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Samstag, 26. Oktober

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Ein warmer Wind wehte ihm ins Gesicht, während sie die kurvenreiche Straße an der felsigen Küste entlangfuhren. Das Meer weit unter ihnen hob sich silbrig schimmernd vom tiefblauen Himmel ab. War die Frau neben ihm am Steuer dieses Cabrios wirklich Grace Kelly? Der Seidenschal, den sie sich um den Hals gebunden hatte, flatterte ihr ins Gesicht, sodass er es nicht erkennen konnte, und sich fragte, ob sie die Straße noch sah. Im nächsten Augenblick hörte er das Quietschen von Bremsen, der Wagen schlingerte, und sie flogen aus der Kurve, fielen den Abhang hinunter, stürzten dem Meer entgegen …

Dominik schreckte mit klopfendem Herzen hoch und fand sich in seinem stickig-warmen Schlafzimmer wieder. Das graue Licht der Morgendämmerung rahmte bereits das Dachfenster-Rollo, der Wecker zeigte 6:45 Uhr an. Er reckte sich, stand auf und öffnete das Fenster. Frische, kalte Luft strömte herein und vertrieb die Reste des Albtraums aus seinem Bewusstsein.

Durch das lange, nächtliche Telefonat mit seiner Tochter hatte er vergessen, die Heizung runterzudrehen. Wenigstens ging es ihr gut. Die Mutter einer Mitschülerin arbeitete bei der Polizei in Auckland und hatte Lissa beim Barbecue offenbar in den schillerndsten Farben ausgemalt, wie toll ihr Beruf sei. Hm.

»Du sagst ja gar nichts, Papa. Du gehst doch voll auf in deinem Beruf, oder? Ehrlich gesagt, glaube ich, dass Mama deswegen ausgezogen ist …«

»Deine Mutter … Betty … das ist zum Beispiel einer der Nachteile. Die Work-Life-Balance, wie man so schön sagt, die kannst du komplett vergessen. Heute zum Beispiel ist Samstag, und ich muss trotzdem arbeiten …«

»Aber es macht dir doch Spaß.«

Spaß? Er musste an die junge Frau in dem Erdloch denken. Wie sollte er Lissa erklären, dass sie es in diesem Beruf permanent mit Abgründen zu tun hatte? Ihm kam eine Idee. »Mord und Totschlag sind nicht immer spaßig, Lissa. Warum redest du nicht mal mit Frank darüber?« Sein Freund und Kollege war nicht gerade übermotiviert und würde ihr sicher abraten.

»Wie geht’s Frank denn so mit dem Gipsbein? Kommt ihr Kerle klar oder bleibt das Putzen an dir hängen? Ich meine, mal unter uns, Robin ist ’ne alte Schlampe.«

»Er ist … kein Putzteufel. Stimmt.« Dominik grinste. Sein jüngster Sohn interessierte sich ausschließlich für seine Freundin, seinen politischen Blog und die nächste politische »Aktion«. »Lissa, wir haben doch jetzt eine Putzfrau. Seitdem ist alles klinisch rein. Kaum sind wir zu Hause, feudelt sie schon hinter uns her.«

»Ich hab’s ja immer gesagt, wir brauchen ’ne Putze.«

»Putze

Sie stöhnte. »Raumpflegerin, Reinigungskraft, Wischiwaschifachfrau … Hauptsache, es ist sauber. Hat Frank schon eine Wohnung in Aussicht, oder musst du ihn adoptieren?«

»Ja also … genau genommen hat er noch gar nicht angefangen zu suchen …«

»Ist ja auch voll krass, so plötzlich wegen Eigenbedarfs rauszumüssen.«

»Ganz so plötzlich … ach egal, er findet schon was.« Frank hatte die dreimonatige Kündigungsfrist verpennt, um dann für kurze Zeit bei Nina und schließlich bei ihm unterzukommen. Angeblich »übergangsweise«.

»Bestimmt. Tschüss, Glucken-Papa. Und ruf nicht wieder an.« Lissa lachte.

Dominik lächelte in der Erinnerung und stieg die Treppe hinunter. Im Bad rumorte Frank. Das konnte dauern. Es war vermutlich schwierig, mit Gips zu duschen. Zum Glück gab es noch ein zweites Badezimmer.

Ein Dreiviertelstunde später zwängte sich Frank umständlich auf die Beifahrerseite von Dominiks Wagen.

