Читать книгу Tambara - Heike M. Major - Страница 12

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Soul saß im Zentralraum der Bota’s Group of Fashion Adventure und verfolgte die Präsentation der neuesten Bademode. Sie hatte den Konzern bei der Auswahl des akustischen Rahmenprogramms beraten und begutachtete nun die Reaktionen der Zuschauer.

Zwei Models in neonfarbenen Bikinis liefen über den Laufsteg und setzten ihre Stoffstreifen gekonnt in Szene. Mit je einem Riesenplastikball unter dem Arm spazierten sie auf eine Plattform am Ende des Steges zu, wo zwei himmelblaue Liegestühle auf sie warteten. Sie ließen sich auf den Kunststoffgestellen nieder, setzten ihre Sonnenbrillen auf und ab und spielten einen Plausch unter Freundinnen nach. Aus den Lautsprechern drang das Rauschen von Brandungswellen. Geschickt standen die jungen Damen wieder auf, stellten sich noch einmal in Positur und stolzierten zur Bühne zurück. Windgeräusche ließen sie frösteln, zwei junge Burschen eilten herbei, um ihnen schicke Bademäntel überzuwerfen, die im Rhythmus der Musik hin und her schwangen.

Den Gästen schien die Show zu gefallen. Wenn die Naturgeräusche ertönten, wurde es immer besonders still im Saal. Eine blondierte Schönheit in hautengen Shorts schnupperte an einem künstlichen Rosenstock. Im Saal zwitscherten Vogelstimmen, und synthetischer Wiesenduft aus der Filteranlage umschmeichelte das anspruchsvolle Publikum.

Soul hatte Mühe, die Vorstellung in allen Details zu verfolgen, weil vor ihr zwei hochgewachsene Männer saßen, die dauernd ihre Köpfe zusammensteckten und im Flüsterton diskutierten. Neben ihnen war noch ein Platz frei, und in regelmäßigen Abständen drehte einer der beiden sich um und warf einen Blick in Richtung Eingang, so als würde er noch jemanden erwarten. Als nach einiger Zeit tatsächlich ein dritter Mann erschien, dachte Soul, das Getuschel hätte nun endlich ein Ende, doch statt sich der Vorführung zuzuwenden, fingen nun alle drei an zu flüstern.

Der verspätet eingetroffene Bekannte hatte anscheinend etwas mitgebracht. Durch den Schlitz zwischen den Stuhlreihen konnte Soul sehen, wie er ein kleines Kästchen aus der Hosentasche herauszog, das er stolz seinen Kumpanen präsentierte.

„Ich weiß nicht, ob dies der richtige Ort für dein Experiment ist“, gab sein Nachbar zu bedenken.

„Wieso nicht?“, fragte der Mann mit dem Kästchen. „Wir brauchen ein Publikum – hier ist es.“

„Aber du kannst die Folgen kaum abschätzen.“

„Das macht es ja gerade so spannend.“

Eine der Vorführdamen blickte verärgert vom Laufsteg zu den Störenfrieden hinunter. Unauffällig verschwand der Behälter unter dem Handballen seines Besitzers. Für einen Moment blieben die Männer stumm. Dann begannen sie aufs Neue zu diskutieren.

„Aber warum gerade hier?“

„Warum nicht?“

„Es sind zu viele Menschen dabei.“

„Je mehr, desto besser.“

„Das gibt bestimmt einen Tumult.“

„Na und?“

„Oder es passiert überhaupt nichts.“

Der Mann mit dem Kästchen verlor die Geduld.

„Das werden wir ja sehen“, murrte er und öffnete entschlossen den Behälter.

Soul sah, wie aus dem Kasten ein kleiner, schwarzer Punkt entwich. Ein merkwürdiger Summton begleitete die Aktion, ein Ton, der kräftig anschwoll, sich aber schnell entfernte und schließlich ganz verstummte. Wo hatte sie diesen Ton schon einmal gehört?

Unterdessen ging die Vorführung weiter. Präsentiert wurden lange, üppige Roben für den Gesellschaftsabend: Kleider mit weiten, fülligen Röcken und ausgeschnittenen Oberteilen. Thema war die Farbe Weiß. Ob Schal- oder Karreekragen, Tüllumhang oder Bolero-Jäckchen, Knopf, Reißverschluss, Abendtäschchen oder Technikarmband, die ganze Kollektion war in Schneeweiß gehalten. Umso erstaunter waren die Gäste, als sie auf dem weißen Schalkragen eines der Modelle plötzlich einen schwarzen Punkt entdeckten. Ein schwarzer Punkt auf einem weißen Abendkleid? Das kam ihnen merkwürdig vor. Von den Zuschauerplätzen aus war auch nur schwer zu erkennen, wo sich dieser Punkt eigentlich genau befand. Glaubte man gerade, ihn am Kragen des Kleides ausfindig gemacht zu haben, war er ein paar Sekunden später schon auf die Schulter gerutscht.

