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„Wir werden geformt und gestaltet durch das, was wir lieben“ (Johann Wolfgang von Goethe)

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Leo war ein Hüne, ein Mann wie ein Berg. Und zu dem Zeitpunkt, als Christiane und er sich kennengelernt hatten, war er genau der Mann, den Christiane in ihrem Leben brauchte, und er war zu ihrem Fels in der Brandung geworden. Er vermittelte ihr in jeder Hinsicht Geborgenheit und Sicherheit. Und dafür hatte sie ihn geliebt.

Gerade war sie aus einer Ehe geflüchtet, die sie seelisch zu einem Frack gemacht hatte. Ihr Ex-Mann hatte ihr sämtliches Selbstbewusstsein geraubt, sie ständig kontrolliert und bei allem, was sie ohne ihn tat sein Misstrauen gezeigt. Zum Schluss schreckte er nicht einmal vor physischer Gewalt zurück.

Leo war da ganz anders. Zwar mit einem großen Mundwerk und oftmals – seinem Sternzeichen entsprechend - dem Temperament eines dickköpfigen Stiers, aber zumindest Christiane gegenüber verhielt er sich eher wie ein sanfter Riese. Sie empfand ihn im Grunde seines Wesens als gutmütig und er gehörte für sie eindeutig in die Kategorie „tapsiger Bär“, weil er, gerade wenn es um Feingefühl und Feinmotorik ging, seine Defizite hatte. Er hatte auch ein besonderes Talent dafür jedes Fettnäpfchen zu treffen.

Wenn Leo mal wütend wurde - was gelegentlich auch mal geschah - dann war das vorhersehbar und berechenbar. Bei Christianes Ex-Mann war das Gegenteil der Fall gewesen...

Dennoch wusste Leo durchaus, was er wollte, und er forderte auch regelmäßig seine Freiheiten ein: Die Freiheit seinen Traumberuf – Fernfahrer! - auszuüben und teilweise wochenlang und europaweit auf der Straße unterwegs zu sein. Die Freiheit seine spärliche Freizeit weitgehend selbst zu bestimmen oder - wie bei diesem Gespräch - die Freiheit etwas total Verrücktes zu tun.

Der Fairness halber musste Christiane sich jedoch eingestehen, dass Leo auch Christiane diese Freiheiten zugestand. Auch sie war grundsätzlich frei ihre Träume zu leben, aber dennoch bestand sie nicht so unnachgiebig darauf wie Leo. Sie war bereit Kompromisse einzugehen und im Zweifelsfall zum Wohle ihrer Familie zurückzustecken.

Das war etwas, was Leo überhaupt nicht konnte, denn in diesem Punkt verhielt er sich oftmals wie ein bockiges Kind. Und in solchen Momenten fiel es Christiane dann wirklich schwer in diesem großen Jungen den ernstzunehmenden Mann zu sehen.

Wenn man es aus diesem Blickwinkel betrachtete, drängte sich der Eindruck auf, dass Leo recht egoistisch seinen eigenen Lebenstraum lebte, seine eigene Lebensphilosophie. Und für seine Mitmenschen gab es deshalb eigentlich nur zwei Möglichkeiten: Entweder man mochte ihn trotzdem oder man mochte ihn halt nicht.

Viele schätzten ihn wegen seiner Zuverlässigkeit und seiner Hilfsbereitschaft, andere waren dagegen genervt von seiner lauten und überschwänglichen Art. Und wenn Leo gereizt war und seiner Wut verbal und mit entsprechender Mimik Ausdruck verlieh, wirkte er auf manchen Gegner sogar furchteinflößend und gefährlich.

Bevor Christiane in Leos Leben getreten war, war es gelegentlich vorgekommen, dass aus verbaler Aggressivität auch schon mal eine Handgreiflichkeit geworden war. Nein, Leo war kein Kind von Traurigkeit gewesen! Aber das erfuhr sie eher durch Zufall nachdem sie schon eine ganze Weile – ohne dass es irgendwelche Zwischenfälle gegeben hatte - mit Leo zusammen gewesen war.

Gebessert hatte sich Leos Verhalten wohl in dem Augenblick, als er sich in die ruhige Christiane verliebt hatte, die in vielerlei Hinsicht scheinbar einen ausgesprochen besänftigenden Einfluss auf ihn ausübte.

Umgekehrt hatte Christiane von Leo gelernt offen zu sagen, was ihr gegen den Strich ging und schlagfertig zu kontern, wenn ihr jemand einen dummen Spruch an den Kopf warf. Ein wenig färbte Leos Art also genauso auf sie ab wie ihre Art auf ihn.

