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Sonntag, 27. Oktober

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Wo de Nordseewellen … Nina tauchte unter ihrer Daunendecke hervor. Es war eiskalt im Raum, sie hatte die Fenster über Nacht offen gelassen, und die Vorhänge bauschten sich im Wind. Waren das schon die Vorboten des vorhergesagten Orkans? Er wurde am Abend erwartet. … trekken an den S-strand, wo … »Ja, ja!« Sie griff nach dem Handy auf ihrem Nachttisch. Diesen Klingelton sollte sie endlich mal ändern. »Tschöke.«

»Frau Tschöke, was halten Sie von einem gemeinsamen Frühstück? Ich bringe Brötchen mit.«

Einen Moment lang konnte sie die Stimme nicht einordnen. »Roman?«

Er lachte. »In Person.«

»Ja … ähm … das ist ja nett …«, stammelte Nina. Wieso wollte Roman mit ihr frühstücken?

»Fein, dann bin ich laut Navi in sechs Minuten bei dir. Der Botanische Garten ist offenbar nicht weit von Hoberge.«

»Woher kennst du … eigentlich meine Adresse?«

»Von Dodo.«

»Lass mir eine Viertelstunde zum Aufstehen, okay?«

»Okay, ich muss ja auch noch Brötchen holen. Bis gleich.« Er beendete das Gespräch.

Dodo? So nannten Dominik nur seine langjährigen Kollegen. Und Bent, der vor einem Jahr von Flensburg nach Bielefeld gewechselt war, war ein einziges Mal bei einer Feier »Dodo« herausgerutscht. Den steifen Mordkommissionsleiter betrachtete sie allerdings nicht als Maßstab. Allzu Persönliches blockte er den meisten Kollegen gegenüber ab. Und wenn er mit Dominik zu tun hatte, wirkte er noch viel förmlicher, zuweilen schroff, dann wieder unsicher. Es hatte sich bereits bei der Kripo herumgesprochen, dass sich das Verhältnis zwischen den beiden kompliziert gestaltete. Wieso, war ihr und wohl auch Dominik unklar. Bent hatte sich ihr gegenüber nie darüber geäußert. Sie war auch die Einzige unter den Kollegen, die über Bents Homosexualität Bescheid wusste. Und sie wäre wohl kaum darauf gekommen, wenn sie es nicht zufällig auf einer Eurovision-Song-Contest-Party von Freunden von ihm gehört hätte. Äußerlich entsprach Bent ganz und gar nicht dem Klischee. Sie hatte es niemandem erzählt, Bent musste selbst wissen, ob und wann er sich outen wollte.

Ihr Blick fiel auf den Wecker: 8:47 Uhr. Oje, sie hatte noch knapp zwölf Minuten.

Sie warf die Decke ab, schwang sich aus dem Bett und stieg unter die Dusche. Kaum war sie wieder aus dem Bad, schellte es an der Haustür. Nina stellte die Kaffeemaschine an, räumte einen Stapel Zeitungen vom Küchentisch und eilte zur Tür, um den unverschämt frisch wirkenden Kollegen hereinzulassen. Lächelnd überreichte er ihr eine große Papiertüte, und der Geruch frischer Brötchen erfüllte den Flur. Sie schloss die Tür.

Er hielt inne. »Ich hab dich doch hoffentlich vorhin nicht geweckt?«

»Sehe ich so zerknittert aus?« Sie hatte entgegen ihrer Gewohnheit sogar Wimperntusche und Lippenstift aufgelegt.

»Nein, natürlich nicht. Ich meine nur. Ich hab schon einen Waldlauf hinter mir und … ach egal, manchmal vergesse ich, dass nicht alle Frühaufsteher sind.«

Streber, dachte Nina, aber sie lächelte. Nette Idee von ihm, das mit dem gemeinsamen Frühstück. »Und im Präsidium warst du natürlich auch schon«, sagte sie, während sie ihn in ihre Küche und an den Tisch lotste.

»Wie kommst du denn nur darauf?« Er grinste und hielt den Becher hoch, um sich Kaffee von ihr eingießen zu lassen.

Sie schenkte sich ein und setzte sich ebenfalls. »Weit hergeholt, ich weiß. Aber welchen Grund sollte es sonst für dich geben, mich mit Frühstück aus dem Bett zu holen? Wohin fahren wir denn gleich?«

»Du traust mir nicht, Nina. Du kannst dir gar nicht vorstellen, dass ich einfach so herkomme, nur um mit dir am Sonntagmorgen gemütlich zu frühstücken?«

Sie lächelte. »Das hat doch einen Haken, wetten?«

Seine Augen funkelten. »Ich habe einen Beweis für meine lauteren Absichten.« Er griff in seine lederne Schultertasche, die an seinem Stuhl lehnte, und zog eine beschlagene Flasche hervor. »Da ich ein bis auf die Knochen korrekter Beamter bin, würde ich doch nie im Dienst trinken.«

Sie schüttelte den Kopf. »Hey, ist das etwa … Champagner?«

»Ganz recht, schöne Frau. Hast du Sektgläser? Oder wollen wir gleich aus der Flasche trinken?«

Sie lachte und holte zwei Gläser.