Sie waren schon eine Weile gefahren, als Dominik bemerkte: »Ich habe übrigens heute Nacht von Grace Kelly geträumt.«

Frank grinste. »Bist noch nicht von Betty geschieden und träumst schon von Grace Kelly. Dummerweise hat die bei einem Unfall den Löffel abgegeben. Wäre aber heute – ich weiß nicht – hundert oder so?« Er klappte die Blende mit dem Spiegel runter und kämmte sich sein fusseliges, blondes Haar mit den Fingern.

»Bis zur Scheidung ist es ja nicht mehr lange. Aber … die Kelly ist bei einem Unfall ums Leben gekommen? In einem Cabrio vielleicht?«

»Nee, im Rover, hab ich mal gelesen. Sag mal, wie ist denn der Neue so?«

»So alt wie du, nur gut aussehend und ohne Midlife-Crisis. Ehrgeizig, sportlich und …«

»Reicht schon, danke!«

Dominik unterdrückte ein Lächeln und beschleunigte den Wagen hinter dem Ostwestfalendammtunnel.

Frank gähnte laut. »Mann, bin ich fertig. Und dann in aller Herrgottsfrühe wieder Besprechung. Habe ich dir überhaupt schon erzählt, dass wir die Tote identifiziert haben?«

»Nein, wie auch, du redest ja grundsätzlich nicht beim Frühstück.«

»Bin eben kein Morgenmensch, Dodo. Also, nachdem die Fundort-Fotos reingekommen waren, bin ich gestern Nacht noch die Vermisstenmeldungen durchgegangen …« Frank machte eine Kunstpause.

»Du hast dich verausgabt, spätnachts …«

»Spotte nur, aber immerhin haben wir jetzt einen Namen: Das Mädel heißt Charlotte Campmann und wird seit dem 18. Oktober von ihrer Mutter vermisst. Sie ist fünfzehn.«

»So jung?« Vielleicht lag es an dem Make-up auf ihrem Gesicht, dass er sie älter geschätzt hatte.

Das graue Wetter ließ die Farben des Besprechungsraums noch kühler wirken, als er es ohnehin schon war: weiße, U-förmig aufgestellte Tische, grauer Teppich, eine weiße Magnettafel, mit der Bent Andersen den Flipchart ersetzt hatte. Dort hing ein Foto mit einer lächelnden, jungen Charlotte Campmann, die zu Lebzeiten ausnehmend hübsch gewesen war. Schweigend tranken Dominik und Frank ihren Kaffee, als Bent hereinkam, mit kleinen Augen und umso größeren Augenringen. Roman Nolte, der ihm folgte, wirkte dagegen frisch und tatkräftig. Er ging sogleich auf Frank zu, um sich vorzustellen und ihm die Hand zu schütteln. Frank machte ein Gesicht, als hätte er in eine Zitrone gebissen. Vielleicht übten sie schon, wer kräftiger zudrücken konnte. Kleine Truppe, dachte Dominik, wenn wenigstens Nina hier wäre … Auf viel Entlastung durften sie nicht hoffen, da noch zwei andere Fälle die Kripo Bielefeld in Atem hielten.

Bent kam nach einer kurzen Begrüßung zur Sache. »Marianne Campmann hat ihre Tochter nach der Obduktion gestern Nacht identifiziert. Sie hatte eine Art Zusammenbruch und bekam ein Beruhigungsmittel. Vielleicht geht es ihr inzwischen besser, und wir können sie heute befragen.«

Nolte nickte ernst.

»Manchmal hat’s auch Vorteile, nur der Aktenführer zu sein«, flüsterte Frank Dominik ins Ohr.

Nolte räusperte sich. »Das könnte ich tun, falls das … in deinen Plan passt, Bent.«

»Schön … ja. Aber das sollten zwei von uns machen, Dominik wird dich begleiten. Die Todesursache war übrigens Ersticken. Die Jugendliche ist erwürgt worden. Den Bericht mit weiteren Einzelheiten kriegen wir heute Nachmittag.«

»Ihre Verletzungen deuten auf ein Sexualverbrechen hin, oder?«, fragte Dominik.

Bent nickte. »Es könnte sich um einen Sexualmord handeln oder aber um einen Verdeckungsmord, bei dem der Täter eine Vergewaltigung vertuschen wollte. Am Fundort konnten die Kollegen trotz des teilweise matschigen Bodens übrigens noch einen Sohlenabdruck mit Hilfe von Gips sichern. Sonst wurde nur ein benutztes Papiertaschentuch gefunden, das bereits ins Labor gegangen ist zur DNA-Analyse. Mehr dazu heute Nachmittag. Viel Erfolg bei Marianne Campmann!«


»Na, Lust, ’ne Tour mit dem ›geilen Wagen‹ zu machen?«, fragte Roman Nolte, während sie den Besprechungsraum verließen.

