jahrhundert gebaut und sorgte dafür, dass Puente la Reina ein wichtiger Ort für die Pilger wurde, die hier nun bequem den Rio Arga überqueren konnten.

Beim Bummeln durch den Ort traf ich ein deutsches Rentnerpärchen, welches seit vierzig Jahren zusammen ist und sich unverkennbar liebt wie am ersten Tag. Sie waren drei Wochen zuvor von St. Jean-Pierre-de-Port gestartet und wollten einfach irgendwann in Santiago ankommen. Ihre Kinder hatten ihnen aufgetragen sich Zeit zu lassen. Selbst wenn es Weihnachten werden würde bis sie ihr Ziel erreichten…

Irgendwie beneide ich die beiden dafür, dass es ihnen vergönnt ist sich diesen gemeinsamen Traum zu erfüllen. Welche gemeinsamen Träume haben Christiane und ich eigentlich? Ehrlichgesagt weiß ich es nicht!

Ja, welche gemeinsamen Träume hatten sie eigentlich gehabt? Leo träumte immer davon seinen Lebensabend auf den Kanaren zu verbringen, während das für Christiane keine Option war. Alleine die Vorstellung irgendwo ohne sinnvolle Beschäftigung am Pool zu sitzen und sich tagein und tagaus die Sonne auf den Bauch scheinen zu lassen, die Zeitung zu lesen und dabei einen Cocktail zu schlürfen, war ihr ein Graus, wohingegen es für Leo schlichtweg das Paradies gewesen war.

Ansonsten hatten Leo und sie nie ernsthaft gemeinsam darüber geredet, was sie zusammen erreichen wollten. Klar, die Kinder groß ziehen und zusammen alt werden. Aber wie das konkret aussehen sollte, dazu hatte es keine gemeinsamen Überlegungen gegeben. Jeder hatte vor sich hin gelebt mit seinen eigenen Träumen vor Augen…

4. Tag - gefahrene Strecke: 48,75 Kilometer

Puente la Reina – Estella - Los Arcos - Torres del Ri

Da mir das Zechgelage vom Vortag noch in den Knochen steckte, bin ich gestern Abend früh ins Bett gegangen und habe mich so richtig ausgeschlafen. Deshalb war ich heute auch erst gegen 8 Uhr wieder auf dem Camino.

Gegen 11 Uhr kam ich kurz hinter Estella beim Kloster Santa Maria del Real de Irache vorbei und sinnierte vor mich hin, dass meine Frau besser nicht auf den Camino gehen sollte, denn vermutlich wäre für sie die Pilgerreise hier zu Ende! Es gab hier nämlich einen Brunnen, aus dem Rotwein fließt und an dem man sich kostenlos, wenn auch in Maßen, bedienen durfte. Und ich weiß doch wie gerne meine Frau Rotwein trinkt…

Christiane schnaubte leise und rollte mit den Augen. Mit solchen flapsig-dummen Äußerungen hatte Leo sie oft zur Weißglut gebracht! Und selbst jetzt gingen sie ihr noch tierisch auf die Nerven!

Mit Verweis auf die Tradition benediktinischer Gastfreundschaft hat das ehemalige Klosterweingut den „Fuente del Vino“ hier installiert.

Am Weinbrunnen traf ich auf eine vierköpfige Radpilgergruppe aus Brasilien, die von Saint-Jean-Pied-de-Port über Santiago nach Portugal fahren will. 1000 km in 10 Tagen! Dieses Ziel stand sogar auf ihren T-Shirts aufgedruckt. Ich kann über sowas nur den Kopf schütteln. Der sportliche Ehrgeiz mancher Leute ist wirklich verrückt!

Kurz hinter Los Arcos ging es über 8 km nur noch bergauf und bergab und immer geradeaus. Und so fuhr auch ich immer bergauf und bergab und am Ende der Straße hielt ich an und schaute zurück.

Aus einem unerfindlichen Grund fing ich plötzlich hemmungslos an zu lachen. Warum weiß ich bis jetzt nicht! Vielleicht lag es daran, dass ich solche Strecken ansonsten höchstens bequem mit dem LKW gefahren wäre und so eine Plackerei mit Sicherheit niemals freiwillig auf mich genommen hätte!