Roman ließ den Korken knallen und füllte sie. »Wir stoßen an, auf …«

Nina grinste. »Auf den ungelösten Fall, den wir in Windeseile beim Sektfrühstück lösen werden?«

»Auf die netteste Kollegin des ganzen Teams.«

»Oh, okay«, sagte Nina verlegen. »Es gibt ja auch nur eine.«

Er schnalzte mit der Zunge. »Ich werde absichtlich missverstanden.«

Sie stießen an. Flirtete er mit ihr? Aber sie passten doch gar nicht zusammen, die Frau mit der schief zusammengeklebten Brille, den zerzausten, kurzen Haaren und den quietschenden Turnschuhen und der attraktive Kerl, der ihr jetzt in weißem Hemd mit Nadelstreifenweste und Krawatte gegenübersaß und sich in ihrer Wohnküche umschaute.

»Schön wohnst du. Alles sehr hell und im Grünen … Lebst du allein hier?«

Nina unterdrückte ein Lächeln. »Inzwischen ja. Mein Bruder hat lange bei mir gewohnt. Er hat das Down-Syndrom und wird jetzt ambulant in einer eigenen Wohnung betreut.« Sie griff nach einem Brötchen. »Was gibt es Neues?«

»Frank Tillmann Herbst… heißt er wirklich Tillmann? Dodo sagte …«

»Ja, so heißt er, aber er hasst seinen zweiten Namen.«

»Na, jedenfalls hat er die Bestätigung für die Mobbingvorwürfe gegen Vincent Oberarschloch im Internet gefunden. Rate mal, unter welchem Stichwort.«

Nina biss in ihr Brötchen und zuckte mit den Achseln.

»Schulschlampe. Unglaublich, oder? Es ist wirklich übel. Ein Früchtchen, dieser Vincent Spiekerkötter, vielleicht mehr als das …« Er hielt sein Champagnerglas gegen das Licht, das durch das Küchenfenster fiel. »Ich habe mit seiner Mutter telefoniert. Das mit den Mobbingvorwürfen war ihr neu.«

»Charlotte hat nur damit gedroht, zur Polizei zu gehen. Ob ihre Lehrer etwas davon wussten?«

»Glaube ich nicht, denn dann hätte das Ganze weitere Kreise gezogen. Spiekerkötters Eltern leben übrigens getrennt. Mama Spiekerkötter erzählte, ihr Sprössling sei zurzeit bei seinem Vater. Die kämen aber erst am späten Nachmittag von einem Urlaub in einem Wellness-Hotel im Münsterland zurück und wollten abends ins Stadttheater. Bis dahin müssen wir wieder nüchtern sein. Prost.« Sie stießen noch einmal an. »Wir könnten natürlich stattdessen in der Zwischenzeit ein paar der Unterarschlöcher aus seiner Clique aufsuchen, aber …« Er ließ den Champagner im Glas kreisen.

»Aber?«

»Ich denke, das hat Zeit. Ob die uns mehr erzählen können als Miriam Breipohl? Oder erzählen wollen? Und eine Champagnerfahne untergräbt die Autorität der Polizei.«

Nina lachte auf, obwohl sie eine Befragung der Clique sinnvoll gefunden hätte. Sie würde später Dominik anrufen.

»Außerdem wird das Ganze noch anstrengend genug, denkst du nicht?«, fügte er hinzu. Sein Blick aus den dunklen Augen war durchdringend.

Nina nickte und beschäftigte sich mit ihrer Kaffeetasse. »Davon ist auszugehen.«

Unvermittelt stiegen Töne aus seiner Schultertasche auf. Ein Requiem, wenn sie sich nicht täuschte. Brahms? Sie kannte sich nicht aus. »Entschuldige, aber da muss ich rangehen.« Er holte sein Handy aus der Tasche. »Hallo? … Ja … heute Mittag? Ja, das passt. Fein. Bis dann.«

»Deine Frau?«, rutschte es Nina heraus, und im selben Augenblick verwünschte sie ihre Neugier.