Dominik lächelte. »Na klar.«

Unterwegs erzählte Roman von seiner kurzen Dienstzeit in Münster, wo er nach Hannover gelandet war und in erster Linie Fahrraddiebstähle und Einbrüche aufzuklären seien.

»Klingt so, als wäre dir langweilig geworden. Also auf nach Bielefeld, wo mehr los ist, wie?«

»Hier ist mehr los, ja. Aber deshalb habe ich mich nicht hierhin beworben.«

Dominik grinste. »Das beruhigt mich jetzt. Weshalb dann?«

»Der Liebe wegen. Ist aber schon wieder vorbei. Wie das eben so kommt.« Roman lachte. »Dominik, du bist Herrmannsläufer, habe ich gehört?«

Während sie sich im dichten Verkehr die Detmolder Straße entlangschoben, ging es um diverse Läufe, Zeiten, Läufergruppen und die richtigen Läden fürs Lauf-Equipment. Schließlich bogen sie auf die Otto-Brenner-Straße ab, und nach kurzer Zeit kamen Hochhäuser in Sicht. Sie hielten auf einem Parkplatz neben alten Möbeln, halb verrosteten Einkaufswagen und einer Mülltonne, aus der die gelben Säcke quollen. Einer der Säcke war aufgerissen, und der Wind verteilte seinen Inhalt über einen angrenzenden Grünstreifen.

Ein Graupelschauer erwischte sie, während sie auf eines der Hochhäuser zugingen. »Am Prinzipalmarkt ist es hübscher, was, Roman?«

»Münster hat auch Problemviertel.«

Sie beschleunigten ihre Schritte. Es dauerte eine Weile, bis sie Marianne Campmanns Schild unter den sechzig Klingelschildern gefunden hatten und die Mutter des Mordopfers auf ihr Klingeln reagierte. Roman wollte lieber auf eine Fahrt in dem engen Aufzug verzichten. »Irgendwie riecht es hier komisch.«

Dominik grinste. »Man kann nicht früh genug mit dem Herrmannslauftraining anfangen.«

Im zehnten Stock öffnete ihnen eine füllige, kleine Frau um die sechzig mit grauen Haaren, die sie zu einem Schwanz gebunden trug. Sie wischte sich über ihr blasses, rotfleckiges Gesicht.

Dominik zeigte ihr seinen Dienstausweis. »Wir …«

»Kommen Sie rein«, sagte sie mit müder Stimme.

Sie folgten ihr in ein gemütlich eingerichtetes Wohnzimmer, in dem nicht ein Flachbildschirm, sondern ein Tisch mit einer Nähmaschine, angefangener Näharbeit und ausgebreiteten Stoffen dominierte.

»Haben wir Sie beim Nähen gestört?« Roman lächelte.

Zwischen Marianne Campmanns Brauen bildete sich eine steile Falte. »Was denken Sie denn? Meine Tochter ist ermordet worden, und ich nähe hier munter vor mich hin, ja? Nein, ich hab nur früher für Charlotte genäht, weil sie sich diese topmodischen Sachen nicht kaufen konnte, und da hab ich versucht …« Sie brach ab, hob die Arme und ließ sie wieder fallen, starrte ins Leere. Ihre Augen wurden feucht. »Die Klamotten braucht sie ja nun nicht mehr.« Sie presste die Lippen aufeinander. »Wie schön, dass die Polizei nun tatsächlich mal reagiert. Jetzt, wo alles zu spät ist!«

Roman sah ihr in die Augen. »Frau Campmann, ich bin sicher, wir werden den Mörder Ihrer Tochter finden.«

Er klang wie eine Figur aus einem amerikanischen Fernsehkrimi und wirkte dabei vollkommen authentisch. Dominik hatte sich einmal zu einer ähnlichen Bemerkung hinreißen lassen, war sich der Möglichkeit des Scheiterns jedoch nur allzu bewusst gewesen und ließ es seitdem lieber. Roman Nolte hingegen schien von keinerlei Zweifel angekränkelt zu werden. Ein selbstbewusster Kollege. »Dürfen wir uns setzen?«, machte Roman weiter.

»Bitte.« Marianne Campmann wies auf zwei Sessel und ließ sich auf der Couch nieder. Ihre Schultern fielen nach vorn, alle Streitlust schien von ihr abgefallen zu sein.

»Haben Sie eine Idee …?«, begann Dominik.

»Nein.« Sie straffte sich. »Leider.«

»Hat sich Ihre Tochter in letzter Zeit anders verhalten als sonst?«, machte Dominik weiter.

