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Vier Augenpaare richteten sich neugierig auf eine gläserne Streichholzschachtel, die auf Souls Couchtisch stand und in der Sir W.I.T.s Fliege unruhig hin und her krabbelte. Davor saßen die Geschwister mit ihren Freunden Mortues und Botoja und versuchten, dem Phänomen „Insekt“ auf den Grund zu gehen.

Botoja war Mitarbeiterin der Boulden’s Group of Fantasy and Nostalgia Products und überprüfte Waren aus früheren Jahrhunderten auf ihren aktuellen Marktwert. Eine repräsentative Gruppe von Probanden bewertete Attraktivität und Praktikabilität der veralteten Produkte, die dann in ähnlicher Form, aber mit neuen Materialen und einer dem Zeitgeist angepassten Aufmachung wieder in den Handel gebracht wurden. Der neueste Renner waren Streichholzschachteln aus Glas mit Schiebedeckeln. Die normalerweise darin enthaltenen blauen Streichhölzer waren aus einer brennbaren Kunststoffmasse hergestellt, die ähnliche Eigenschaften besaß wie das ehemals verwendete, aber kaum noch bekannte Holz. Statt des früher üblichen Schwefels wurden die Stäbchen nun mit leuchtend rotem Plastikzündstoff ausgerüstet. Klar im Design, konsequent in der Linie, aber auch irgendwie hübsch anzusehen, war so ein Schächtelchen, besonders in Verbindung mit einem passenden Angebot farblich abgestimmter Kerzen, genau das Richtige, um den Spieltrieb der in einer rein zweckdienlichen Kunststoffwelt aufgewachsenen Tambara-Bewohner zu befriedigen.

Mortues, Botojas Verlobter, war Medizinstudent und angehender Diagnosearzt. Seine Aufgabe würde später darin bestehen, durch umfassende Vorsorgeuntersuchungen Krankheiten schon im Frühstadium zu erkennen und die Patienten zur entsprechenden Therapie an die Spezialabteilungen der Timberlaine’s Group – Medical Systems of Health zu überweisen.

Fasziniert beobachteten die Freunde diese knubbelige Masse mit sechs Beinen, zwei Flügeln und Facettenaugen, die ein ganz eigenständiges Leben zu führen schien, ohne dass ein Mensch durch Knopfdruck, Wärmesensor oder Sprachbefehl auf sie Einfluss hätte nehmen können. Sie flog, krabbelte, produzierte eine Reihe ungewöhnlicher Geräusche und war mit ihrer Gefangenschaft anscheinend ganz und gar nicht einverstanden.

Dann wieder saß sie still, wartete …

Gespannt beugten sich die jungen Leute über den kleinen Kasten.

Die Fliege rührte sich nicht.

„Ob sie tot ist?“, überlegte Botoja.

„Quatsch“, protestierte Mortues, „dann würde sie auf dem Rücken liegen.“

„Woher willst du das wissen? Hast du je in deinem Leben eine tote Fliege gesehen?“

Botoja legte ihren Kopf auf die Tischplatte und betrachtete das Tier aus der Insektenperspektive.

„Hast du sie gefüttert?“, fragte Reb.

„Ja, mit Apfelstückchen und Wassertropfen“, antwortete Soul.

„Und? Hat sie gefressen?“

„Ich glaube schon. Jedenfalls sah es so aus.“

Noch ein wenig näher rückten die vier an das Kästchen heran. Plötzlich löste sich das Tier aus der Erstarrung. Summend und brummend flog es in seinem Käfig hin und her. Dabei stieß es fortwährend an die Wände des Behälters, was bei jedem Aufprall ein so lautes, unangenehm klopfendes Geräusch erzeugte, dass die Freunde erschreckt zurückwichen.

„Meine Güte, welch eine Kraft“, stieß Soul hervor und legte wie zum Schutz die Hand auf ihre Brust.

Auch den anderen pochte das Herz bis zum Hals. In respektvollem Abstand setzten sie ihre Beobachtung fort. Das Tier beruhigte sich allmählich und krabbelte wieder kreuz und quer durch die Schachtel. Mit seinem Rüssel inspizierte es den Boden des Kästchens.