Er lächelte und sah sie mit diesem seltsam intensiven Blick an. »Keine Frau, Nina. Ich war nie verheiratet. Und meine Freundin und ich haben uns vor Kurzem getrennt. Tja, so ist das, ich bin nun wieder Single.«

Er weiß, dass ich mich für ihn interessiere, dachte Nina. »Ich hätte nicht fragen sollen, das geht mich überhaupt nichts an.«

»Du darfst mich alles fragen, aber ob du auf alles eine Antwort bekommst …« Sein Lächeln wurde breiter. Dann wurde er wieder ernst und schaltete sein Handy aus. »Tut mir leid, aber ich muss gleich los. Wir sehen uns heute Abend, ja? Ich hole dich ab, und du zeigst mir den Weg zum Theater.«

Er klang, als hätten sie ein Date. Und Nina gestand sich ein, dass sie sich darauf freute.


Graues Oktoberlicht fiel in das Zimmer ihrer Tochter, das aussah, als wäre sie gerade noch da gewesen und könnte jeden Moment zur Tür hereinkommen. Marianne hatte das unordentliche Zimmer in der Zwischenzeit nicht angerührt, als hätte sie mit dem Aufräumen noch den letzten Hauch von Charlotte vertrieben. Sie schaltete das grelle Deckenlicht ein, das die Papierhaufen, mit denen der Schreibtisch bedeckt war, ausleuchtete, die Kleidungstücke, die auf dem Bett, dem Schreibtischstuhl und dem Teppich lagen, den überquellenden Papierkorb, den halb offenen, überfüllten Kleiderschrank, aus dem eine Bluse wie eine weiße Fahne ragte. Im Spiegel neben dem Schrank begegnete sie den dunklen Ringen unter ihren geröteten Augen.

Dann machte Marianne sich an die Arbeit, räumte den Kleiderschrank aus, öffnete Schreibtischschubladen und kippte den Inhalt des Papierkorbs auf dem Boden aus, um den Müll zu untersuchen. Charlottes Laptop hatte einer der Beamten eingesteckt, der sich viel zu wenig Zeit genommen hatte, das Zimmer zu durchsuchen. Während sie auf dem Boden inmitten des Papiermülls hockte, fiel ihr ein Buch unter dem Nachttisch auf: Heidi Klum, Natürlich erfolgreich. Es sah abgegriffen aus, aber nicht staubig, wie sie erwartet hätte. Was hatte ihre Tochter vor ihrem Tod zuletzt gelesen? Ein Lesezeichen steckte im Buch; als sie es öffnete, fiel es zu Boden. Es war ein Foto, das ihre Tochter neben einem Mann zeigte, der seinen Arm um ihre Taille gelegt hatte. Beide lächelten in die Kamera. Offensichtlich ein Selfie, das Charlotte gemacht hatte, denn ihr Arm war ausgestreckt.

Marianne starrte das Foto an. Sie hatte diesen Mann noch nie gesehen. Ein ziemlich hübscher Kerl, aber deutlich älter als ihre Tochter, er mochte Mitte oder Ende dreißig sein. Er wirkte ganz und gar nicht wie ein Verbrecher, aber das musste nichts heißen. Wer bist du?, dachte Marianne. Und wie zum Teufel soll ich das herausfinden?

Sie seufzte, begann dann, den Kleiderhaufen auf dem Teppich zu durchwühlen, griff in sämtliche Hosen- und Jackentaschen und förderte Bonbonpapiere, einen Lippenstift, Taschentücher und einen zerknitterten Zettel zutage. Die Nummer, die darauf stand, sah aus wie eine Handynummer. Seine Handynummer?

Es klingelte an der Tür, aber sie rührte sich nicht. Das war vermutlich Hardy, und der hatte einen Schlüssel. Kurze Zeit später drehte sich der Schlüssel im Wohnungstürschloss. Sie steckte das Foto und den Zettel in ihre Hosentasche. Die Tür öffnete sich.

»Hab mir schon gedacht, dass du hier bist, aber … Marianne, was machst du denn da?«

»Ich dachte, ich … finde hier vielleicht irgendeinen Hinweis, wer Charlotte …« Sie brach ab und machte Anstalten aufzustehen. Er half ihr hoch. Sie stöhnte. »Dieses Hocken ist nichts mehr für meine Knie.«

»Die Polizei war doch schon hier. Die schauen sich ihren Laptop an und …«

»Sie könnten etwas übersehen haben.«

Hardy fasste sie um die Schultern. »Schatz, wenn ich dich so anschaue … schläfst du überhaupt noch? Ich besorg dir ein Schlafmittel, eine Zeit lang kann man das mal nehmen, sagt mein Arzt.«

»Das ist lieb.« Sie hatte tatsächlich keine Nacht richtig geschlafen seit der Nachricht von Charlottes Tod und kaum etwas gegessen. Doch das war nicht wichtig gewesen. Jetzt, da sie einen Zettel mit einer Nummer besaß, vielleicht schon. Hardy hatte recht: Sie musste mehr auf sich achten.

