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Bei Gerald Benn im Tablinium

Auf die “alte Dame“ in seinem Tablinium ist Verlass. A la minute gibt sie Gerald Benn zu Gehör, was die Stunde geschlagen hat. Die “alte Dame“, wie er sie liebevoll nennt, ist ein Erbstück von seinen Großeltern – mütterlicherseits, wie er auf Fragen diesbezüglich unterstreicht.

Vier Mal ertönt in Fis-Dur der quirlige, fast sprudelnde Klang, der eine volle Stunde ankündigen wird. Gerald Benn erinnert ihn an eine Passage im Venetianischen Gondellied von Felix Mendelssohn Bartholdy. Zu dieser vollen Stunde folgen etwas zögernd mehrere sonore, fast schon dumpf klingende Glockenschläge aus dem verglasten Pendelgehäuse, elf an der Zahl – in Gerald Benns Ohren klingen sie mollig. Es ist ein äolisches a-Moll, wie ihm ein befreundeter Bassist und großer Led Zeppelin-Fan bestätigte – Stairway To Heaven lässt grüßen.

Mit dem letzten Ton des antiken Zeitzeichens beugt sich Gerald Benn leicht über seinen Schreibtisch und macht sich noch ein paar Notizen für die um 11 Uhr anberaumte Besprechung mit zwei erwarteten Geschäftspartnern. Die sich jedoch etwas verspäten werden, wie er vor kurzem mitgeteilt bekam.

Diese Tatsache ausnutzend, betritt eine weitere “alte Dame“ das Arbeitszimmer von Gerald Benn. Es ist seine Sekretärin, seine Haushälterin, seine Concierge, seine Hausmeisterin, zusammengefasst sein “Mädchen für alles“. Weder das Mädchen für alles, noch die alte Dame sind für ihn despektierliche Bezeichnungen für Agnes, die seit nunmehr 19 Jahren sowohl seinen Geschäfts- wie auch seinen Privatbereich führt. Was heißt führt? Agnes hat alles im Griff – besser jedenfalls als er. Und etwas Besseres hätte Gerald Benn mit Agnes auch nie und nimmer passieren können. Sie kam mit 50 in sein Büro, mit dem Beginn seiner Selbständigkeit, ist bis heute geblieben, und denkt überhaupt nicht an irgendwelche Formen eines Ruhestandes. Agnes ist die gute Seele: Im Geschäft hat sie die Geschäfte von Gerald Benn im Griff, sobald er in seinem Tablinium sitzt. Und in seiner Privatsphäre hält sie den Lebensraum von Gerald Benn in Schuss, wenn er nicht im Hause ist.

Das sich mit der Selbständigkeit alles zusammen auf ideale Weise fügen sollte, bezeichnet Gerald Benn heute noch als Glücksgriff. Dass er von Anbeginn unter einem Dach leben und arbeiten konnte – in seinem Domicilium und in seinen Tablinium, wie er es nennt... für ihn war es Zufall, andere nennen es Schicksalsfügung.

Eine Ende des 19. Jahrhunderts erbaute Fabrikantenvilla musste aufgelöst werden. Der Besitzer war verstorben, die dazugehörige Fabrik schon länger in ausländische Hände übergegangen. Was erhalten blieb, war diese Villa. Und eine Stiftung, in die diese Villa überführt werden sollte. Sie wurde im Haupttrakt zum Museum für Kunstwerke, die der seinerzeit erfolgreiche Unternehmer zu seiner nicht unbedeutenden Sammlung erwerben konnte. Doch die Nebengebäude, der so genannte Gesindeteil, war daneben noch so geräumig, dass sie dort bequem zu Wohn- und Geschäftsräumen für einen Einzelkämpfer umgebaut werden konnten. Und später dann, zur Freude für Agnes, sich unter dem ausgebauten Dach ebenfalls eine recht großzügige Herberge für sie eröffnete. Das Ganze gab es zu einem Mietpreis, von dem jeder nur träumen kann: Die Stiftung darf nicht gewinnmaximiert tätig werden, d. h., alle Einnahmen dienen lediglich der Erhaltung und Instandhaltung der Villa und den Ausstellungsräumen. Somit halten sich die Kosten für die private und geschäftliche Nutzung von Gerald Benn sowie seiner guten Seele Agnes in mikrokosmopolitischen Grenzen.

Diese gute Seele bringt nun Gerald Benn die Post des Tages, um genau zu sein, die Post, die heute am 12. Mai eingegangen ist. Immer um plus minus 11 Uhr. So lange die beiden zurückdenken können, gab es vielleicht eine an einer Hand abzuzählende größere zeitliche Verzögerung, weil der zuständige Zustellbote unausweichliche Verspätungen einkalkulieren musste, einmal sogar witterungsbedingt ganz ausfiel. Heute ist ein wunderschöner Frühlingstag, so dass der Überbringer die unterschiedlichsten Botschaften, die noch verpackt an den Adressaten gehen, pünktlich dem Empfänger überreichen kann. Dass seit der Einführung privater Zustelldienste Agnes mehrmals ins Tablinium kommen muss, ist Gerhard Benn zwar ein Dorn im Auge. Nicht wegen Agnes, ihre Anwesenheit ist meist von einem zusätzlichen Kaffeeduft begleitet. Nein, bis zu dreimal am Tag briefliche Post sichten, stört ihn; ihm wäre es lieber, bis mittags seine schriftliche Korrespondenz vom Schreibtisch zu haben.

So kommen Agnes und die Post auch heute: Es sind die üblichen Geschäftsbriefe, die sie meist geöffnet und vorsortiert hat. Rechnungen bekommt er nur noch in wenigen Einzelfällen zu Gesicht, diese unangenehmen, jedoch nicht zu vermeidenden Aufgaben, die sich aus deren Inhalten ableiten, erledigt Agnes zur Freude seines Steuerberaters sehr gewissenhaft von selbst. Zeitungen, Zeitschriften, Magazine und sonstige Publikationen werden nach Priorität ihrer Lesebedeutung gestapelt auf die linke Seite des Schreibtischs gelegt. Insgesamt das tägliche Ritual, das sich eingespielt hat, das perfekt aufeinander abgestimmt ist.