„Was glaubt ihr“, fragte Soul plötzlich, „ist diese Fliege wohl schön?“

Als die anderen sie verdutzt anschauten, fuhr sie fort: „Überlegt nicht lange, sagt mir einfach, ob sie schön ist.“

„Mm, immerhin hat sie überlebt“, gab Mortues zu bedenken.

„Genau das meine ich. Sie muss doch zum Besten gehören, sonst würde sie längst nicht mehr existieren.“

„Aber eine Fliege kauft doch niemand“, wandte Botoja ein.

„Vielleicht wird sie eingesetzt, um mit ihrer Hilfe etwas Schönes zu produzieren“, sinnierte Mortues.

„Ja, genau, wahrscheinlich braucht Sir W.I.T. sie für seine Apfelzucht“, meinte Botoja.

Soul war nicht überzeugt.

„Na ja, wenn er sie benötigt, um seinen schönen Tambara-Apfel herzustellen, dann hat sie natürlich eine Existenzberechtigung.“

Es klingelte.

„Erwartest du Besuch?“, fragte Reb überrascht.

„Nicht dass ich wüsste“, wunderte sich seine Schwester.

Soul warf einen Blick auf den Bildkopf ihres Technikarmbandes. Draußen stand das Sicherheitspaar des Medienkonzerns.

„Nanu, was wollen die denn hier?“

„Zeig her!“

Reb zog Souls Handgelenk zu sich herüber und musterte die beiden Köpfe auf dem Armbandmonitor.

„Um Himmels Willen“, rief er und sprang auf, „wir müssen die Fliege verschwinden lassen!“

Einen Moment lang stand er unschlüssig im Raum und blickte sich nach allen Seiten um. Dann ergriff er die Schachtel, spurtete zum Schreibtisch und warf sie kurzerhand in die Schublade. Mortues drückte auf den Technikstreifen in der Sofalehne und verwandelte die gegenüberliegende Wand in einen überdimensionalen Fernseher. Auf dem Bildschirm jagten Angestellte des Sicherheitsdienstes gerade einen Schwerverbrecher. Botoja schmiegte sich in ihren Sessel und gab vor, das Geschehen auf der Filmwand zu verfolgen. Soul öffnete die Tür und führte das Paar herein.

„Tambara-Hallo“, grüßte es, als es eintrat.

„Tambara-Hallo“, erwiderten die jungen Leute wie aus einem Munde.

Reb, der sich gerade noch auf die Couch hatte werfen können, betätigte demonstrativ die Fernbedienung, so als würde er das Programm eigens für den Besuch unterbrechen. Umständlich krabbelte er aus der Sofaecke.

„Was verschafft uns die Ehre eures Besuches?“, fragte er möglichst harmlos und begrüßte die beiden per Handschlag.

Angestellte des Sicherheitsdienstes gehörten zum Stammpersonal jedes Konzerns und duzten sich häufig mit den Kollegen. Die Unterschiede im Arbeitsverhältnis fielen so weniger auf, denn Sicherheitsbeauftragte waren Staatsdiener und wurden von den jeweiligen Konzernen angemietet. Der Vorstand schilderte den Bedarf, die Regierung schickte die entsprechend qualifizierten Fachkräfte. Sie konnte man nie ganz sicher sein, ob die Überprüfung tatsächlich nur dem Schutz des Unternehmens diente oder auf diese Weise nicht vielleicht auch firmeninterne Daten die staatlichen Ämter erreichten.

„Ich hoffe, wir kommen nicht ungelegen“, entschuldigte der Mann die Störung, „aber das Ereignis auf der gestrigen Modenschau hat das Volk von Tambara in Unruhe versetzt. Besorgten Anrufen zufolge wurden in hiesigem Stadtviertel weitere Insekten gesichtet, und wir sind beauftragt worden, der Sache auf den Grund zu gehen. Hat einer von euch etwas Verdächtiges bemerkt?“

„Nein, mir ist nichts aufgefallen …, dir vielleicht?“, antwortete Reb als Erster und wandte sich an seine Schwester.