Hardy lächelte. »Weißt du, ich hab mir überlegt, wir könnten nach der Beerdigung zusammen wegfahren. Dieses trübe Wetter zieht doch noch mehr runter. Ein bisschen Sonne tanken auf den Kanaren oder so …«

Sie machte sich los. »Wie bitte, Hardy? Meine Tochter ist ermordet worden, und du schlägst vor, Urlaub auf den Kanaren zu machen? So mit Cocktail am Strand und Wellenbaden?«

»Ich wollte doch nur … ich will doch nur, dass du ein bisschen Abstand bekommst von …« Er machte eine ausladende Handbewegung. »Von all dem hier. Du kannst hier nichts tun. Schatz, lass die Polizei ihre Arbeit machen!«

»Die Polizei, ja? Selbst wenn die das Schwein jemals kriegen sollten, dann heult er denen vor Gericht was von seiner schwierigen Kindheit vor, kriegt ein paar Jährchen, die er auf einer Arschbacke absitzt, die U-Haft wird auch noch angerechnet, und dann wird er wegen guter Führung vorzeitig entlassen. Charlotte dagegen …« Sie biss sich auf die Lippen, und ihre Augen wurden feucht. »Charlotte ist tot, für immer! Alles, was ich tun kann …« Sie brach ab.

Er starrte sie mit zusammengezogenen Brauen an. »Was willst du denn tun, Marianne?«

»Na, was wohl?«

»Privatdetektiv spielen oder wie?«

Sie schwieg.

»Du meinst das ernst?!«

Marianne trat einen Schritt zurück. »Mein Leben ist vorbei, Hardy. Es gibt nur noch eins, was ich will …«

»Nein, nein, nein!« Er packte sie wieder bei den Schultern. »Schatz, das ist alles noch ganz frisch, natürlich geht es dir schrecklich. Aber mit der Zeit …« Er sah sie forschend an. »Du glaubst mir jetzt nicht, weil alles so schlimm ist. Aber bitte, Marianne, vertrau mir, es wird eines Tages wieder ein Leben geben, für dich … für uns. Vielleicht wird es nie ganz so wie vorher sein, aber …«

»Richtig, es wird nie wieder sein wie vorher!« Noch einmal machte sie sich los. »Alles, was ich jetzt noch will, ist Gerechtigkeit. Verstehst du, Hardy? Gerechtigkeit!«

»Und die willst du selbst herstellen? Und wie bitte? Indem du dich selbst auf die Suche nach einem Mörder machst?«

Marianne holte tief Luft. »Ich bin müde, ich brauche jetzt Ruhe.«

»Falls du irgendetwas entdeckst, dann musst du damit zur Polizei gehen.« Hardy machte ein besorgtes Gesicht. »Das sind die Profis, nicht du.«

Sie lächelte dünn. Er konnte ihr nicht helfen. Die Kanaren … er hatte keinen Schimmer, wie es ihr ging. »Mach dir keine Sorgen.« Sie berührte kurz seine Hand.

»Versprich mir, dass du keine Dummheiten machst!«

»Natürlich mache ich keine Dummheiten. Aber ich brauche jetzt wirklich Ruhe.« Er tat ihr leid. Der gute alte Hardy, mit dem sie ihren Lebensabend hatte verbringen wollen. Und sie hatte sich darauf gefreut. Große Sprünge konnten sie beide nicht machen, doch sie planten seit Langem, was sie als Rentner tun würden: Ausflüge, Städtereisen, das Atelier für Mariannes Malerei, das in Hardys Schrebergartenhäuschen entstehen sollte … und ähnlich bedeutungslose Aktivitäten, die keinen Sinn mehr ergaben.

Hardy, rücksichtsvoll wie immer, verabschiedete sich, er hatte den Wink verstanden. Nachdem die Wohnungstür ins Schloss gefallen war, holte Marianne den Zettel aus ihrer Tasche und ging ins Wohnzimmer, um die Nummer von ihrem Festnetzanschluss anzurufen. Mit klopfendem Herzen lauschte sie dem Freizeichen. Sie würde ganz freundlich tun, ahnungslos, so als verdächtigte sie den Kerl nicht, ihre Tochter ermordet zu haben. Sie würde behaupten, schwerhörig zu sein und ihn bitten, seinen Namen zu wiederholen. Sie würde …

»Nele hier.« Eine Frauenstimme? Marianne war überrascht.

»Nele? Hier ist Charlottes Mutter. Sind Sie eine Freundin von Charlotte?«

»Ich … ich kenne keine Charlotte.« Ihre Stimme klang schrill. »Charly …« Sie atmete schwer. »Was wollen Sie überhaupt von mir?«

Charly? »Meine Tochter ist tot, wussten Sie das? Oder wissen Sie etwa über ihren Tod? Ich wäre Ihnen sehr …«

»Rufen Sie mich nie wieder an!«

In der Leitung knackte es einmal, dann folgte das Besetztzeichen. Diese Nele hatte gelogen, so viel stand fest. Und sie hatte Angst …


Natürlich hatte Roman Nina abends mit seinem edlen Privatwagen abgeholt. Sie überprüfte den Sitz ihres Lippenstiftes im Autospiegel und machte den Ohrhänger los, der sich in ihrem Seidenschal verheddert hatte. Sie hatte sich schick gemacht, so als wollte sie ins Theater statt zu einer Befragung. Doch so fühlte sie sich etwas wohler neben Roman, der oft mit Anzug und Krawatte gekleidet war, dieses Mal unter einem feinen Wollmantel.