Es war deshalb nicht von der Hand zu weisen, dass Christianes Beziehung zu Leo grundsätzlich auch einen positiven Einfluss auf sie hatte. Sie wurde selbstbewusster, blühte in jeder Hinsicht auf und entwickelte neue Interessen. Sie entdeckte ein paar neue Seiten an sich, wurde neugierig auf das Leben, die Welt, neue Horizonte.

Da sie wegen Leos Beruf oft alleine war und wegen der Kinder abends in der Regel zu Hause bleiben musste, entdeckte sie ein altes Hobby wieder und las unzählige Bücher zu den unterschiedlichsten Themen. Anfangs waren es eher Liebesromane oder Thriller. Dann fiel ihr durch Zufall ein philosophisches Buch über die Lehre vom Sein in die Hände, welches sie in ihrem Inneren so berührte, dass sie mehr zu diesem Thema wissen wollte.

Von da an las sie fast nur noch Bücher über das Woher, Wohin und Warum. Außerdem schaute sie inspirierende Filme und entdeckte viele interessante Seiten zum Thema Bewusstwerdung und Erfüllung im Internet.

Dabei war es keine abgehobene Esoterik, die sie interessierte, sondern vielmehr die nicht religionsgebundene Spiritualität. Natürlich geschah die Hinwendung zu diesen doch recht speziellen Themen nicht von jetzt auf gleich, sondern entwickelte sich eher im Laufe der Jahre von ganz allein, wobei das Interesse eher immer stärker wurde, als wieder abzuflauen.

Gerne hätte sich Christiane mit jemandem darüber ausgetauscht, aber in einem kleinen Dorf wie ihrem interessierte man sich in seiner Freizeit eher fürs Gärtnern und Nähen, als für Spiritualität jenseits der Kirche…

Leo zog so manches Mal die Augenbrauen hoch, wenn er wieder einmal ein neues Buch entdeckte, mit dessen Titel und Inhalt er so gar nichts anfangen konnte. Und wenn Christiane versuchte ihm etwas dazu zu erzählen, dann war sein einziger Kommentar „Aha“. Er war da doch eher der bodenständige, konservative Typ und bevorzugte der Einfachheit halber die herkömmlichen Glaubenssätze seiner katholischen Erziehung, mit denen er aufgewachsen war. Dennoch respektierte er Christianes „Hobby“ und ließ sie gewähren.

Zu Christianes Bedauern merkte er dabei leider nicht, dass sein deutlich spürbares Desinteresse sie auf eine gewisse Art und Weise verletzte und dass sich langsam in ihrer Beziehung zueinander etwas veränderte.

An einem nicht genau zu bestimmenden Punkt schlich sich bei Christiane das nicht zu leugnende Gefühl ein, dass ihr in ihrer Beziehung zu Leo etwas fehlte: Die Kommunikation auf Augenhöhe, gemeinsame Interessen, das Verständnis für die Bedürfnisse und Empfindungen des anderen.

In gewissen Momenten hatte Christiane sogar das Gefühl seelisch zu verhungern, weil Leo sich mit seinem einfachen Leben und seiner einfachen Denkweise zufriedengab: Die Wochenenden mit der Familie, die Abende mit seinen Fußball- und Kartenfreunden, seine Truckerfreunde und sein heißgeliebter LKW waren scheinbar alles, was er brauchte, um glücklich zu sein.

Nein, Christiane konnte und durfte nicht Leo die Schuld dafür geben. Es war wahrlich nicht Leo, der sich mit der Zeit veränderte! Leo war zufrieden mit seinem Leben so wie es war.

Christiane bemerkte lediglich bei sich selbst diese immer größer werdende innere Unzufriedenheit. Denn Christiane war es die sich veränderte und weiterentwickelte. Und weil das so war, gab es da nun mal – ganz ungewollt und unbeabsichtigt - dieses Ungleichgewicht…

Aber konnte man deshalb ihr die Schuld in die Schuhe schieben, dass ihrer Beziehung zu Leo die Bindung verlorenging und dass sich eine gewisse Distanz zwischen ihnen auftat? Hatte sie nicht auch das Recht der Mensch zu sein, der sie sein wollte und das Leben zu führen, welches sie sich wünschte? Musste sie sich an Leo anpassen, damit ihre Beziehung weiter funktionierte?

Christiane dachte deswegen ein wenig mit Sorge an die Zukunft: Wie sollte das auf Dauer weitergehen? Würde es irgendwann überhaupt keine Gemeinsamkeiten zwischen ihnen mehr geben außer dem Interesse an ihren beiden Kindern Mara und Max...

Zwar war Mara nicht das leibliche Kind von Leo, sondern stammte aus Christianes erster Ehe, aber dennoch behandelte er das Mädchen, als wäre sie seine eigene Tochter.