Die Musik wurde leiser, Vogelgezwitscher ertönte und die junge Dame schnupperte entzückt an den Plastikrosen. Noch einmal stellte sie sich in Positur, um dann vorschriftsmäßig den Rückweg anzutreten. Die ihr entgegenkommende Kollegin schielte verwundert zu dem seltsamen Fleck auf dem fremden Kleid hinüber, als dieser sich plötzlich bewegte. Abrupt blieb sie stehen. Auch für die Gäste in den vorderen Reihen war es nun offensichtlich, dass dieser merkwürdige Klecks tatsächlich seinen Standort wechselte. Mehrere Beine schienen ihn dabei zu unterstützen.

Verwundert über die Reaktion der Kollegin, blickte das Model mit dem schwarzen Punkt auf seine Schulter hinab. Die anfängliche Neugier verwandelte sich schnell in ungläubiges Erstaunen, das nach einem kurzen Moment offensichtlicher Erkenntnis in einen Ausdruck hilflosen Ekels überwechselte und schließlich in einem lauten Schrei des Entsetzens und einem gewaltigen Sprung nach hinten mündete. Dabei flogen wie zur Abwehr zwei Arme in die Höhe, was den schwarzen Punkt dazu veranlasste, sich in die Lüfte zu erheben, eine Schleife über den Köpfen der beiden Damen zu fliegen und auf der Stirn der verdutzten Kollegin Station zu machen. Die Unglückliche hatte den Flug verfolgt und rollte nun erschreckt mit den Augen, um dieses grauenerregende Phänomen auf ihrer Stirn zu lokalisieren. Dabei schielte sie entsetzlich. Sie hatte den Eindruck, eine Armee winziger Füße würde auf ihrem Fleisch spazieren gehen, und ihr fiel nichts Besseres ein, als einen gellenden Schrei auszustoßen und in Ohnmacht zu fallen. Der schwarze Punkt ließ in dem Moment von ihr ab, als ihr Körper zu Boden fiel, und machte sich aufs Neue an die Schalkragendame heran, die kreischend ihren Rock anhob und in Windeseile über den Laufsteg davonstob.

„Ein Tier“, rief jemand aus dem Publikum, „das ist ein Tier!“

„Ein Tier? Was für ein Tier?“

„Ein Insekt, seht doch, es kann fliegen!“

„Ein Insekt?“

„Was für ein Insekt? Ist es gefährlich?“

„Ich weiß nicht, ich kann es nicht erkennen, es ist zu schnell.“

Ein Insekt, um Himmels Willen, noch nie hatten Tambaras Bürger in ihrer Stadt ein Insekt frei umherfliegen sehen. Sie waren zutiefst verunsichert, einige erhoben sich von den Sitzen. Doch die Musik wurde lauter, und die Vorführung ging weiter. Das Publikum beruhigte sich allmählich. Der ohnmächtig gewordenen Dame wurde auf die Beine geholfen, sie verschwand verschämt hinter der Bühne. Zwei neue Models erschienen auf dem Laufsteg. Die Besucher, die schon aufgestanden waren, nahmen ihre Plätze wieder ein. Die jungen Damen spazierten auf und ab, neuerlicher Beifall erweckte den Anschein von Normalität und der unschöne Vorfall schien fast vergessen.

Gerade begaben sich die Mädchen wieder auf den Rückweg, da ertönte dieses merkwürdige Summen von Neuem. Wie auf Kommando wanderten sämtliche Zuschaueraugen in die Höhe. Das als Insekt identifizierte Etwas sauste im Sturzflug über die Gäste hinweg, die unwillkürlich ihre Köpfe einzogen. Plötzlich fiel es Soul ein. Bei einem Blick durch die Scheiben in die Gärten der Harrison’s Group of Nature Presentation hatte sie dieses Geräusch schon einmal gehört.

„Eine Fliege“, rief sie spontan, „das ist eine Fliege!“

Nun war es mit der Ruhe der Zuschauer vorbei. Sie wollten doch lieber nach Hause gehen, einige sprangen über die Lehnen hinweg und rannten aus dem Saal, andere versteckten sich zwischen den Stuhlreihen oder krochen gleich ganz unter die Sitze. Eines der Models riss eine Rose aus dem künstlichen Pflanzenstock heraus, um damit nach dem Tier zu schlagen.

„Fangt sie“, rief jemand, „eine Fliege kann man fangen!“

„Tausend Tambas, tausend Tambas für denjenigen, der mir die Fliege einfängt!“, schrie ein anderer dazwischen.

Einige mutige Männer stürmten los.