Roman parkte das Cabrio in einer Seitenstraße in der Nähe des Stadttheaters. »Wollen wir?« Er lächelte.

Als sie ausstiegen, traf sie ein böiger Wind. Helles Licht fiel aus den hohen Fenstern des Theaters auf die Straße. Zwischen den Säulen des Vorbaus waren die ersten Besucher zu sehen, die die breite Treppe herunterkamen, ihre Mantelkrägen aufstellten und die Straße Richtung Stadtbahnhaltestelle überquerten.

Sie warteten vor dem Theater. Die NRW-Fahne vor dem Rathaus neben dem Theater knatterte im Wind, eine leere Plastikflasche rollte über den Boden. Roman band seinen Schal enger und beugte sich zu ihr. »Vincent Spiekerkötter ist nicht sonderlich groß, blond und lächelt gern gelangweilt in die Runde. Wahlweise blasiert.«

Nina lachte. »Ich habe ihn auch gegoogelt. Gelangweilt trifft es. Und sie sind zu dritt, richtig?«

Roman nickte lächelnd. »Daddy und sein Goldjunge plus Lebensabschnittsgefährtin.«

Immer mehr Theaterbesucher strömten aus dem Gebäude. Nina versuchte vergeblich, den Überblick zu behalten. Schließlich fiel ihr ein großer, schlanker Mann mit grauen Haaren auf, die er zum Pferdeschwanz gebunden trug. Er schaute sich suchend um und zupfte nervös an seinem Einstecktuch. Ihm folgte eine deutlich jüngere, platinblonde Schönheit im hellen Pelzmantel – und Vincent Spiekerkötter, den Blick auf sein Handy geheftet.

Roman hatte ihn auch bemerkt. Sie gingen auf den Teenager zu.

Der grauhaarige Mann trat ihnen entgegen. »Sie sind …? Sind Sie diejenigen, also …« Er senkte seine Stimme. »Also von der Kripo?«

»Ganz recht.« Roman zeigte seinen Polizeiausweis.

»Timo Spiekerkötter.«

Nina kam der Name vage bekannt vor. Sie zog ebenfalls ihren Ausweis aus der Manteltasche, doch Spiekerkötter winkte ab.

»Wir müssen das nicht so förmlich machen.« Er gab zuerst Nina, dann Roman die Hand. »Und das ist mein Sohn Vincent … Vincent! Würdest du bitte mal einen Augenblick lang dein Handy in Ruhe lassen?« Vincent schaute mit sichtlichem Widerstreben auf. »Das ist die Polizei, das sind die, die wegen Charlotte ermitteln«, fügte sein Vater hinzu.

»Weiß ich. Hallo«, sagte Vincent in einem Ton, als ob ihn das alles nichts anginge.

»Hier ist es so ungemütlich.« Timo Spiekerkötter warf einen skeptischen Blick zum Himmel. »Gehen wir doch einfach in eine Bar in der Nähe und plaudern … unterhalten uns über diese bedauernswerte Charlotte.«

Seine zierliche Freundin zog ihn am Ärmel wie ein Kind. »Timmie-Schatz, ich bin dann mal weg, ja? Ich nehme ein Taxi. Ich hab solche Kopfschmerzen.« Mit einer Hand versuchte sie, ihre vom Wind verwehte Frisur zu retten.

»Natürlich, Süße.« Er gab ihr einen Kuss auf die Wange, und sie verschwand in der Menge.

Nina fiel ein, wer Timo Spiekerkötter war. Er moderierte eine beliebte Morgensendung im Radio mit wechselnden Gästen aus dem Kulturbereich, Vertretern bestimmter Berufsgruppen oder Lokalpolitikern. Doch Nina schaltete meist einen anderen Sender im Autoradio ein, wenn sie zur Arbeit fuhr. In der Regel waren menschliche Schicksale, Skandale und Skandälchen die Aufhänger, um sich gefühlsbetont, aber oberflächlich und wenig analytisch diversen Themen zu nähern.

»Wie wäre es mit dem Ratscafé?«, fragte Nina.

»Äh? Wo …«, begann Timo Spiekerkötter.

»Sie meint das Oma-Café gegenüber«, sagte sein Sohn.