Meine Unterkunft für den heutigen Tag in Torres del Rio ist im Übrigen ein wahres Luxushotel mit Himmelbett und einer Dusche mit Massagefunktion.

Ich genoss gerade diesen Luxus, als Christiane mich anrief, um mir mitzuteilen, dass ihre Oma gestorben sei.

Da war er wieder, der Tod! Dabei hatte ich an diesem Tag die Gedanken an ihn erfolgreich verdrängt. Aber nun schlich er sich durch die Hintertür wieder herein.

Dabei war der Tod für die 90jährige, schwer demente Frau sicherlich eine Erlösung! Es war eine Gnade, dass sie gehen durfte! Aber dennoch…

Christiane zeigt an dieser Stelle mal wieder ganz deutlich, dass sie trotz des anfänglichen Widerstandes meinen Wunsch den Weg zu gehen respektierte und dass sie – wie erwartet - auch alleine zuhause klarkam. Ich solle auf jeden Fall weiter meinen Weg fahren.

An diesem Abend waren meine Gedanken dann aber doch eher zuhause, als auf dem Weg und deshalb zündete ich in einer Kirche eine Kerze für Christianes Oma an. Später habe ich alleine in der Herberge gegessen und nun gehe ich zu Bett.

Hätte sie Leo etwa zurückbeordern sollen? Wem hätte das etwas gebracht? Wie Leo bereits geschrieben hatte, war der Tod für Christianes Oma eine Erlösung und die Familie war zwar traurig, aber auch irgendwie erleichtert.

Der alten Frau, die nur noch teilnahmslos im Bett lag, war der Tod willkommen.

Natürlich wäre es für Christiane schöner gewesen bei der Beerdigung ihren Mann neben sich zu wissen, aber hätte sie Leo gesagt, dass er unbedingt nach Hause kommen müsse, hätte das letztlich zwei Konsequenzen gehabt: Für Leo wäre der Abbruch des gerade begonnenen Weges eine bittere Enttäuschung gewesen und für Christiane und die Kinder hätte das bedeutet, dass Leo sich zweifellos noch ein zusätzliches Mal auf den Weg machen würde, um sein Ziel zu erreichen… Dessen war sich Christiane absolut sicher!

Zwar hatte Christiane in Leos Pläne eingewilligt und sich mit dem Gedanken arrangiert, dass der nächste Familienurlaub wohl erst wieder nach der Beendigung des Jakobsweges im nächsten Jahr möglich sei, aber noch ein zusätzliches Jahr wollte sie weder sich noch den Kindern zumuten!

Finanziell wäre ein gemeinsamer Urlaub zwar durchaus möglich gewesen, aber da Leos Urlaubstage begrenzt waren und er fest davon überzeugt war der in der Firma unabkömmlich zu sein, hatte man beschlossen, dass Christiane alleine mit den Kindern im Sommer ein paar Tage wegfahren würde.

5. Tag - gefahrene Strecke 48,94 Kilometer

Torres del Rio - Logroño - Nájera

Es war gut, dass ich gestern Abend keinen Rotwein getrunken hatte und so früh im Bett war. So war ich nämlich fit für den neuen Tag! Um 6:30 Uhr saß ich bereits wieder auf dem Rad, da es heute über 30 Grad warm werden sollte.

Die Idee den Camino für Fußpilger zu nehmen, war dann allerding nicht die beste: Der Weg war zwar kürzer, aber Schotter, tiefe Schlaglöcher und steile Passagen hinderten mich daran zügig voranzukommen.

Dennoch war ich bereits um 9 Uhr in Logroño, wo ich in der Iglesia de Santo el real vom Priester einen sehr schönen Pilgerstempel bekam. So langsam füllte sich mein Pilgerpass!

Der Pilgerpass ist ein wichtiges Dokument auf dem Jakobsweg, denn nur mit einem ausgefüllten offiziellen Pilgerpass kann man sich am Ende in Santiago die Pilgerurkunde ausstellen lassen. Man muss mit Stempeln, die man überall in Bars, Herbergen, Kirchen usw. bekommt, nachweisen, dass man als Fußpilger die letzten 100 km bis Santiago gelaufen ist bzw. als Radpilger die letzten 200 km mit dem Fahrrad zurückgelegt hat.