„Nein, absolut nichts“, entgegnete Soul.

Der Sicherheitsbeauftragte blickte prüfend zu Mortues und Botoja hinüber.

„Vielleicht irgendwelche dunklen Punkte, die sehr schnell ihren Standort wechseln?“

„Nicht dass ich wüsste“, antwortete Mortues.

„Nein, so etwas wäre mir aufgefallen“, bekräftigte Botoja.

„Wirklich gar nichts?“, mischte sich die Frau ein.

„Nein, wirklich nichts.“

„Tut uns leid.“

„Nein, bestimmt nicht.“

In diesem Augenblick ertönte irgendwo im Raum ein lang anhaltender, aufdringlicher Summton. Fast gleichzeitig drehten die beiden Angestellten ihre Köpfe in Richtung Schreibtisch.

„Was war denn das?“, fragte der Mann barsch.

„Was?“, entgegnete Reb.

„Na, dieses merkwürdige Geräusch?“

Mortues, der gerade nervös an seinem Partnerschaftsring drehte, zog geistesgegenwärtig das Kunststoffmetall von seinem Finger und stellte es hinter dem Rücken des Paares mit seiner Schmalseite auf den Boden, gerade noch rechtzeitig, bevor die beiden sich ihnen aufs Neue zuwandten.

„Es war ein ganz seltsames Geräusch, leise und doch irgendwie kraftvoll“, schilderte der Mann.

Während sich die Angestellten noch einmal umdrehten, um in den Raum hineinzuhorchen, stupste Mortues den Ring mit der Schuhspitze an, und ganz langsam begann das schwere Metall zu rollen. Noch ein wenig half er nach, dann bewegte es sich von alleine weiter, wurde immer schneller und verursachte fast so ein Geräusch, wie sie es vorher aus der Schublade gehört hatten. Es rollte dem Sicherheitsbeauftragten direkt vor die Füße.

„Nanu“, sagte dieser und bückte sich instinktiv „hat jemand von Ihnen einen Ring verloren?“

„Darf ich mal sehen?“, meldete sich Mortues. „Tatsächlich, das ist meiner.“

Ehe der Mann sich versah, hatte er ihm das Schmuckstück schon aus der Hand gezogen und an seinen Finger zurückgesteckt.

„Es hat also niemand etwas Verdächtiges bemerkt?“, wandte sich der Angestellte noch einmal an die ganze Gruppe.

„Nein.“

„Ich wüsste nicht.“

„Ich auch nicht.“

„Nein, nichts Verdächtiges.“

„Gut, dann wollen wir nicht länger stören.“

Umringt von den jungen Leuten, begab sich der Staatsdiener in Richtung Ausgang. Man redete noch ein wenig über die Fantasie der Tambara-Bewohner – eine einzige Fliege und schon wurden die Bürger hysterisch, manche Leute waren wirklich zu empfindlich –, dann fiel die Tür hinter dem Paar ins Schloss und die Freunde atmeten erleichtert auf.

„Meine Güte, das hätte schiefgehen können“, platzte Mortues heraus, nachdem die Schritte auf dem Flur verhallt waren. Mit gesenkten Köpfen trotteten die vier in den Wohnraum zurück.

„Die Idee mit dem Ring war gut“, lobte Reb. „Aber nun lasst uns überlegen, wo wir das Tier am besten unterbringen.“

Nur, wo versteckte man eine Fliege? Ein Insekt konnte man nicht einfach abstellen wie eine Maschine. Es würde sich das Fliegen nicht verbieten lassen, und der Summton wäre auch aus der entferntesten Schublade zu hören. Nachdenklich blickten sie sich in dem großen Raum um. Eine Weile standen sie so, dann fiel es ihnen auf. Ungewöhnlich still war es geworden. Zu still.

„Man hört ja gar nichts“, stellte Botoja fest.

Reb sprang zum Schreibtisch, öffnete die Schublade, holte das Kästchen heraus und stellte es auf die Tischplatte. Es war leer.

Tambara

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