Private Post hingegen, so ihn überhaupt noch welche erreicht, bekommt er selbstverständlich im verschlossenen Umschlag in die Hand gedrückt. Für Gerald Benn ganz überraschend, die heutige Ausnahme: Agnes reicht ihm ein Päckchen – von der Größe her könnte es ein Buch beinhalten. Die Adresse mit der Hand geschrieben, der Absender ebenfalls.

Das kleine “i“, es fällt sofort ins Auge, nicht mit einem Punkt, sondern mit einem runden Kringel überdacht. Eine Schrift, die Gerald Benn noch nie gesehen hat. Ein Absender, den Agnes vorhin beim Umdrehen des Päckchens noch nie gelesen hat, und der sie auch etwas irritiert. Eine Person mit Vornamen Isa? Kann männlich oder weiblich sein, wie sie weiß – genealogisch betrachtet. Graphologisch gesehen deutet es mehr auf eine feminine Schrifttypologie hin.

Agnes achtet auf die Reaktion von Gerald Benn, mit einem verschmitzten Blick, leicht lächelnd, den Kopf etwas nach links geneigt. Gerald Benn schaut auf den Absender, dann Agnes an, etwas verlegen grinsend, er hebt seine Schulter, um seine Unkenntnis und Kenntnis gleichermaßen zu signalisieren. Beide schmunzeln sich – ohne genau zu wissen, was Sache ist – verständnisinnig an.

Mit den Worten, dass die beiden Herren wohl in Kürze eintreffen werden, macht sich Agnes auf den Weg in die Küche, um nochmals frischen Kaffee zuzubereiten. Gerald Benn hält immer noch verdutzt das ihm in die Hand gedrückte Päckchen und fixiert die Absenderangabe: Isa Ketelsen, Conjunto Arqueológico Baelo Claudia, Calle Almodóvar, s/n 11380 Tarifa / España. Neugierig reißt er dann doch den Umschlag auf: Ein Buch, dessen Titel er nicht kennt und vom Autor auch noch nie gehört hat – Prentice Mulford, Unfug des Lebens und des Sterbens. Es bleibt rätselhaft für ihn. Zwischen den Seiten 30 und 31 steckt ein Brief, auf dem zartgelb-transparenten Umschlag steht sein Name. Diesen wiederum öffnet er sehr viel behutsamer, er faltet die zwei Seiten auf. Auf der ersten Seite fängt er an zu lesen “Lieber Herr Benn, ich würde jetzt gerne Ihr Gesicht sehen :-)“, überfliegt kurz das Geschriebene, um am Ende der zweiten Seite zu erfahren, wer ihm dieses Buch zugesandt hat: “Ich liebe diese Geschichte! Mit herzlichen Grüßen Isa Ketelsen“.

Viel Gelegenheit zur freudigen Überraschung bleibt Gerald Benn nicht. Ein Zeichen von Agnes signalisiert ihm, das Auto der Herren rollt auf dem für Besucher reservierten Parkplatz ein. Im Gegensatz zu seinen vielen Geschäftspartnern, mit denen er zu tun hat, pflegt er die Pünktlichkeit. Er hasst das Warten auf andere. Und ihm liegt daran, dass er umgekehrt nicht gehasst wird, zumindest nicht wegen Unpünktlichkeit.

Nur, in diesem Falle: So viel Zeit muss bleiben, um wenigstens kurz seiner – ihm fällt gerade kein anderes Wort ein – Ping-Pong-Austausch-Partnerin ein paar Zeilen des Unerwarteten, des Unverhofften, ja vielleicht auch des Unfugs, auf jeden Fall des Dankes zu schreiben. Die Frage, warum ausgerechnet dieses Buch, verkneift er sich noch. Das wird er gesondert aufgreifen müssen!

***

Mail from: gerald-benn@intermail.com – Mail to: ikarus1@mundo.es – 12.05.11 11:46:34 Subject: Hoppla!

Liebe Frau Ketelsen,

für diesen Augenblick ganz kurz nur.

Das muss ich erst einmal mental verdauen: Ihre reale Post, Ihre dreidimensionale Post, Ihre Post überhaupt. Um Ihnen darauf in der gebührenden, umgangsformalen Anständigkeit zu antworten, fehlt mir leider gerade die Zeit. Und es bedarf auch für mich zunächst einer inneren Sammlung. Eine Aufmerksamkeit dieser Art, wie von Ihnen, bin ich lange schon nicht mehr gewohnt.

Doch auf Ihre “Pong-Mail“ von gestern – das kann ich mir nicht verkneifen – muss ich jetzt dennoch mit einigen Sätzen eingehen. Es betrifft Ihre letzten drei Absätze – von hinten angefangen:

- Blieb mir bis eben Ihr mehrmals erwähntes Grinsen recht kryptisch, vermute ich nun ganz stark, dass es in irgendeiner Weise mit Ihrer Post zu tun hat. Sie dürfen wieder normalere Gesichtszüge annehmen, dieses Grinsen ist ja jetzt bei mir imdoppelten Sinne “angekommen“ :-).

- Verstehe, Sie amüsieren sich über meine Worte – muss ich jetzt vielleicht einen anderen, einem ernsteren Ton anschlagen?

- Was Sie unter vorteilhafter Schätzung verstehen, kann ich wiederum nicht einschätzen. Da Sie ja im spürsinnigen, tiefgründigen Recherchieren eine Koryphäe sind, finden Sie garantiert auch mein Alter bei Ihren Ausgrabungen im www. Ich werde Ihnen jetzt die Realität nicht verraten – die dürfte allerdings bereits weit jenseits Ihrer unvorteilhaften Schätzung liegen ;-).

Sobald ich mich gesammelt habe, dürfen Sie mit einer ausführlicheren Sammlung meiner Empfindungen und Geschehnisse rund um Ihre unerwartete Post rechnen.