Mara war gerade drei Jahre alt gewesen, als Christiane sich von ihrem Vater getrennt hatte und das Mädchen hatte sehr schnell Zutrauen gefunden zu dem neuen Mann an der Seite ihrer Mutter. Drei Jahre später wurde der gemeinsame Sohn Max geboren und er war in jeder Hinsicht das genaue Ebenbild seines Vaters, weshalb Leo auch mächtig stolz auf ihn war. Man merkte, dass Leo beide Kinder wirklich liebte.

Dennoch hatten auch die Kinder es nicht einfach eine wirklich innige Beziehung zu ihrem Vater aufzubauen. Da dieser ja im Fernverkehr tätig war, war er meist nur an den Wochenenden zu Hause. Und dann war er froh, wenn er seine Ruhe hatte. Ruhe um auf dem Sofa zu schlafen, fernzusehen oder irgendwie anders abzuschalten.

Nebenbei versuchte er in dieser Zeit dann auch das an Erziehung nachzuholen, was den Kindern in der Woche angeblich fehlte.

Diesen offensichtlichen und gelegentlich auch offen geäußerten Vorwurf von Leo fand Christiane absolut ungerechtfertigt und ungerecht noch dazu: Nicht nur, dass sie sich sowohl um das Wohl der Kinder, als auch um Haus, Garten und die Familienfinanzen kümmern und ihrem Halbtagsjob gerecht werden musste, nein, sie durfte sich auch noch anhören, dass ihre Erziehungsmethoden nicht streng genug wären. Und das nur, weil die Kinder für Leo, der in einem strengen Elternhaus aufgewachsen war, nicht so perfekt funktionierten, wie er es von ihnen erwartete.

Die Kinder hatten mit geradem Rücken am Tisch zu sitzen, das Besteck richtig zu benutzen und nicht so viel vorm Fernseher vor der Spielekonsole zu sitzen, sondern draußen zu spielen. Gerade letzteres war geradezu lächerlich, wo er doch selbst oft den ganzen Sonntagmorgen irgendwelche Online-Spielchen spielend vor seinem Laptop verbrachte, was seiner Vorbildfunktion und Integrität nicht unbedingt Nachdruck verlieh.

Aber er maß ja auch generell gerne mit zweierlei Maß: Zum einen waren da seine Erwartungen wie seine Mitmenschen zu funktionieren hatten und zum anderen war da seine eigene Ansicht, wie er selbst zu funktionieren hatte…

Christiane merkte, dass die negative Gedankenspirale im Kopf sich immer schneller drehte und sie auch jetzt – noch Jahre später! - in Rage brachte.

Am Anfang ihrer Beziehung hatte Christiane Leo wirklich geliebt. Leider war diese Liebe wegen der vielen Unstimmigkeiten im Alltag und dem Auseinanderdriften ihrer Interessen irgendwann auf der Strecke geblieben. Zwar hatte Christiane Leo immer noch lieb – so wie man einen guten Freund lieb hatte - und sie wäre niemals auf den Gedanken gekommen ihn zu verlassen, aber es fehlten schlichtweg die Leidenschaft und das Gefühl der Zusammengehörigkeit, einfach das gewisse Etwas, welches für eine glückliche und erfüllende Partnerschaft nötig gewesen wäre. So waren sie mittlerweile zu zwei Individuen geworden, die jeder ihr eigenes Leben lebten, womit sie im Grunde aber auch durchaus zufrieden waren.

Und dennoch… Christiane hätte es zwar niemals offen zugegeben, weil es sie zu sehr beschämte, aber gelegentlich hatte sie sich doch bei dem Gedanken ertappt, was wäre, wenn Leo – aus welchem Grund auch immer – plötzlich nicht mehr da wäre… Hätte sie dann nicht die Chance ihr Leben noch einmal neu zu ordnen, endlich alles richtig zu machen, um dann vielleicht doch noch den Mann zu finden, der wirklich zu ihr passte?

Erst kürzlich hatten sie im Büro darüber diskutiert wie das ist mit der Liebe in einer bereits länger währenden Beziehung.

Der Auslöser zu dieser Diskussion war die traurige Tatsache gewesen, dass ihre Arbeitskollegin nach dreißig Jahren Ehe von ihrem Mann verlassen worden war, weil seine Gefühle für sie erloschen waren und er sie schlichtweg nicht mehr liebte.

„Wie kann er ihr sowas nur antun!“, echauffierte sich Trudy, eine Kollegin der älteren Generation.