Leider hatte ich von der Messe, die in der kleinen Kirche stattfand, nur die letzten 5 Minuten mitbekommen. Zwar gehe ich den Weg nicht aus religiösen Gründen, aber dennoch hätte ich es schön gefunden eine Weile in Stille sitzend den Gebeten und Liedern – auch wenn ich sie nicht verstehe – zuhören zu können.

Da ich nun schon 20 km hinter mir hatte, ging ich erst einmal in eine Bar, wo ich die Ungarin Felicia und die Schweizerin Vreni traf, mit denen sich ein lustiges Gespräch entwickelte. Vreni würde ich an diesem Tag noch mehrfach treffen und letztlich noch ein Bierchen mit ihr zusammen trinken…

Auch heute traf ich wieder viele verschiedene Menschen, die aus den unterschiedlichsten Gründen pilgern und die aus aller Herren Länder kommen. Von jedem Kontinent der Erde lernte ich heute Menschen kennen, was zwar unglaublich spannend war, mich aber auch irgendwie daran hinderte mein Ziel zu erreichen. Vor allem das Bier mit Vreni...

Schließlich kam ich doch noch an meinem Tagesziel Nájera an und auch hier ergaben sich wieder interessante Begegnungen, die mir sicher im Gedächtnis bleiben werden, wie zum Beispiel die Begegnung mit dem Luxemburger Achille und dem Holländer Steven, die beide im März jeweils von zu Hause gestartet sind und sich am Vortag zufällig kennengelernt hatten. Ihrer Meinung nach sollte man unbedingt von zu Hause aus starten, nicht das Buch von Hape Kerkeling lesen und somit offen sein für komplett andere Erfahrungen. Tja, zu spät! Denn das Buch hatte ich ja nun mal gelesen. Und ehrlichgesagt, wäre ich auch ohne dieses Buch gar nicht erst hier! Also kann ich nur sagen: Danke Hape!

Ein Highlight war an diesem Tag übrigens die Begegnung mit einem Wanderprediger, der in einer kleinen Hütte am Wegesrand saß und mir eine große Jakobsmuschel für meine Lenkertasche schenkte und noch obendrein einen originellen Pilgerstempel inklusive Widmung in den Pilgerpass drückte. Er war schon recht alt, hatte einen langen weißen Bart und erinnerte mich damit ein wenig an den Weihnachtsmann. Allerdings hatte er keinen roten Mantel an, sondern stattdessen ein braunes, mittelalterlich wirkendes Gewand. Ein hölzerner Wanderstock und ein Esel, der im Schatten eines Baumes vor sich hin döste, vervollständigten das Bild eines originalgetreuen Jakobswegpilgers.

Die Jakobsmuschel ist im Prinzip das wichtigste Erkennungszeichen für Pilger auf dem Jakobsweg. Irgendwie hat jeder eine solche Muschel an seinem Rucksack hängen. Nur ich hatte es bislang versäumt mir eine Muschel zu besorgen. Aber manche Dinge erledigen sich auch von allein.

Genau dieses Verhalten war es, welches Christiane im Alltag regelmäßig auf die Palme gebracht hatte. Bat man Leo irgendetwas zu tun oder sich um etwas zu kümmern, konnte man von Glück reden, wenn er es erledigte. Was wichtig war und was nicht entschied er nach eigenem Ermessen und die Prioritäten, die er setzte stimmten selten mit Christianes Prioritätenliste überein. Oder er vergaß schlichtweg, worum Christiane ihn gebeten hatte.

So kam es oftmals zu Streit, weil irgendwelche dringenden Dinge nicht erledigt waren. Oder Christiane war gezwungen sie selbst in die Hand zu nehmen, weil Leo wieder mal nicht da war. Dass ihr für solche zusätzlichen Arbeiten in ihrem ohnehin schon stressigen Alltag die Zeit fehlte oder manchmal einfach nur die körperliche Kraft, hatte Leo oftmals mit einem Schulterzuckern quittiert. Sie solle das alles nicht so eng sehen…

6. Tag – gefahrene Strecke: 54,29 Kilometer

Nájera - Santo Domingo de la Calzada – Villafranca-Montes de Oca

Heute habe ich es geschafft einmal für eine ganze Zeit das Denken abzuschalten. Ein befreiendes Gefühl auch wenn ich dabei ein Verkehrsschild überfahren habe...