Zunächst jedoch mit herzlichem Dank verpackte Grüße,

Gerald Benn

***

Bei Gerald Benn

Rund vier Stunden später sitzt Gerald Benn wieder in seinem Tablinium. Zusammen mit Agnes geht er kurz durch, was heute dann doch noch an nachmittäglicher Korrespondenz erledigt werden sollte. Und er berichtet ihr über das etwa zweistündige, erfreuliche Gespräch mit den beiden Herren sowie das anschließende, eher unerquickliche Mittagessen beim Italiener um die Ecke. Essen hat für Gerald Benn sehr viel mit Genießen zu tun, und das mag er erst am Abend. Gleiches gilt für alkoholisch Untermaltes – die Gefahr gewisser Trägheitsmomente ist ihm zu hoch. In diesem Falle ließ es sich nicht vermeiden. Insgesamt lief es jedoch recht gut, er hatte allerdings den Eindruck, dass er ziemlich unkonzentriert wirkte.

Den Eindruck hat auch Agnes, die ihn direkt darauf anspricht. Ja, gesteht er ihr, dieses Päckchen heute morgen hat ihn durchaus ein gewaltiges Stück aus den Fugen geworfen...

- Ja doch, wer sich hinter dem Absender verbirgt, weiß ich schon, zumindest vom Lesen her kenne ich sie, nicht persönlich, doch Isa, Isa Ketelsen ist eine Frau. Genauer, eine Archäologin, und ihr Ausgrabungsdomizil ist ein römisches, unten an der Atlantikküste Spaniens. Tiefer im Süden, zumindest von Europa, geht’s fast nicht mehr. Kennen gelernt habe ich sie in dem Forum, ja dem vom Gaston, wo wir uns über Literarisches austauschen. Irgendwie ergab es sich, dass wir uns plötzlich in einem durchaus anregenden Wortwechsel wiederfanden. Und dann war es ihr Gedanke, dies auf die Ebene eines privaten E-Mail-Austauschs zu verlegen. Ist ganz amüsant, auch wenn ich absolut nicht weiß, was mich erwartet und wo diese Wortreise überhaupt hingehen soll. Das zeigt sich jetzt auch in dem Buch, das mir diese Dame geschickt hat: Unfug des Lebens und des Sterbens. Sie schreibt, dass sie diese Geschichte liebt.

Gerald Benn reicht Agnes das Buch. Sie weiß es zu würdigen. Und er weiß, dass es mit ihrer Verschwiegenheit und Diskretion auch unter ihnen beiden bleibt. Agnes liest den Titel, der ihr ebenfalls nichts sagt. Obwohl sie von Prentice Mulford schon gehört habe, ein amerikanischer Schriftsteller, der sich Mitte bis Ende des 19. Jahrhunderts für die damalige Zeit mit sehr gewagten Worten über das Dasein auf unserer Erde auseinandersetzte. Und sie liest auf der Rückseite ein Zitat von ihm: “Ein kommendes Reich des Friedens und der Toleranz wird sich aber aus tiefer Freundlichkeit aufbauen – oder gar nicht aufbauen. Von dem Guten, das in ihnen ist, soll man den Menschen künden und als erste Regel ihre Kinder lehren: ’Jeder ist ein Gentleman’ – nicht aber: ’Wir sind allzumal Sünder’.“

Vordenker des New Age und dennoch alte Schule, geht ihr durch den Kopf, behält aber alle weiteren Gedanken für sich. Das schätzt ihr Chef, oder wie sie ihn auch nennen soll, an ihr. Sie gibt ihm das Buch zurück und schaut dabei auf die Fragezeichen in seinen Augen. Auf ihr bedeutungsvolles Lächeln hin kommt ein verlegenes Wissen Sie, Agnes, ich weiß auch nicht?! von seinen Lippen.

Während Agnes mit einem angedeuteten Daumen hoch sein Tablinium verlässt, um sich ihrer Korrespondenz zu widmen, nimmt Gerald Benn den Brief von Isa Ketelsen zur Hand, um ihn nun erstmals in aller Ruhe, jedoch nicht ganz in der notwendigen Muße zu lesen. Zunächst jedoch schaut er in seinen privaten E-Mail-Briefkasten.

***

Mail from: ikarus1@mundo.es – Mail to: gerald-benn@intermail.com – 12.05.11 12:04:48 Subject: ... Ping ...

:-) :-) :-)

Ich werde es nicht ablegen, das Grinsen … lieber Herr Benn. Ich mag es!

Hoffentlich gefallen Ihnen auch die Buchstaben in dem Geschenk. Auf jeden Fall freue ich mich, dass Sie sich freuen. Ich war mir nicht sicher, wie Sie darauf reagieren, dass ich “postalisch vor Ihrer Haustür stehe“.

Also grinse ich weiter und bin gespannt, ob Sie sich in der “alten Eiche“ von Prentice Mulford wieder finden? ;-)

Muss weg

Herzlicher Gruß Isa Ketelsen

***

5. Mai 2011

Lieber Herr Benn,

ich würde jetzt gern Ihr Gesicht sehen :-) Alle uns gemeinsam bekannten Personen sind unschuldig an der Tatsache, dass dieses Buch an die richtige Adresse gelangen konnte. Es ist allein meinem archäologischen Spürsinn zu verdanken, dass ich mich für das „Text-Geschenk“, das Sie mir in Ihrer letzten Mail gemacht haben, mit einem realen Geschenk bedanken kann – wo Sie doch die virtuelle Welt so wenig mögen...

Ich hoffe, dass Sie nicht erschrocken sind!? Ich achte Ihre zurückgezogene Lebensform und Sie laufen nicht Gefahr, dass ich morgen bei Ihnen vor der Türe stehe.

Bitte nehmen Sie mein Lieblingsbuch als kleinen Dank entgegen. Ich kam auf die Idee, Ihen den „Unfug des Lebens und des Sterbens“ zu übermitteln, weil zwischen uns, lieber Herr Benn, die ’alte Eiche’ zum Thema wurde und Prentice Mulford in ’Geplänkel mit einem Baum’ dieses stolze Naturgewächs und seinen menschlichen Willen in ein erkenntnisreiches Spiel verwickelt hat.