Doch wo war sie? Wo hatte sie sich versteckt?

„Fliege? Fliege, wo bist du?“

„Puttputt, puttputtputtputt!“, lockte jemand.

„Fliege? Hallo, bitte melde dich!“

„Lecker, lecker, lecker!“

„Nun seid doch mal still, schschschsch!“

Es wurde ruhig im Saal.

Alle horchten.

„Sie sitzt bestimmt irgendwo und lacht sich schief.“

„Eine Fliege kann nicht lachen.“

„Schschsch …“

Da …, da war er wieder, dieser Summton!

„Da ist sie!“

Aus allen Ecken des Raumes stürzten die mutigen Männer auf die Fliege zu. Einige sprangen in die Höhe und schnappten mit den bloßen Händen nach ihr. Andere warfen ihre Anzugjacken in die Luft in der Hoffnung, das Tier möge sich darunter verfangen. Eine dieser Jacken landete auf dem Tisch zweier vornehmer Herrschaften. Statt des Insektes beugte sich ein Champagnerglas dem Gewicht des schweren Stoffes, und der Inhalt ergoss sich über das Abendkleid des weiblichen Gastes. Während die überraschte Dame noch fassungslos auf ihren sektdurchtränkten Stoff starrte, ergriff der Begleiter der Lady den Schleier des ramponierten Kleides und schloss sich den Jägern an.

Plötzlich übertönte die Stimme einer älteren Dame alle Schreie.

„Ich hab’ sie, ich hab’ sie mit meinen bloßen Händen gefangen!“

Ihre Arme so weit wie möglich von sich streckend, presste sie beide Hände fest aufeinander. Dabei formte sie mit den Fingern eine Höhle, in der das Insekt nun unruhig hin und her krabbelte.

Das Publikum hielt den Atem an.

„Festhalten, Madame“, beschwor der Mann, der für die Fliege tausend Tambas geboten hatte, die Dame und näherte sich ihr auf Zehenspitzen.

Während er im Zeitlupentempo auf die Frau zu schlich, wandte er keinen Blick von den Händen, die seinen Schatz bargen.

„Ein Behälter muss her“, raunzte er in die Menge. „Los, los, besorgt mir einen Behälter!“

Seine Mitstreiter blickten sich forschend um. Das Model, das mit der künstlichen Rose um sich geschlagen hatte, reichte sein Abendtäschchen vom Laufsteg herunter. Ein Gast nahm es in Empfang und drückte es dem Fliegenfänger in die Hand.

Die Dame mit der Fliege wurde zunehmend unruhiger.

„Es fühlt sich irgendwie komisch an“, beklagte sie sich.

„Halten Sie durch, Madame“, zischte der Jäger. „Ich bin gleich bei Ihnen.“

„Aber es kribbelt so entsetzlich. Sind Sie sicher, dass es nicht gefährlich ist?“

„Ganz sicher, Madame.“

„Bitte beeilen Sie sich!“

Ja doch, es ist ja gleich geschafft.“

Der Fliegenliebhaber öffnete das Abendtäschchen und wollte es gerade über die Hände der Lady stülpen, als deren Finger verrutschten und das Insekt entschlüpfte.

„Oohhh …“

Die Menge war enttäuscht.

„Tut mir leid, ich habe es einfach nicht mehr ausgehalten“, entschuldigte sich die Dame.

Der Fliegenfänger unterdrückte einen Fluch.

Verärgert schaute er sich um.

„Sieht sie jemand?“

„Ihr müsst auf das Summen achten!“

„Ruhe, nun seid doch mal still!“

Die Besucher stellten ihre Gespräche ein. Immer leiser wurde es im Saal. Und tatsächlich, laut und deutlich war der erwartete Summton zu hören.

„Dort …, dort fliegt sie!“

Etliche Finger zeigten in die Höhe. Als würde sie die Aufregung genießen, flog die Fliege über den Köpfen der Besucher einige großzügige Runden. Unzählige Augenpaare bewegten sich dazu im Takt. Mehrere Male verringerte sie ihre Flughöhe, und es sah aus, als würde sie sich irgendwo niederlassen, doch die abwehrenden Gesten der erschreckten Gäste verscheuchten sie jedes Mal aufs Neue. Schließlich wählte sie einen Tisch in der Menge aus. Von einer Sekunde zur anderen war der Summton verschwunden.

Der Fliegenjäger hatte ihren Flug verfolgt und wollte sich gerade auf sie stürzen, als jemand mit einer einzigen Handbewegung und einem umgestülpten Wasserglas das Unternehmen beendete.

„Klack“, machte es – das Glas fiel über das Tier, und die Fliege war gefangen.

Soul registrierte ein teures Technikarmband an einem schlanken Handgelenk. Dahinter blitzte eine weiße Hemdmanschette.