Nicht, dass jemand denkt, ich sei blind durch die Gegend gefahren! Nein, dafür ist die Landschaft zu beeindruckend und die Bauwerke am Wegesrand zu imposant. Ich habe einfach die Aussicht genossen, während mein Körper sich abstrampelte.

Dennoch habe ich den Hahn und die Henne, die in der Kirche von Santo Domingo de la Calzada leben, nicht zu sehen bekommen. Das lag aber daran, dass gerade irgendein Feiertag gefeiert wurde. Aber auch ohne Federvieh war die Kirche sehenswert.

Eine kurze Erklärung was es mit dem Hahn und der Henne auf sich hat möchte ich trotzdem hier abgeben: Der Ort Santo Domingo de la Calzada ist durch das sogenannte Hühnerwunder berühmt geworden.

Einer Legende nach hat ein unschuldig erhängter Pilgerbursche seine Hinrichtung überlebt. Und als wundersames Zeichen wurden auch zwei bereits zu einer Mahlzeit für den Richter zubereitete Hühnchen wieder lebendig. Seither befindet sich in der Kathedrale ein Käfig, in dem ein weißer Hahn und eine weiße Henne gehalten werden.

Quasi nebenbei habe ich es heute geschafft fast 55 km zu fahren. Aber nichtsdestotrotz war ich am Ende meiner Kräfte, als ich mein Tagesziel erreicht hatte. Glücklicherweise haben sich in einer Bar einen Guatemalteke und eine Engländerin meiner angenommen und mich körperlich und moralisch wieder aufgebaut.

Christiane hatte es nicht anders erwartet, dass Leo ständig neue Bekanntschaften machte. Grundsätzlich liebte Leo es immer wieder neue Menschen kennenzulernen. Es fiel ihm nicht schwer auf andere zuzugehen und er war stets neugierig auf ihre Geschichten.

Eifersüchtig auf fremde Frauen war Christiane dabei eher selten. Zum einen lag das daran, dass Christiane sich absolut sicher war, dass Leo zwar gerne flirtete, aber wenn es ernst wurde absolut treu war. Und zum anderen daran, dass Leos offene, aber auch leicht aufdringliche Art – ihrer persönlichen Meinung nach – bei den wenigsten Frauen gut ankommen würde.

Christiane wurde jetzt bewusst, dass ihr im Laufe der Zeit so manches an Leo unangenehm und teils sogar peinlich gewesen war, was sie am Anfang ihrer Beziehung nicht gestört hatte. In dieser ersten Kennenlernzeit, waren sie auch meist für sich allein geblieben, weil sie wegen der kleinen Mara eher selten ausgehen konnten. Da war Leo anders gewesen, leise und bedächtig.

Ansonsten war es Leo eigentlich egal gewesen, wie er auf andere wirkte und wenn er in Gesellschaft war, dann drehte er richtig auf. In diesen Momenten ignorierte er grundsätzlich wenn Christiane ihn vorsichtig darauf hinwies, dass er zum Beispiel unpassend gekleidet war oder dass er sich doch bitte etwas unauffälliger verhalten möge. Er machte einfach immer sein eigenes Ding. Sei es kleidungstechnisch, als auch vom Verhalten her, welches immer ein wenig zu laut und ein wenig zu auffallend war.

7. Tag – gefahrene Strecke: 45,56 Kilometer

Villafranca-Montes de Oca - Burgos - Hontanas

Den Guatemalteken Alusro traf ich am nächsten Morgen beim Frühstück wieder und ich genoss ein weiteres tolles und intensives Gespräch mit ihm. Natürlich auf Englisch, welches dadurch, dass ich es ständig gebrauche, von Tag zu Tag besser wird.

Vermutlich werden mich seine Erzählungen über seine Lebensgeschichte wieder eine Weile beschäftigen. Fast jede Geschichte, die ich bislang auf meinem Jakobsweg gehört habe, hat mich immer ein Stückchen begleitet. Verdränge ich dadurch meine eigenen düsteren Gedanken? Oder ist das eine Art Therapie bei der ich langsam aber sicher erkenne, dass Jeder – wirklich jeder! – sein Päckchen im Leben zu tragen hat und lernen muss damit umzugehen?

Heute habe ich mein Fahrrad mal wieder für eine Weile geschoben, denn es ging über 3 km mit 8% Steigung bergan. Selbst mein LKW wäre da extrem langsam geworden!