Ich liebe diese Geschichte!

Mit herzlichen Grüßen

Isa Ketelsen

***

Mail from: gerald-benn@intermail.com – Mail to: ikarus1@mundo.es – 12.05.11 17:56:43 Subject: Hoppla, die Zweite, Klappe Eins bis Sechs!

Hoppla, liebe Frau Ketelsen, das war wirklich mein erster Gedanke, als ich Ihr unverhofftes Päckchen von der Ihnen bereits bekannten Agnes in die Hand gedrückt bekam. Es kam mit der rest- und üblichen Post, wie immer von Agnes nach Wichtigem und Unwichtigem bestens sortiert und getrennt. Und damit Sie es wissen: Was sie mir in die Hände gibt, hat von der Wertig- und Wichtigkeit allerhöchste Priorität. Der Rest wird meist kommentarlos auf den Schreibtisch gelegt.

Agnes überreichte mir Ihre Post mit einem schelmischen Grinsen. Vielleicht lesen Sie die folgende Worte auch mit Erstaunen: Auf dem Umschlag hatte sie ein grünes Klebenotizblatt befestigt, auf dem ein großes rotes Fragezeichen malerisch angeordnet war. Ja, so kann sie dann auch wieder sein, die Gute!

Übrigens, das Hoppla am Anfang meiner letzten und auch dieser E-Mail hätte sie allerdings nie und nimmer durchgehen lassen, so ich ihr diese Korrespondenz zur Versandreife gegeben hätte bzw. geben würde. Damit wird sich mein Hoppla hier konsequent durchziehen, es sollte nach meinem ersten Erstaunen nicht das einzige bleiben. Als Anhang zum ersten Hoppla oben darf ich noch vermerken:

Nicht nur eine unerwartete Post ganz allgemein, sondern eine von Ihnen höchstpersönlich, mit handschriftlichem Brief begleitet, für mich, der gar nicht weiß, dass er so etwas überhaupt verdient hätte. Das alleine ist schon denk-würdig genug. Beim zwangsläufig neugierigen Blick auf den Absender, kurz nachdem sich Hoppla Eins wieder etwas eingependelt hatte, reihte sich bei mir Hoppla Zwei nahtlos ein: Ihre Adresse, bzw. die Ihrer archäologischen Heimat. Calle Almodóvar. Wer in einer solchen Straße wie Sie leben oder arbeiten darf, kann ja nur ein begnadeter Mensch sein. Pedro Almodóvar ist der Regisseur überhaupt für mich, einer der genialsten Zeitgenossen in diesem Genre überhaupt. Ich bin zwar kein großer Kinogänger, weil mir in Filmen immer ein Regisseur mein eigenes Bild, das ich mir in Romanen machen kann, bereits vorwegnimmt. Bei seinen Filmen ist es mir jedoch in den meisten Fällen gelungen, dass ich in seinen Bildern noch den Raum für meine eigenen finden konnte. “Womit hab ich das verdient“ lässt grüßen – eine schönere Xenie konnten Sie sich irgendwie gegenseitig gar nicht aussuchen.

Hoppla Drei? Natürlich das Buch. Da muss ich nun erst einmal einsteigen. Sowohl Titel als auch Autor – obwohl ich mir anmaße, einigermaßen belesen zu sein – waren mir bis dato vollkommen unbekannt. Gut, ein Freund der amerikanischen Literatur bin ich nicht – Ausnahme vielleicht T. C. Boyle –, und ich schätze auch mehr die zeitgenössische Literatur oder dann sehr viel früher die Ära von Goethe, Schiller, Lessing, Hölderlin et al. Doch fremdsprachliche Autoren des 19. Jahrhunderts waren und sind mir fremd.

Also wird das Buch eine Premiere für mich: Zum einen mich näher mit Prentice Mulford zu beschäftigen, zum anderen natürlich seinen “Unfug des Lebens und des Sterbens“ zu lesen. Und damit auch dann zu verstehen, warum Sie mir ausgerechnet dieses Buch geschenkt haben. (Ich könnte ja jetzt sarkastisch schreiben, dass ich nicht davon ausgehe, dass Sie es mir geschickt haben, um meinen Bücherschrank zu füllen. Außerdem habe ich ja bereits 1 Buch, doch ich verstehe, dass der Trend zum Zweitbuch immer mehr um sich greift – und wenn ich “in“ sein will, müsste ich meine Sammlung jetzt unbedingt erweitern.)

Blödsinn beiseite! Dass Ihr Brief – ah ja, Hoppla Vier, dazu gleich mehr – zwischen den Seiten lag, die links mit dem Kapitel “Gott in den Bäumen“ beginnt, dürfte kein Zufall gewesen sein. Sie erwähnten dies ja auch in selbigem Brief in Form eines “Geplänkels mit einem Baum“. Ja, ja, auch habe ich Ihr Draufstupsen in Bezug auf die “alte Eiche“ verstanden. Dass ich das Kapitel natürlich gleich gelesen habe, versteht sich von selbst. Bei allem, was Mulford darin an Weisem zu sagen weiß, bin ich allerdings an diesem Satz hängen geblieben: “...Ersetzt die wilden Bäume durch künstliche Spielarten, und diese Kräfte verkümmern, wie ja auch ein Obstbaum vom Standpunkt des Baumes verkümmert ist, der “veredelte“ Früchte trägt...“ Hm, ich möchte Sie nur an die süßen Kirschen erinnern :-).