Spiekerkötter lächelte. »Ach, das Kaffee-Kunst. Das ist doch völlig in Ordnung.«

»Sag ich ja. Oma- und Opa-Café.« Vincent verzog den Mund.

»Erwartest du, dass wir uns noch lange auf die Suche nach einem Laden begeben, der hip genug für dich ist, Vincent? Wir frieren! Und es ist Sturm angesagt!«

Im Kaffee-Kunst-Ratscafé, das an ein Wiener Kaffeehaus erinnerte, empfingen sie Wärme, gedämpftes Stimmengewirr und die perlenden Töne eines Swingstücks, das jemand am Klavier spielte. Nina brauchte eine Weile, um auf den Titel zu kommen: Autumn Leaves – passend zur Jahreszeit.

Vincent ließ sich in die Polster eines Sofas sinken und zog wieder sein Handy aus der Tasche, das ihm sein Vater im nächsten Moment abnahm und einsteckte. Vincent machte ein genervtes Gesicht, sagte aber nichts. Sie setzen sich und schauten sich die Karte an. Kurz darauf kam eine Kellnerin, die kaum älter als Vincent sein mochte, und nahm ihre Bestellungen auf. Vincent brachte sie in Verlegenheit, indem er nacheinander Aperol Spritz, einen Hugo, einen Mojito-Rum bestellte, die alle nicht auf der Karte standen. »Darf ich Ihnen vielleicht einen Weißwein empfehlen …« Sie deutete auf die Karte. »Wir haben einen …«

»Okay, dann also Wasser. Ohne Kohlensäure«, unterbrach Vincent sie schroff.

»Sehr gerne.« Sie verfärbte sich rötlich und eilte davon.

Mit einem Lächeln, das seine Augen nicht erreichte, wandte sich Roman an Vincent. »Kommen wir zur Sache. Wo haben Sie sich am 18. und 19. Oktober aufgehalten?«

»Was soll denn die Frage?«, gab Vincent zurück.

»Ich habe meinen Sohn mittags von der Schule abgeholt, und dann sind wir zusammen mit meiner Lebensgefährtin zum Ausspannen ins Münsterland Golf- und Spa-Resort gefahren, wo wir heute Vormittag ausgecheckt haben. Warten Sie.« Timo Spiekerkötter kramte eine Visitenkarte des Resorts aus seiner Manteltasche und übergab sie Roman. »Die Angestellten des Hotels können das natürlich bestätigen. Ebenso meine Freundin Nadja.« Spiekerkötter kniff die Augen zusammen. »Am 19. Oktober haben wir uns die Burg Hülshoff angeschaut, stimmt’s, Vincent?«

Vincent lächelte. »Klar doch. Auf den Spuren der berühmten Dichterin.«

Nina war nicht sicher, ob das ironisch gemeint war.

»Sie wissen sicher, um welche es geht, nicht wahr?«, machte Vincent weiter, als wollte er überprüfen, ob die Polizei kulturell bewandert wäre.

Roman erwiderte das Lächeln. »Ich würde mich wirklich lieber mit Ihnen über Die Judenbuche oder Lyrik von Annette von Droste-Hülshoff unterhalten, aber leider geht es bei unserem Gespräch um ein so unappetitliches Thema wie Internet-Mobbing. Sagt Ihnen das Stichwort Schulschlampe etwas?« Roman zog ein Tablet aus seiner Notebookhülle, schaltete es ein und googelte die Seite.

»Hast du was damit zu tun?« Spiekerkötter sah seinen Sohn mit zusammengezogenen Brauen an.

Vincent war das Lächeln vergangen. »Sie können mir gar nichts nachweisen!«

»Nicht?« Roman grinste und schob das Tablet über den Tisch. Vater und Sohn beugten sich darüber.

»Wir haben Zeugenaussagen. Eine Mitschülerin und ein Freund von Ihnen haben voneinander unabhängig das Gleiche ausgesagt: Sie waren das!«, sagte Nina.

Roman warf ihr einen Blick zu. Er wusste nichts davon, dass sie am Nachmittag noch einmal Miriam zu Vincents Clique befragt hatte und es ihr gelungen war, David Westermeier, ein Mitglied dieser Clique, zu dieser Aussage zu bewegen. Anders als Vincent hatte David ziemlich geschockt von Charlottes Tod gewirkt.

»Wirklich?«, gab Vincent zurück. »Ich wette, das hat diese fette Lesbe Miriam von sich gegeben. Sie kann mich nicht ausstehen, sie hasst Männer, ist ja klar, so als Perverse. Wenn sie mir eins auswischen kann, ist sie dabei.«

»Wie gesagt, das hat auch ein Freund von Ihnen ausgesagt.«

»Ein Freund? Kann nicht sein. Ich meine, wer soll das denn gewesen sein?«

»Ist David Westermeier kein Freund von Ihnen?«, fragte Nina.