Ich kam an Burgos vorbei, fand die Stadt aber - bis auf die Kathedrale - nicht sonderlich beeindruckend, weshalb ich mich tapfer weiterkämpfte. Der Weg führte mich mittlerweile durch die karge Meseta-Landschaft von Kastilien und León. Hinter Burgos kamen noch zwei kurze unbefestigte Abschnitte, aber ansonsten ging es auf ruhigen Wirtschaftswegen und schmalen Landstraßen gut voran. Wenn nur nicht die Sonne so gnadenlos vom Himmel geschienen hätte…

45 Kilometer bin ich heute gefahren, aber dann ging gar nichts mehr, weshalb ich mir in einer Bar ein Taxi bestellte und mich zu meinem Etappenziel Hontanas bringen ließ.

In Hontanas kam ich mit der Französin Sandrine ins Gespräch, mit der ich mich mal wieder auf Englisch unterhielt. Mmh... Sandrine war zwar furchtbar nett, aber dennoch hatte ich irgendwie das Bedürfnis mal wieder deutsch zu reden!

Und wie es das Schicksal wollte, verbrachte ich dann den Abend tatsächlich in der netten Gesellschaft von vier Deutschen, die einer nach dem anderen auf die gleiche abgekämpfte Weise in der Bar eingetrudelt waren wie ich. Aufrechtgehend ist eigentlich keiner angekommen. Von "kriechen“ bis "lang hinschlagen" war wirklich alles dabei! Die anstrengende Etappe, verbunden mit Temperaturen von über 30 Grad, hatte uns alle an unsere Grenzen stoßen lassen. Selbst, als sich unsere nette Runde gegen 22 Uhr auflöste waren es immer noch 23 Grad draußen.

8. Tag - gefahrene Strecke 39,18 Kilometer

Hontanas - Castrojeriz – Fromista

Am nächsten Tag in Castrojeriz traf ich zufällig auf Jutta, eine der Deutschen aus der gemütlichen Runde vom Vorabend. Zusammen tranken wir einen Café con Leche und genossen die Kühle des Morgens. Es ist erstaunlich, dass man irgendwie immer wieder auf die gleichen Leute trifft. Man kennt sich, man grüßt sich, man redet miteinander wie mit alten Freunden.

Zum Glück war es heute nicht mehr ganz so heiß, aber dafür war es recht windig geworden.

Doch der Wind stand günstig und so hatte ich schon gegen 11 Uhr Dreiviertel der heutigen Strecke geschafft und ich darf mir jetzt diese schöne, lange Pause gönnen.

Letztlich war es dann doch schon 15 Uhr, als ich mir in Fromista mein Feierabendbier gönnte.

Sämtliche Knochen taten mir heute weh und meine Muskeln waren völlig verspannt, weshalb ich mir im Hotel dann erst einmal ein Bad eingelassen habe. Allerdings musste ich feststellen, dass das wegen meinem Sonnenbrand keine so gute Idee war...

Wegen dem Wind hatte ich gar nicht bemerkt, dass ich mich verbrannt hatte und dementsprechend war das heiße Badewasser nicht unbedingt angenehm…

9. Tag - gefahrene Strecke 69,4 Kilometer

Fromista - Carrión – Calzadilla de la Cueza - Bercianos del Real Camino

Bei Carrion wechselte ich mal wieder auf den offiziellen Pilgerweg – also den Weg für die Fußpilger - der ein wenig kürzer war, als die Route, die offiziell für die Radfahrer vorgesehen ist. Eine Schotterpiste führte mich dann über scheinbar endlose 10 km nur geradeaus und der Ort Calzadilla de la Cueza wollte einfach nicht auftauchen! Daraufhin musste ich unwillkürlich an das Buch von Hape denken, in dem er genau das beschreibt. Mensch Hape, dir wäre ich hier gerne begegnet!

In dem Ort traf ich auf eine Radgruppe aus Deutschland. Diese Gruppe fuhr immer abwechselnd eine Teilstrecke mit dem Rad und eine mit dem Bus. Ich schloss mich dieser Gruppe für eine Weile an, bevorzugte es dann aber ab Calzada de los Molinos wieder alleine weiterzufahren, da ich ihr zügiges und teilweise auch gnadenloses Tempo nicht mit meinem verbinden konnte. Nun, im Gegensatz zu mir konnten sie die steilsten Anstiege auslassen und ihre Kräfte somit ganz anders einteilen.