Ein kleiner Streifzug von mir. Sie müssen mir gestatten, dass ich Ihr Buch nun wirklich erst in Ruhe und Muße gelesen haben muss, um mich mit dem Inhalt auch Ihnen gegenüber zu stellen. Denn davon gehe ich aus, dass Sie dies von mir erwarten: Meine Antwort, was es mit dem Buch auf sich hat. Und ich denke, ich kann auch erst dann verstehen, warum Sie mir ausgerechnet dieses Buch haben zukommen lassen – zur Zeit bin ich dazu überfordert. Sie schreiben zwar, dass Sie diese Geschichte lieben. Doch das muss nicht zwangsläufig heißen, dass mir dies auch passiert. Allein vom Titel her habe ich da meine Bedenken. Mal sehen, ob ich nach der Seite 228 am Ende meinen Lebens-(und möglicherweise auch Sterbens-)Entwurf ändern muss.

Dann nun zu Hoppla Vier: Ihr Brief. Und dazu müsste ich das Hoppla sogar in Vier A bis Vier C aufteilen.

Vier A: Wie das Buch nun wirklich an meine – von Ihnen als “richtige“ beschriebene – Adresse gelangen konnte, wird mir ein Rätsel bleiben, sofern Sie an einer Auflösung nicht beitragen wollen. Wie schon erwähnt, sind Sie ganz gewiss im Aufspüren von Funden eine Autorität, doch dass Sie dies auch im Ergründen meines Lebensraumes geschafft haben, gibt mir zu denken. Einerseits bewundernswert – Ihre Gabe. Andererseits nachdenkenswert – die Tatsache als solche.

Vier B: Ich werde jetzt Ihren Brief keinem Graphologen zur Bewertung vorlegen, um daraus ableiten zu können, was Sie für ein Mensch sind. Albern ist das! Doch Ihre “i“, besser Ihre i-Punkte, sind schon bemerkenswert. Dazu habe ich irgendwann mal gelesen, dass Menschen, die kreisförmige i-Punkte linksläufig – also entgegengesetzt dem Uhrzeigersinn – schreiben, gerne in der Vergangenheit leben. Nun darf ich nicht unterstellen, dass Sie in der Vergangenheit leben, doch mit ihr, das müssen Sie mir zugestehen, stimmt.

Vier C: Wenn Sie schon Ihr Grinsen nicht einstellen, erlaube ich mir auch einen Schmunzler, den ich Ihnen gerne aufs Butterbrot schmieren möchte :-))): Ziemlich am Ende Ihres Briefes, genau im letzten Wort in der neunten Zeile hat mal wieder Ihr Druckfehlerteufel einen Buchstaben unterschlagen. Nur weiter so – in diesem Falle kann ich allerdings bei einem fehlenden “n“ keine geheime Botschaft herauslesen.

Mein Hoppla Fünf kam mir während des Schreibens der jetzigen E-Mail an Sie. Dabei gehe ich nochmals auf unsere Vergangenheit, die jüngere, in unserem Wortwechsel ein: Ihre 2.723 Fragen oder meine 2.723 Antworten. Sie haben Recht – wenn ich jetzt dieses Format vorgebe: Statt Ping-Pong-Briefe in Zukunft Ping-Pong-Bücher, komme ich bei 2.723 Fragen und Antworten inkl. Lesezeit, Fragen-Entdeckungs- und Antworten-Entdeckungs-Zeit, Vor- und Nachlesezeit, Versandzeit und sonstiger denkbarer Imponderabilien gut und gerne auf Ihr Zehnfaches an Austauschzeit. Vielleicht auch mehr, ich will da auch 460 Jahre nicht ausschließen. Soll dies jetzt eine “posthistorische“ Dissertation werden, die im Vorgriff auf eine archäologisch derzeit noch unbedeutende Entdeckung der Menschheit im 4. Jahrtausend Rückschlüsse auf unsere heutige Zeit zulässt? :-)))

Komme ich abschließend für heute zu Hoppla Sechs (ich denke, es reicht dann auch – vor allem, wenn ich daran denke, dass Sie das im Zweifelsfalle auch noch alles lesen sollten). Dieses Hoppla hat wiederum mit Agnes zu tun, obwohl sie – wie schon geschrieben – dies nie genehmigen würde. Ich habe jetzt lange hin- und herüberlegt, ob ich mich für Ihr Buch in irgendeiner Weise anders als mit dem Schreiben eines herzlichen Dankeschön erkenntlich zeigen kann. Gleiches umgehend mit Gleichem gleichzusetzen, finde ich zu simpel. Allerdings hatte ich Ihnen ja versprochen, mein “November-Paradies“ nicht auf immer vorzuenthalten. Andererseits tue ich mich jetzt schwer, Ihnen nochmals in etwa eine gleiche Textmenge wie in dieser E-Mail aufzubürden. Nach längerem Hin und Her: Ich tu’s jetzt einfach – Sie können ja immer noch jederzeit aussteigen oder gar diese Datei löschen, wenn’s Ihnen zu viel meiner Worte sind.

Ach ja, was das nun mit einem agnetischen Hoppla zu tun hat? Ich meine, Ihnen bereits geschrieben zu haben, dass Agnes die einzige ist, die sich in meinen Unterlagen auskennt, wo irgendwas von mir zu finden ist. So ist das auch mit meinen nicht-geschäftlichen Dingen. Und dass ich sie nun bat, mir diese Datei auf meinen Rechner zu legen, ließ sie stutzen. Und mit meiner Erklärung, dass ich Ihnen dies zukommen lassen möchte, ließ Agnes vorhin wieder einmal ein breites Grinsen über ihr Gesicht laufen. Und das – man höre und staune – war akustisch begleitet von einem Hoppla aus Ihrem Munde.

So, jetzt aber Schluss für heute – ich hoffe, ich werde Sie nun nicht überfordern. Wenn ja, schreiben Sie es mir bitte. Dann fasse ich mich an meine Nase und in Zukunft mit meinen Worten kurz.

Herzlichen Dank nochmals für Ihre gelungene Überraschung und herzliche Grüße an Sie in die Calle Almodóvar, Ihr Verehrer dieses ingeniösen Menschen mit diesem Namen,

Gerald Benn

<Das Paradies hat auch im November offen.pdf>

***

Gerald Benn: Das Paradies hat auch im November offen

Das Wetter ist anderer Ansicht. Ein Blick in den Kalender zeigt unweigerlich, heute ist der 12. November. Doch mein Auge wandert jetzt, es geht langsam auf die Mittagsstunde zu, zum Himmel, an dem, als wäre es der normalste Vorgang in unseren mitteleuropäischen Breiten zu dieser Jahreszeit, die Sonne aus einem strahlendblauen Gewölbe die Erde wärmt.