Die Hand stellte eine gläserne Streichholzschachtel auf den Tisch, schob den Deckel zurück, führte ein Programmheft vorsichtig unter das Trinkglas, hob das Glas damit hoch, hielt es über die Schachtel, zog das Heftchen ein winziges Stück zurück, sodass das Insekt durch den entstandenen Spalt in den Behälter rutschte, schob den Deckel wieder zu, ergriff das Schächtelchen und steckte es in die Jackentasche. Das Publikum war sprachlos ob solcher Geschicklichkeit und schaute den Helden neugierig an. Dieser stand auf und wandte sich an die Gäste.

„Meine Damen und Herren, es tut mir leid, wenn ich Ihnen Unannehmlichkeiten bereitet habe. Mein Name ist Sir W.I.T.“

„Ooohh …, nein …, tatsächlich?“

Ausrufe des Erstaunens und Entzückens füllten den Raum.

„Dieses Insekt ist einem Angestellten meines Instituts aus dem Labor entwischt. Ich war hier, um es zurückzuholen. Ich bedanke mich für Ihr Verständnis und wünsche Ihnen noch einen angenehmen Abend.“

Kaum hatte er seine Ansprache beendet, setzte er sich in Bewegung, ein paar Schritte … und er hatte den Saal verlassen.

„Sir W.I.T., der Sir …, ja, wenn das sooo ist …“

Die meisten Zuschauer hatten sich schon wieder auf ihren Plätzen niedergelassen. Einige eilten hinaus, um sich diese Berühmtheit anzusehen. Soul folgte ihnen neugierig, doch als sie ins Freie trat, blickte sie in ratlose Gesichter. Anscheinend hatten die Gäste ihn verpasst. Unverrichteter Dinge trotteten sie in den Saal zurück.

Soul blieb noch eine Weile draußen. Sie lehnte sich mit dem Rücken gegen die Institutsmauer und betrachtete die Sterne. Von hier unten waren auch sie nicht größer als eine Fliege. Sterne …, Fliegen …, ist es nicht merkwürdig, dachte sie, dass die Fliegen überlebt hatten? Sterne, ja, die waren zum Forschen da, das eröffnete neue Möglichkeiten – aber Insekten? Die zählten doch gewiss nicht zum Besten. Trotzdem hatten sie überlebt, überlebt in einer Welt, in der nur das Beste überleben konnte.

Ein Geräusch ließ Soul aufblicken. Jemand war von der Seite an sie herangetreten.

Nun …“, fragte Sir W.I.T., „welch weisen Gedanken hängt unsere junge Dame denn heute Abend nach?“

„Ach weise, denkt nicht jeder irgendwann einmal nach über die Welt, in der er lebt?“

„Mag sein, aber nicht alle Gedanken sind so frei wie die Ihren.“

„Frei …, was heißt schon frei? Das erinnert mich übrigens an Ihre Gefangene.“

„Sie meinen die Fliege?“

„Es ist nicht Ihr Insekt, stimmt’s?“

Sir W.I.T. antwortete nicht. Stattdessen lehnte er sich neben sie an die Konzernmauer und schaute in den Nachthimmel hinauf.

„Was haben Sie nun mit ihr vor?“, fragte Soul zaghaft.

„Nun ja, was meinen Sie? Schenken wir ihr die Freiheit?“

„Sie wollen sie fliegen lassen? Hier draußen? In einer Welt ohne Natur, ohne … Fliegen? Was nützt ihr da die Freiheit?“

„Sie haben recht. Das war dumm von mir.“

Er schien zu überlegen.

„Haben Sie eine bessere Idee?“

Neugierig schaute er Soul an.

„Würden Sie…, würden Sie sie mir leihen?“

„Leihen?“

Nun war er doch verdutzt.

„Ja, leihen.“

„Die Fliege?“

„Ja, um Himmels Willen, würden Sie mir die Fliege leihen? Ich verspreche Ihnen, Sie bekommen sie wieder. Ich möchte sie meinen Freunden zeigen.“

Schmunzelnd willigte er ein.

„Und wenn Sie sich sattgesehen haben, geben Sie sie mir zurück.“

Sir W.I.T. händigte ihr das Kästchen aus, verabschiedete sich und spazierte davon.

„Moment“, rief Soul hinter ihm her, „wann sehen wir uns wieder? Wo kann ich Sie finden?“

Er drehte sich kurz um.

„Keine Sorge, ich finde Sie. Und vergessen Sie nicht, die Fliege zu füttern.“

Schon war er in der Dunkelheit verschwunden.

Soul stand da mit dem Kästchen in der Hand und starrte in die Nacht.

Füttern?

Womit, zum Teufel, fütterte man eine Fliege?

Tambara

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