Aber ist DAS der Sinn von Pilgern? Ich glaube ehrlich, dass die Mitglieder dieser Gruppe den Jakobsweg mit vielen positiven Erinnerungen im Gepäck beenden werden, aber ich glaube auch, dass sie wesentlich mehr von diesem Weg mitnehmen würden, wenn sie auch die wahren Anstrengungen des Weges erfahren hätten und auch mal an ihre Grenzen geführt worden wären.

Kurz vor Bercianos wurde ich Zeuge eines Radunfalls. Zum Glück hat sich der spanische Fahrer bei dem Sturz nicht ernsthaft verletzt, aber sein Rad war kaputt. Ich half, indem ich ihm auf meiner Karte den Weg zur nächsten Fahrradwerkstatt in Sahagun zeigte. Er bestellte sich ein Taxi und bedankte sich überschwänglich bei mir, bevor ich mich wieder auf den Weg machte, um die letzten Kilometer dieses Tages zu bewältigen.

Irgendwann fiel mir auf, dass ich die ganze Zeit schon "You never walk alone" vor mich hin sang und mir wurde mal wieder deutlich bewusst, dass dies mein Camino ist und ich ihn genauso mache wie ich ihn für richtig halte. In meinem eigenen Tempo und nach meinen eigenen Vorstellungen. Und trotz alledem fühlte ich mich in keinem Moment allein.

Bei meiner Pause nach unglaublichen 60 km machte ich mir übrigens so meine Gedanken: 8 Tage bin ich nun schon mit dem Fahrrad auf dem Camino unterwegs und finde es nach wie vor klasse. Soll ich vielleicht einfach weitermachen und weiterfahren bis nach Santiago?

10. Tag - gefahrene Strecke: 45,13 Kilometer

Bercianos del Real Camino - León

Mein letzter Tag auf dem Rad! Und ich stellte mir erneut die Frage: Sollte ich weitermachen???

Nach zwei Kilometer gab mir mein rechtes Knie allerdings die deutliche Antwort, dass es wohl besser sei für dieses Jahr meinen Weg zu beenden. Bislang hatte es nur gelegentlich mal leicht gezwickt, aber heute habe ich wirklich Schmerzen. Und mein Orthopäde hatte mich schon früher gewarnt solche Schmerzen immer ernst zu nehmen. Ich akzeptiere sie deshalb als ein deutliches Zeichen auf meine Frage.

In einer Bar traf ich meinen "Fahrradunfall" von gestern wieder und wir tranken gemeinsam eine Tasse Kaffee. Pedro lud mich ein, denn er war mir wirklich sehr dankbar, dass ich ihm am Vortag so hilfreich zur Seite gestanden habe. Aber irgendwann hieß es "Buen camino" und es ging weiter. Und da es heute weder zu kalt noch so heiß war, kam ich super voran.

Noch 20 km, noch 15 km, noch 10... Komisch bislang hatte ich immer andersherum gezählt! Noch 5 km und schon sah ich das Ortsschild von León, der Hauptstadt der gleichnamigen Provinz und des ehemaligen Königreichs León. Wahnsinn!!! Ich hatte es geschafft!

Kälte am Morgen, Hitze am Nachmittag, Berge die nicht enden wollen, Staub, traumhafte Landschaften, Ruhe, schlechte Wege, verrückte Autofahrer, schnelle Abfahrten, Café con Leche bis zum Abwinken, genauso der Rotwein, freundliche Menschen, toller Zusammenhalt und der Weg... Während ich diese Zusammenfassung meines Caminos mit einem wehmütigen Blick zurück aufschreibe, kommen mir die Tränen.

Aha, es stimmt also, dass irgendwann jeder anfängt zu weinen.... Irgendwann hat einen der Weg so weit. Aber in meinem Fall sind es definitiv Tränen der Freude und des Glücks!