Vincents Augen wurden schmal. »David, schau an. Warum wundert mich das nicht?«

»Unschwer zu erkennen: Charlottes Kopf ist auf den Körper einer Pornodarstellerin moniert worden.« Roman wandte sich an Vincents Vater. »Sie wussten nichts davon?«

»Um Gottes willen, nein!« Timo Spiekerkötter schüttelte den Kopf und schob das Tablet beiseite. »Vincent, kannst du mir das mal erklä…«

»Okay, das war nicht nett von mir. Unser Lottchen war schon etwas speziell, aber … ich hätte das nicht tun sollen. Tut mir leid, das war … im Affekt oder so. Wir hatten uns gestritten.«

»Sie haben den Link zu der Seite praktisch in der ganzen Schule verbreitet.« Nina nahm ihren Kaffee von der Kellnerin entgegen, die ihnen die bestellten Getränke brachte.

»Ich konnte doch nicht ahnen, dass …« Vincent brach ab und nahm einen Schluck Wasser. »Als die Nachricht von ihrem Tod kam … das war wirklich schlimm, das hat uns alle getroffen. Ich hoffe sehr, dass Sie den Täter kriegen.«

Es klang, als hätte er diese Sätze auswendig gelernt. Nina glaubte ihm kein Wort. »Worüber haben Sie sich gestritten?«

»Ach, na ja … also … ich hatte den Eindruck, Charlotte hielt sich für was Besseres, aber …«

»Aber?«, fragte Roman.

»Okay, sie sah gut aus, auf eine etwas nuttige Art vielleicht …«

»Vincent!« Timo Spiekerkötters Gesicht rötete sich. »Deine Mitschülerin ist tot! Und so redest du über sie?«

»Nuttig ist das falsche Wort, ich hab prollig sagen wollen.«

Sein Vater seufzte.

Roman verstaute das Tablet wieder in der Tasche. »Sie hat Sie abgewiesen, deswegen waren Sie wütend, nicht wahr?«

Vincent grinste schief. »Denken Sie ernsthaft, ich hätte Probleme, eine angemessene Freundin zu finden? Lotte … war mehr was für eine Nacht.«

Angemessene Freundin? Ninas Teelöffel landete klirrend auf ihrer Untertasse. »Und weil Sie Ihnen einen One-Night-Stand verweigerte, haben Sie diese ekelhaften Bilder von ihr in Umlauf gesetzt?!«

Vincent zuckte mit den Achseln. »Ich sagte doch schon, dass es mir leidtut.«

Timo Spiekerkötter sah seinen Sohn stirnrunzelnd an. Er ahnte wohl, dass Vincent gerade keine so gute Figur machte. »Haben Sie noch Fragen an meinen Sohn, oder …«

»Wann haben Sie Charlotte das letzte Mal gesehen?«, fragte Roman.

»In der letzten Stunde. Wir haben einen Film bei Frau Schoppe gesehen. Über das Commonwealth.«

»Und Sie?«

»Ich? Ich kenne das Mädchen kaum. Ich hab sie vielleicht mal bei einer Schulfeier meines Sohns gesehen. Wenn wir dann fertig sind …« Timo Spiekerkötter schaute sich nach der Kellnerin um.

»Sie kannten das Mädchen kaum? Dabei haben Sie doch einen Blick für jüngere Frauen, nicht wahr?« Roman warf einen Geldschein auf den Tisch.

Nina starrte ihren Kollegen an.

Timo Spiekerkötters Gesicht rötete sich. »Was wollen Sie denn damit sagen? Ich würde sagen, wir sind fertig!«

»Noch nicht!«, sagte Roman scharf und wandte sich an Vincent. »Auch wenn das Opfer Sie nicht angezeigt hat, ist das Verbreiten von Unwahrheiten über jemanden mit dem Ziel, diesen Menschen herabzusetzen, auch im Internet eine Straftat! Vincent, Sie hätten nicht einmal ein echtes Foto von Charlotte ohne deren Einwilligung verbreiten dürfen!«

Vincent starrte sein Wasserglas an und beulte mit der Zunge seine Wangentasche aus.

»Da hat mein Kollege allerdings recht. Wir haben den Anbieter des sozialen Netzwerks darauf aufmerksam gemacht. Er wird Ihren Account löschen und natürlich auch diese widerlichen Fotos.«

»Hören Sie«, schaltete sich Timo Spiekerkötter ein. »Ich glaube, mein Sohn hat verstanden, was für einen Mist er da gebaut hat, stimmt’s, Vincent?«

Vincent räusperte sich und blickte auf. »Ich entschuldige mich noch einmal und … das wird nie wieder vorkommen.«

Erzähl das deiner Großmutter, dachte Nina.

»Wir werden Sie im Blick behalten«, sagte Roman kalt und stand auf.