Ich sitze auf einer schmalen, winkligen Steintreppe, angelehnt an eine aus großen, rechtwinkligen Quadern errichtete Mauer. Die Fugen zwischen den einzelnen Steinen sind zugewachsen. Immer noch grün strecken sich unermüdlich gedeihende Pflänzchen der Sonne entgegen, manche blühen noch, höchstwahrscheinlich zum zweiten, vielleicht auch zum dritten Male in diesem Jahr. Die Steintreppe führt ein langes Stück noch in die Weinberge, in die Reben des Scharrenbergs, der rechts und links den Schimmelhüttenweg begleitet. Ich sitze also auf einer dieser Steintreppen, die nach fünf, sechs Stufen durch ein kleines Tor jedem Unbefugten signalisieren, dass er hier nicht weitergehen darf. Nur wer einen Schlüssel besitzt, kann seine Spuren im Weinberg hinterlassen. Mir reichen die fünf, sechs Stufen. Auf der letzten, der vor dem Törchen, habe ich es mir gemütlich gemacht, meinen Rücken an die seitlich neben dem Eingang hochragende Steinmauer gelehnt, die Füße auf den kleinen Absatz ausgestreckt.

Kurzärmlig genieße ich die wärmende Mittagssonne, die mich aus makellosem Blau anlacht. Aus diesem hellen, strahlenden Lichtblau, das sich, wenn ich meinen Blick seitlich hochwandern lasse, hinter den immer noch grünen, wenn auch hin und wieder schon leicht gelbgrünen Blättern der Reben abzeichnet. Ein auffälliger Kontrast, dieses milde, liebliche Gelbgrün bis Grün, das nur ganz selten von einem bereits verwelkten braunen Blatt untermalt wird, und dahinter dieses leuchtende Blau eines gestochen scharfen Himmels.

Nochmals, heute ist der 12. November. Die Sonne wärmt mich von vorne. Die von den Steinen reflektierende Wärme schont meinen Rücken und meinen Hintern.

Ein Schmetterling spielt mit dem leichten Wind, er tanzt eine kleine Polka, nicht ganz im Takt, etwas taumelnd sucht er sich meine Schuhspitze als Landeplatz. Vermutlich ist er genau so irritiert wie ich, dass wir nun beide an diesem Tag noch im Freien sitzen und ein Wetter genießen, das wir gemeinhin als Altweibersommer bezeichnen.

Doch nicht lange und er will weiter, der kleine weiße Freund, es scheint, als mag er den Tag nutzen, noch viel zu erkunden, was ihm die grüne, die gelbe, die bunte Natur alles offenbart. Und das ist durchaus noch als vielfältig und aus seiner Sicht auch bestimmt noch als spannend zu beschreiben.

Die Reben rechts und links des Schimmelhüttenwegs sind bereits gelesen. Wer weiß, wie und wo sie jetzt reifen, nicht mehr durch die Wärme der Sonne, sondern im tiefen Dunkel eines Weinfasses? Wenn ich es mir recht überlege, hat die monatelang wunderschön gedeihende Traube nicht unbedingt die schönsten Aussichten, wie sie ihren Lebensabend verbringen wird. Doch um ehrlich zu sein, ein wenig lässt es sich schon auch mit uns vergleichen, grob betrachtet enden auch wir im Dunkeln unter der Erde. Und so, wie der Wein sich nach seinem Schattendasein dann doch noch zu einem goldenen Glanz entwickelt und die Herzen der Menschen erfreut, geht es uns ja vielleicht ähnlich. Wissen wir, was uns erwartet, wenn uns die Sonne auf unserem irdischen Weg kein Licht mehr spendet? Der Wunsch, wie eine Weintraube weiterzuleben, drängt sich mir auf.

Die Trauben jedenfalls hier am Scharrenberg durften die Sonne dieses 12. Novembers nicht mehr erleben. Ich bin kein Fachmann in winzerischen Belangen, denkbar, dass die Trauben zu früh gelesen wurden, weil das Risiko der Nässe zu groß gewesen wäre. Vielleicht hätten sie allerdings bei diesem Wetter, das sich ja bereits seit Wochen von dieser seiner schönsten Seite zeigt, noch einige Öchsle zugelegt?

Vielleicht gab es dann aber doch nachts schon den einen oder anderen Frostgrad, der dem Wein wiederum das Frieren beigebracht und die Gänsehaut ihm nicht gutgetan hätte? Wie dem auch sei, ich erfreue mich auch so am Anblick der Weinstöcke, bei denen jetzt das Grün und Gelb dominiert, von keinem dunklen Blau mehr durchlebt. Dafür strengt sich der Himmel an, diesen Kontrast im Farbenspiel nochmals aufzufangen.