»Es war immer ein Auf und Ab. Und ich weiß nicht mehr, mit wem sie ausging. Sie hat mir früher alles erzählt, aber dann nicht mehr. Das ist wohl die Pubertät, nicht wahr?«, sagte sie tonlos.

»Was ist mit Schulfreunden?«

»Nur Miriam. Miriam Breipohl. Mit den anderen aus der Klasse hatte Charlotte keinen Kontakt mehr außerhalb der Schule. Nach den Weihnachtferien war sie einige Wochen lang krankgeschrieben, und danach herrschte Funkstille. Tja, so schnell kann es in dem Alter gehen, dass man nicht mehr angesagt ist.«

»Sie haben Ihre Tochter am Freitag, dem 18. Oktober, als vermisst gemeldet. Wann haben Sie sie das letzte Mal gesehen?«, fragte Dominik.

»Am Freitagmorgen. Da ist sie wie sonst zur Schule gefahren.«

Und dort angekommen? Dominik und Roman sahen sich an. Der Kollege schien das Gleiche wie er zu denken.

»Ich habe mit ihrer Klassenlehrerin telefoniert. In der Schule war sie wohl bis zum späten Vormittag, aber danach … « Sie schüttelte den Kopf. »Ich hatte an dem Tag Spätdienst. Es ist durchaus möglich, dass Charlotte noch mal nach der Schule nach Hause gefahren ist, aber als ich um 21 Uhr hierher kam, war sie jedenfalls nicht mehr da. «

»Gut zu wissen. Dürfen wir uns ihr Zimmer mal anschauen?«, fragte Roman.

»Tun Sie das. Es ist die Tür vom Flur aus gegenüber.« Sie schaute auf ihre Hände, die gefaltet in ihrem Schoß lagen.

Roman sprang auf. Dominik zögerte. »Ich gehe schon mal vor«, sagte Roman.

Dominik nickte und wandte sich wieder an Frau Campmann. »Sie sagten, nach den letzten Weihnachtsferien hatte Ihre Tochter keinen Kontakt mehr zu den jungen Leuten aus ihrer Klasse. Ist da nach Weihnachten irgendetwas vorgefallen?«

»Wenn ich das bloß wüsste. Charlotte war … sie wirkte fast depressiv. So habe ich sie noch nie erlebt. Wissen Sie, früher war sie ein Schlüsselkind und übernahm nach den Hausaufgaben das, was im Haushalt liegen geblieben war. Wenn ich Spätschicht hatte, bin ich abends völlig erledigt nach Hause gekommen, aber Charlotte hat sich nie beklagt, war trotz allem immer fröhlich und außerdem gut in der Schule. Auf dem Gymnasium anfangs auch.«

»Und später begannen die Probleme?«

»Am Anfang bekam sie noch Geburtstagseinladungen von ihren neuen Mitschülern. Mit der Zeit ließ das nach, vermutlich, weil sie die nie erwidert hat. Sie schämte sich wohl für ihr Zuhause. In den Ferien, wenn die anderen mit ihren Eltern Urlaub machten, jobbte sie, um sich Markenklamotten und ein teures Handy leisten zu können. Doch am Ende konnte sie nicht mithalten mit den Töchtern und Söhnen von Anwälten, Ärzten und Bauunternehmern.«

»Also … irgendwann in den Weihnachtsferien begannen Charlottes Depressionen?«

»Nach Silvester, ja. Sie hatte Magenprobleme, vielleicht ging es ihr einfach deshalb nicht gut, jedenfalls kam sie morgens kaum noch aus dem Bett, und als die Krankschreibung endete, fing sie an, die Schule zu schwänzen, fälschte Entschuldigungen …« Frau Campmann schüttelte den Kopf. »Ich hab Charlotte nicht wiedererkannt. Ich hab versucht, mit ihr darüber zu reden, aber sie brauste schon auf, wenn ich auch nur eine einzige Frage stellte.«

»Aber diese Miriam Breipohl hat Ihre Tochter noch getroffen?«

»Die Freundschaft war mal viel enger. Miriam wohnt nebenan, ihre Mutter ist auch alleinerziehend. Da läuft man sich zwangsläufig auch außerhalb der Schule über den Weg, mehr war es aber wohl nicht mehr. Nach einigen Monaten ging Charlotte wieder aus, offenbar nicht mit den jungen Leuten aus ihrer Klasse, so viel habe ich noch von ihr erfahren. Aber mit wem und wohin, das wollte sie nicht sagen.«