»Wir melden uns gegebenenfalls noch einmal bei Ihnen.« Nina nickte Timo Spiekerkötter und seinem Sohn zu, erhob sich und folgte dem Kollegen.

Sie erwischte ihn auf der Treppe zum Ausgang. »Fluchtartiges Verlassen des Befragungsortes?«

Roman stöhnte. »Ich ertrage diesen Timo Spiekerkötter einfach nicht mehr. Im echten Leben ist er genauso ein aufgeblasener Langweiler wie im Radio. Außerdem hab ich Hunger. Ich lade dich auf eine Pizza ein. Lust?«

»Ach, dabei dachte ich, du magst seinen Sohn nicht. Den aufrichtig zerknirschten Cyber-Mobber.«

»Stimmt, den mag ich auch nicht.« Roman stieß die Tür auf. Draußen ging ein heftiger Schauer nieder. Nina konnte das Leineweberdenkmal nur schemenhaft vor dem Hintergrund der dunkleren Nicolaikirche erkennen.

Roman öffnete einen Schirm und hielt ihn Nina über den Kopf. Sie beschleunigten ihre Schritte.

»Aufgeblasener Langweiler? Das ist der Grund, wieso du Spiekerkötter nicht erträgst?«

Roman blieb kurz stehen. »Das und … willst du das wirklich wissen?«

Nina nickte. Sie eilten weiter.

»Weißt du, wenn ein Mann es nötig hat, mit einer Frau zusammen zu sein, die halb so alt ist wie er … dann stimmt etwas nicht.«

»Du meinst diese Nadja?« Nina sah ihn überrascht an. »Interessant, dass mal ein Mann so etwas äußert.«

»Mein Vater hat meine Mutter für eine Jüngere sitzen lassen, als ich sieben war. Er war Unternehmer und hat sich arm gerechnet, damit er bei der Scheidung möglichst wenig abgeben musste. Dann hat er noch drei Kinder mit zwei verschiedenen Frauen gezeugt, eine jünger als die andere.«

»Du bist also ein gebranntes Kind.«

»Sozusagen.«

Es regnete immer stärker. Sie sprinteten zum Wagen und ließen sich auf die Sitze fallen. Roman schnallte sich an, machte aber keine Anstalten loszufahren. Er holte tief Luft. »Meine Mutter wurde schwer depressiv, nachdem er sie verlassen hatte. Sie hatte alles aufgegeben für ihn, ihre Karriere als Konzertpianistin. Stattdessen hat sie in seiner Firma mitgearbeitet, ohne Lohn und Sozialversicherungsabgaben natürlich.

»Das war für dich als Kind sicher nicht leicht.«

»Nein, Nina, ich …« Er schüttelte den Kopf. »Das ist vorbei.«

»Natürlich«, sagte Nina sanft. Er wollte offensichtlich nicht darüber sprechen.

»Meine Mutter dachte wohl, es wäre für immer. Für sie brach eine Welt zusammen.«

»Viele Frauen scheinen so naiv zu sein.«

»Findest du das naiv, Nina?«

»Na ja, schon … ich …«

»Bis dass der Tod euch scheidet … ist das nicht eine schöne Vorstellung, dass zwei Menschen so miteinander verbunden sind, dass nur der Tod sie auseinanderbringen kann?«

Nina starrte ihn an.

»Du hältst mich für hoffnungslos altmodisch, was?« Roman lächelte.

»Ich … nein … das ist nur nicht sonderlich realistisch. Heutzutage …«

»Für Typen wie Vincent ist das nicht realistisch. Er benutzt Frauen nur. Wenn sie sich ihm verweigern, verzeiht er ihnen das nicht, und sie werden zu Hassobjekten. Wenn er sie leicht haben kann, werden sie wertlos.«

Er sprach genau das aus, was sie dachte. Ein erstaunlicher Mann.

»Wir sollten sein Alibi sorgfältig auf Lücken überprüfen«, fuhr Roman fort. »Und sein Vater? Hat eine schöne, junge Frau an seiner Seite als Erweiterung seines Egos.«

»Und du bist also vor derartigen Versuchungen gefeit?«, fragte sie spöttisch.

»Du magst es oldschool finden, aber …« Romans Augen glänzten. »Ich bin tatsächlich auf der Suche nach der Richtigen.«

Nina wich seinem eindringlichen Blick aus. Er sah sie an, als ob … nein, das konnte nicht sein.

Gespanntes Schweigen bereitete sich aus. Nach einer Weile sagte Roman: »Aber zuerst bin ich auf der Suche nach der richtigen Pizzeria hier in Bielefeld. Kannst du mir da weiterhelfen, Frau Tschöke? Magst du überhaupt Pizza?«

Nina lächelte. »Ich liebe Pizza!«

Kalte Liebe

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