Unten im Talgrund zeichnet die Senke eine natürliche Linie. Die letzte Reihe Reben wird abgelöst durch Wiesen. Wiesen, die zu Schrebergärten gehören, mit Obstbäumen herausragend verwurzelt, die sich auf der gegenüberliegenden Seite wieder hinaufhangeln. Weiter hinten dann eine Festung, die Festung Wald. Durch die leicht blendende Sonne nimmt mein Auge das lange und breite Band gestandener Bäume als dunkle Wand wahr. Die, wenn ich intensiver hinschaue, alles andere als dunkel ist. Das Gegenlicht der Sonne verschließt manchmal den Blick auf die Wirklichkeit. Die dunkle Wand spielt, ja reizt durchaus mit ihren Farben. Mit dem dunklen Grün der Tannen, mit dem etwas helleren Grün der Lärchen, mit dem Gelb einiger Ahornbäume, mit dem gelblichen Braun der Buchen, mit dem eher rötlichen, zumindest sehr viel dunklerem Braun der Kastanien und Eichen. Und zwischendrin immer wieder auch noch ein ziemlich leuchtendes Grün, das sich oberhalb von den in vorderster Linie erkennbaren, kontrastierenden weißen Birkenstämmen ausbreitet. Bäume, die sich weitestgehend noch in vollem Laubwerk präsentieren, so, als wollten sie zeigen, mit dem kommenden Winter ist es noch lange hin. Die Blätter der weiter davor stehenden Obstbäume, ich weiß es von der Zeit, als die Früchte reif und prall an den Ästen und Zweigen hingen oder auch schon überreif und unverschämt im Gras ruhten, dass es Apfel-, Birn-, Pflaumen-, Quitten- und Aprikosenbäume sind, tänzeln fast bewegungslos im Sonnenlicht, auch sie meist noch im üppigen Grün, hier und da ins leichte Gelbgrün übergleitend, ja, man muss schon ganz genau hinschauen, das rötlichgelbe Kleid der Pflaumenbäume dazwischen auszumachen.

Lediglich die zwei Walnussbäume haben sich schon trotzig auf den Weg gemacht, um der bevorstehenden Jahreszeit gerecht zu werden. Sie haben sich entblößt und stehen nun etwas verloren da mit ihren nackten Armen. Als kleines Kind habe ich schon nie so richtig verstanden, warum die Bäume gerade zum Winter, wenn es doch eisig kalt wird, ihr Kleid ablegen, mir wollte nie einleuchten, warum sie so nackt nicht frieren. Dieses Jahr, so scheint es, wollen sie es anders machen.

Links von mir ist das Leben jetzt, Schlag ein Uhr, in vollem Gang. Die hinter dem Tor weiterführende Treppe, unregelmäßige Steine, in ihrer Mitte schon leicht ausgetreten, führt ins Nichts. Nicht ganz. Mir fällt das schon legendär gewordene Lied ‚Stairway to Heaven‘ aus dem 1973 erschienenen Kultalbum ‚The Song remains the same‘ von Led Zeppelin ein, die Treppe über mir führt in eine gewisse Unendlichkeit, verschmilzt mit dem Horizont zu einer übergangslosen Linie. So nimmt es mein blinzelndes Auge wahr. Weiter unten, auf den Stufen vor mir, findet buntes Sommertreiben statt, so habe ich den Eindruck. Aus den Fugen, in denen immer noch Blumen, Gräser, Kräuter wuchern, krabbeln Ameisen, mit abrupten Bewegungen auf der Suche nach etwas Tragbaren. Andere Käfer wiederum laufen sehr viel gelassener über die erwärmten Steinplatten, stolpern manchmal über einen kleinen Zweig, fallen von einem der wenigen vertrockneten Weinblätter oder Stengel, rappeln sich irritiert wieder auf, um eine Spur schneller ihr nächstes Ziel, das jedoch nicht auszumachen ist, anzusteuern. Etwas plump stürzt eine durchaus als fett zu bezeichnende Fliege auf ein Erdbeerblatt, das sich durch diesen überraschten, ungewohnten Aufprall ziemlich weit vornüberbeugen muss. Wesentlich zartere, filigran wirkende kleine Fluglebewesen weilen eine Zeitlang da auf einem Grashalm, dort auf einem kleinen Moospolster, mal auf einer Efeuwurzel, die sich ihren Weg durch die Fugen und Ritzen zwischen den Steinen sucht, dann wieder ruht sich ein kleiner Gast auf einer noch strahlenden, gelb blühenden Blume aus, ich habe keine Ahnung, wie sie heißt, sie ähnelt dem kleineren Bruder eines Löwenzahns, doch ist sehr viel zarter. Ein Vielfüßler bahnt sich seinen Weg durch das unordentliche Gelände, man muss jedoch schon sehr genau hinhören, um sein rhythmisches Paradieren herauszuhören. Und dann erscheint er wieder, immer noch leicht taumelnd, der weiße Schmetterling, vielleicht ist es wirklich der gleiche Bote, der mir vorhin schon seinen liebevollen Fußgruß zukommen ließ, vielleicht auch sein Partner, er peilt etwas unkontrolliert seinen Landeplatz an, um sich dann, wahrscheinlich für ihn selbst überraschend, sturzflugartig auf das Blatt eines kleinen Heckenröschens, deren einzige Hagebutte gleich daneben einen ungewöhnlichen Kontrast vor dem grauen Stein bildet, fallen zu lassen. Zusammen mit dem grellen Weiß bilden die grünen Blätter der Rose, die knallrotgelbe Frucht und das Grau der Treppe eine Farbkomposition, die sogar die großen Meister des Impressionismus verzaubert hätte. Fasziniert betrachte ich ein Bild, das die Natur nicht hätte besser arrangieren können, bis mich meine Gedanken wieder einholen und daran erinnern, wo ich bin. Der Schmetterling, unruhig, wie er sich in diesem Stadium seines Lebens nach dem Dasein als Raupe bewegt, torkelt weiter. Ich kann mich auch täuschen, es sieht fast so aus, als spiele er mit dem leichten Wind.

Einige Meisen haben den Weg in die Weinberge gefunden. Ein reichlich gedeckter Tisch erwartet sie, so hat es den Anschein. Sie schwatzen unaufhörlich über das vielfältige Angebot, das sie hier, in respektvoller Entfernung zu mir, einnehmen dürfen. Doch sie unterhalten sich nicht nur darüber, sie nehmen sich auch die Zeit für die fettesten Brocken, die sie genüsslich aufpicken. Erstaunt höre ich an meinem rechten Ohr ein tief summendes Geräusch näherkommen. Für einen winzigen Moment wähne ich eine Biene auf ihren unermüdlichen Weg der Suche nach Blüten, für Nektar unterwegs. Doch als es vor meiner Nase surrt, muss ich erkennen, eine Wespe hat sich neugierig auf den Weg begeben. Dennoch, auch sie nutzt die Gunst des Tages, um noch ihren wortwörtlichen Ausflug ins Grüne zu machen.