Christiane überlegte, was sie gemacht hätte, wenn Leo ihr tatsächlich offenbart hätte, dass er - spontan und aus einer Laune heraus – noch zehn weitere Tage in Spanien bleiben würde. Zugetraut hätte sie es Leo ohne weiteres! Vermutlich wäre ihr dann aber endgültig der Kragen geplatzt…

11. Tag - Der letzte Tag in Spanien

León ist eine wirklich schöne Stadt und unter anderem bekannt für seine gotische Kathedrale, die Basilika San Isidoro mit dem Pantheon der Könige von León und der Casa de Botinas, einem frühen Werk des spanischen Architekten Antoni Gaudí.

Deshalb habe ich mir heute ganz entspannt und in Ruhe León angesehen und dabei meinen letzten Tag für dieses Jahr in Spanien genossen. Ab morgen geht es dann wieder zurück in den Alltag. Mir graust es jetzt schon davor…

Hier habe ich mich so frei gefühlt! Ich konnte tun, was ich wollte und niemand machte mir Vorschriften oder engte mich ein!

Die Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft der Menschen auf und am Camino werde ich sehr vermissen. Suchte man hier zum Beispiel einen Wegweiser zeigten die Leute ihn mir ohne groß zu fragen und wünschten mir anschließend schlicht "Buen Camino". In Deutschland sähe dass vermutlich anders aus.

Man sagt von den Deutschen sie seien stur und kühl, und ich denke, dass das stimmt! Aber bin ich selbst besser? Nun, zumindest nicht im Alltag, wenn ich funktionieren muss, wenn ich in meinem Hamsterrad sitze und das Gefühl habe darin festzustecken. Ob ich es schaffe das bei mir ändern?

Dieser Weg hat es auf jeden Fall geschafft mich zu Höchstleistungen anzutreiben, mich an meine Grenzen zu führen und darüber hinaus. Und dann hat er mich komplett wieder neu aufgebaut.

An dem Tag, an dem ich es geschafft habe nicht zu grübeln, war ich ganz mit mir im Reinen. Von diesen Augenblicken könnte ich mehr gebrauchen!

Ich denke, ich habe auf diesem ersten Teil des Caminos schon mal eine Ahnung davon bekommen, was ich eigentlich in meinem Leben suche habe, was ich brauche um glücklich und zufrieden zu sein. Ich habe es geschafft mich irgendwie selbst zu resetten und so quasi auf Anfang zurückzusetzen.

Während meiner Zeit hier hatte ich auch keine Albträume von meinem Unfall, aber dennoch weiß ich tief in meinem Inneren, dass meine Todesangst leider immer noch irgendwo lauert. Ich hoffe, dass ich diese - und alle weiteren Baustellen, die es definitiv in meinem Leben gibt - dann im nächsten Jahr in Angriff nehmen kann.

790 Kilometer lagen zu Beginn meines Jakobsweges im Mai vor mir. 465 Kilometer habe ich nun hinter mich gebracht und im nächsten Jahr werde ich – komme was wolle! - die letzten 325 km fahren!

Christiane klappte das Tagebuch erst einmal zu und ließ ihre Gedanken zurückschweifen.

Die Euphorie mit der Leo vom ersten Teilstück seines Jakobswegs zurückgekehrt hatte, war im Alltag relativ schnell wieder abgeflaut. Zu schnell war er wohl schon wieder in seinem Hamsterrad gelandet… Dennoch konnte man seine Begeisterung spüren, wenn er in Erinnerungen schwelgte. Jedem erzählte er von seinen tollen Erlebnissen unterwegs und man ahnte wie sehr es ihn wieder nach Spanien zog.

Christiane konnte sich zwar grundsätzlich nicht beklagen, weil Leo für sie und die Kinder genauso da war wie vor dem Jakobsweg. Na ja, oder auch genauso wenig…

Und sie musste auch zugeben, dass Leo etwas gelassener und ruhiger vom Jakobsweg zurückgekommen war. Das war ja durchaus etwas Positives gewesen!

Im Geiste war er allerdings oft woanders und er hatte sogar von sich aus zugegeben „Heimweh nach dem Jakobsweg“ zu haben. Hätte Leo nicht eher Heimweh nach seiner Familie haben sollen?

Ein bisschen hatte Christiane das Gefühl gehabt, dass Leo am liebsten dauerhaft aus seinem Alltag geflüchtet wäre. Eine Flucht aus der Realität in eine Welt, in der alles zwanglos ist und wo man nur Zeit für sich selbst und seine eigenen Bedürfnisse und Gedanken hatte…

Die blaue Muschel

Подняться наверх