„Es ist doch normal, dass nach so vielen Jahren keine Schmetterlinge mehr da sind. Aber deshalb kann man doch nicht seinen Partner einfach so im Stich lassen! Dass ist doch auch der Sinn einer Ehe! Dafür hat man sich doch das Eheversprechen gegeben!“

Christiane erinnerte sich: „Ich verspreche dir die Treue in guten und in schlechten Tagen, in Gesundheit und in Krankheit, bis der Tod uns scheidet. Ich will dich lieben, achten und ehren alle Tage meines Lebens…“

Und Christiane hatte geschwiegen. Hatte man tatsächlich die Verpflichtung seinen Partner bis zum Ende seiner Tage glücklich zu machen und auf ewig bei ihm zu bleiben auch wenn man selber dabei unglücklich war. Gerade wenn man noch relativ jung war und quasi das halbe Leben noch vor sich hatte, hatte diese Aussicht doch etwas extrem Trostloses an sich. Ein gern bemühter Spruch lautete schließlich, dass man nur dies eine Leben habe…

Klar, gab es da eine gewisse Verantwortung, die man für den anderen hatte, aber hatte man nicht das Recht sein Leben selbstbestimmt zu leben? Hörte man den lieben Kolleginnen zu, hatte man dieses Recht nicht…

Im Falle ihrer ersten Ehe war es damals dringend notwendig gewesen, die Reißleine zu ziehen. Und niemand, der ihren Ex-Mann gekannt hatte, zweifelte an ihrer Entscheidung. Zu viel war einfach geschehen, was man nicht einfach ignorieren konnte…

Aber trotzdem wäre es Christiane in Bezug auf ihre Ehe mit Leo niemals in den Sinn alles hinzuschmeißen und sich von Leo zu trennen. Sie hatte ihren Weg gefunden. Es war okay für sie so zu leben wie sie lebte, und sie war im Großen und Ganzen mit ihrem Leben, so wie es war, zufrieden. Sie hatte ihre Freiheiten und sie führte ein in jeder Hinsicht geregeltes Leben, in dem es ihr finanziell und materiell an nichts fehlte. Punkt.

Irgendwelche Abstriche musste man schließlich immer machen. Christiane gab sich nicht der Illusion hin, dass es die perfekte Beziehung überhaupt gab! Natürlich wäre es schön mit dem Partner auf Augenhöhe kommunizieren zu können, die gleichen Interessen zu haben. Und es wäre auch schön, einen Partner an seiner Seite zu haben, der sie nicht jeden Sonntagnachmittag allein mit den Kindern zurückließ, um erst am Freitag wieder mit einem Berg von Wäsche und dem Bedürfnis nach viel Schlaf und Entspannung sowie einer warmen Mahlzeit auf der Matte zu stehen!

Was Zärtlichkeit und körperliche Liebe anbelangte, forderte Leo regelmäßig ein gewisses Maß an Zuwendung ein, was Christiane ihm dann auch zugestand. Sie selbst war mit der Zeit recht anspruchslos geworden. Das Leben hatte sie in dieser Hinsicht nie verwöhnt.

Den Glauben an die wirkliche große Liebe hatte sie schon vor Jahren verloren nachdem die Beziehung mit ihrem ersten Mann gescheitert war und sie als nervliches Wrack zurückgelassen hatte.

Christiane hielt inne. Versuchte sie etwa gerade ihr Verhalten, ihre Gedanken und innersten Gefühle – schlichtweg ihren Lebensweg, der noch nie geradeaus gegangen war - zu rechtfertigen? Vor wem eigentlich?

Christiane wusste, dass ihre allgemeine Einstellung zum Leben und ihre besondere Einstellung zu ihrer Beziehung zu Leo von manchen ihrer Mitmenschen mit Unverständnis beäugt wurden und dass nicht wenige ungläubig den Kopf darüber schüttelten.

Dabei war sie eigentlich so erzogen worden nicht aufzufallen und darauf zu achten, dass die Leute nicht Schlechtes von ihr denken konnten… Offensichtlich hatten die gutgemeinten Erziehungsversuche ihrer Eltern nicht gefruchtet.

Aber Leos plötzlicher Wunsch auf den Jakobsweg zu gehen, ging Christianes persönlicher Meinung nach wirklich zu weit! Als ob Leo nicht schon im normalen Alltag ein gewisses Maß an Egoismus lebte, indem er seinem Traumjob nachging, nein, nun wollte er auch noch während seiner knapp bemessenen Urlaubstage seinen Egotrip verfolgen!

Warum auch immer Leo, der bewegungstechnisch in seiner Freizeit jede Mühe scheute, nun auf diese verrückte Idee gekommen war gerade auf den Jakobsweg zu gehen, verstand Christiane zum damaligen Zeitpunkt absolut nicht!

Nun, zumindest ahnte sie, rückblickend betrachtend, dass ihre negative Einstellung zu diesem Vorhaben wohl in erster Linie von Neid geprägt war… Neid darauf, dass Leo sich einfach die Freiheit nahm den Traum zu leben, den sie sich aus Rücksicht auf ihre Familie versagt hatte.

Aber rückwirkend betrachtet sah man sowieso so manches anders…

Die blaue Muschel

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