Zwei Krähen, die den nach oben offenen Horizont würdevoll durchqueren, holen mich zurück in die Realität. In eine Realität, die vorher schon da war, die ich jedoch nicht so recht glauben wollte. Ihr Geschrei ist das Zeichen für mich, aufzubrechen. Es ist merklich kühler geworden, obwohl nicht einmal zwei Stunden vergangen sind, seitdem ich hier auf dieser Treppe in den Weinbergen sitze. Die Krähen weisen mir den Blick wieder auf Elementareres.

Leichte Schleierwolken haben sich vor die Sonne geschlichen, fast unmerklich, doch jetzt spürbar. Rechts und links der nun mehr und mehr milchiger werdenden Sonne zeigt sich ein Halo, lichtbrechende Farben, die nur durch Feuchtigkeit hervorgerufen werden können.

Die Sonne verliert ihre wohltuende Kraft. Es ist wohl doch schon Mitte November.

Ich verlasse dieses Stückchen Erde mitten im Stuttgarter Süden, das mir zwei Stunden lang ein kleines Paradies war. Wieder daheim, überlege ich, was ich sagen würde, wenn mich jemand fragt, was ich heute erlebt habe. Meine Antwort wird sein, nichts, nur mich selbst. Was ich allerdings verschweigen werde, ist, dass ich mich heute wie ein guter Wein gefühlt habe, dem die richtige Reife zuteil wurde.

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Mail from: ikarus1@mundo.es – Mail to: gerald-benn@intermail.com – 13.05.11 02:22:19 Subject: Unfug ...

Lieber Herr Benn,

Prentice Mulford hat es also geschafft, in die geheime Zentrale der Bennschen Unternehmungen vorzudringen. Ich war bis zum Schluss nicht sicher, ob er die Festungsmauer Agnes durchbrechen kann.

Sagen Sie ihr bitte herzliche Grüße von mir. ;-)

Wie schön, dass meine Tat dazu geführt hat, dass ich in den Genuss des farbenfrohen “November-Paradieses“ gekommen bin. Es war eine Freude, an diesem zaubervollen Herbsttag auf den Steinstufen zu sitzen und die Natur nicht nur zu betrachten, sondern mit ihr und ihrem reichen Angebot zu verschmelzen. Nach dem letzten Wort habe ich mir einige Tropfen einer spanischen Traube in mein Glas gefüllt und während ich den gekelterten Sonnengeschmack auf der Zunge spürte, bin ich nochmals in das Paradies der Worte und Bilder geschlendert. Danke!

Sie beschreiben sehr sinnlich. Ich spüre die Wärme auf der Haut, ich blicke die Steintreppe hinauf, die offenbar in den Himmel führt und möchte über das Tor klettern, um die Stufen zu erklimmen, die im Blau enden. Ich schmecke den Wein, der diesen Hang bewohnt hat und ich tauche ein in die Farbenpracht des Augenblicks … oder der Ewigkeit. Die tierischen Besucher der Szene – unwissend, dass sie bei ihrem Tun beobachtet werden – sind ein bewegter und bewegender Teil dieses wohligen Bildes, das in mir entsteht.

Auch ich habe mich beim Lesen wie ein guter Wein gefühlt … Danke, lieber Herr Benn!

Mit diesem fragenden Wunsch: “Wissen wir, was uns erwartet, wenn uns die Sonne auf unserem irdischen Weg kein Licht mehr spendet? Der Wunsch, wie eine Weintraube weiterzuleben, drängt sich mir auf.“ haben Sie mir beim Verfassen Ihres Textes eine Überleitung zu “Unfug des Lebens und des Sterbens“ gebaut :-)

Lieber Herr Benn, ich erwarte nicht, dass wir uns in einen Austausch über die Weis- und Wahrheiten von Prentice Mulford begeben. Wie ich nicht erwarte, dass Sie meine Lieblingsgeschichte “Geplänkel mit einem Baum“ lieben. Ich habe Ihnen das Buch lediglich übermittelt, weil “die stolze Eiche“ wiederkehrendes Thema zwischen uns war; weil ich das Buch leidenschaftlich gern verschenke … und weil ich die Bennsche Befestigungsanlage testen wollte … ;-)

Wie ich an Ihre Adresse gekommen bin, wird ein Geheimnis bleiben, das ich mit ins Grab nehmen werde. Da wir beide, lieber Herr Benn, aber mittlerweile bei einer geschätzten Kommunikationsdauer von 460 Jahren angekommen sind, mag sich das eine oder andere Jahrzehnt dazwischen befinden, in dem ich weich werde und mich Ihnen anvertraue … oder eine Sekunde … in der ich mich verplappere ;-)

Vielleicht wird unsere Kommunikation sogar unendlich dauern – sofern wir nicht den Spaß daran verlieren –, weil wir niemals sterben … wie im Vorwort des “Unfug-Buches“ erwähnt: “Sterben ist eine mindere Gewohnheit – freudlos und zeitraubend!“ In diesem Sinne … schauen wir, lieber Herr Benn, ob uns irgendwann bei unserem Ping-Pong-Spiel die Luft ausgeht … oder die Lust … Ich habe jetzt jedenfalls das ersehnte “November-Paradies“, was ja der Grund für meine Kontaktaufnahme war … oder hatte ich das etwa nur vorgeschoben??? ;-)

Dabei fällt mir wieder – mit einem “teuflisch“ schlechten Gewissen – ein, dass ich überhaupt keine Zeit hatte, das Forum in himmlischer Ruhe zu besuchen und dort die “Todesursache“ weiter zu bearbeiten. Der arme Pathologe sitzt seit Wochen regungslos auf seinem Stuhl und ich müsste ihn erlösen, stattdessen …

… habe ich jemanden aus dem Forum entführt und den Schlüssel zum “Paradies“ erpresst … ;-)))))))))))))))))

Ein herzliches Hoppla Isa Ketelsen

Paradiesundjenes

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