»Dann ging es Ihrer Tochter also wieder besser?«

»Schwer zu sagen, sie ließ die Schule weiterhin schleifen. Aber sie hat wieder mehr Wert auf ihr Äußeres gelegt, Stunden im Bad verbracht, um sich zu schminken, obwohl sie das gar nicht nötig hatte. Schön und intelligent, ich hab immer gedacht, wem wenn nicht ihr stehen alle Türen offen …« Marianne Campmann biss sich auf die Lippen, ihre Augen wurden feucht. »Ehrlich gesagt, ich war oft erschöpft. Ich werde wohl einfach zu alt für diese Arbeit. Der Rücken, wissen Sie, typische Altenpflegerkrankheit. Ich hatte abends schlicht keine Kraft mehr zu weiteren Auseinandersetzungen mit Charlotte.« Sie wischte sich über die Augen. »Ich frage mich die ganze Zeit über, ob ich das hätte verhindern können …«

»Sie dürfen sich nicht die Schuld geben!«, entfuhr es Dominik.

Sie zuckte kraftlos mit den Achseln und starrte vor sich hin.

»Frau Campmann?«

»Wollen Sie sich noch Charlottes Zimmer ansehen?«, fragte sie leise und stemmte sich aus dem Sofa hoch.

»Gerne.«

Sie begleitete ihn in das Zimmer ihrer Tochter, wo Roman gerade einen Laptop in einen Karton packte. »Den müssen wir mitnehmen, Frau Campmann.«

»Bitte.«

Das Zimmer erinnerte Dominik an das Zimmer seiner eigenen Tochter. Auch Lissa hatte mal für The Twilight und Robert Pattison geschwärmt, aber Plüschtiere waren schon lange verschwunden. Charlotte hatte offenbar auch einen anderen Geschmack in puncto Kleidung: In einer Ecke lagen dunkelrote High Heels, und auf einem Bügel am Schrank hing ein spitzenbesetztes, rotes Minikleid.

Dominik betrachtete ein Foto in einem Regal, das eine strahlende, braun gebrannte Charlotte mit ihrer lächelnden Mutter auf einer sonnigen Terrasse zeigte. Die beiden saßen an einem Tisch und prosteten dem Fotografen zu. Im Hintergrund schimmerte das tiefblaue Meer.

»Das war letztes Jahr auf Kreta«, erklärte Frau Campmann mit brüchiger Stimme. »Hardy … das ist mein Freund … er hat das Bild gemacht. Wenn ich gewusst hätte, dass das unser letzter gemeinsamer Urlaub sein würde.«

Dominik suchte nach tröstenden Worten, doch alles, was ihm einfiel, kam ihm plump und oberflächlich vor. Also nickte er nur und wandte sich an Roman. »Hast du ein Handy gefunden?«

»Leider nicht.«

»Ich weiß auch nicht, wo ihr Handy ist«, sagte Frau Campmann. »Das wird sie mitgenommen haben. Sie ging nie ohne Handy aus dem Haus.«

»Tja, dann sind wir hier wohl fertig.« Roman lächelte.

»Ja, ganz großartig, das ging ja schnell.« Frau Campmann trat auf den Flur.

»Verständlich, dass sie sauer auf die Polizei ist«, sagte Dominik leise. »Hast du schon alles durchsucht?«

»Alles. Leider keine Anhaltspunkte, nicht mal ein Tagebuch, nur der übliche Teenie-Kram.«

»Tagebücher sind out, wie? Heutzutage verstecken sich die privaten Geheimnisse hinter Internet-Verläufen. Wer weiß, was wir auf ihrem Rechner entdecken.«


Seufzend packte Nina ihr Duschtuch wieder aus dem Koffer und versuchte dann noch einmal, ihn zu schließen. Dieses Mal klappte es. Zum Glück half Bines Mutter ihrem Bruder und Bine beim Kofferpacken und würde die beiden auch nach Paderborn zum Flughafen fahren. Und wohin jetzt mit dem Duschtuch? In dem Hotel, in dem sie wohnen würden, gab es auch ein Fitnessstudio und einen Saunabereich. Am besten also in die kleine Sporttasche, die sie als Handgepäck mitführen konnte. Während sie in verschiedenen Schränken nach der Tasche suchte, fiel ihr ein, dass sie die im Büro gelassen haben musste.

Sie überlegte. Ihr Flieger ging erst um 21:15 Uhr. Kurz entschlossen stieg sie in ihr Auto. Die Kollegen hatten mit dem neuen Mordfall alle Hände voll zu tun, und sie würde im Präsidium wohl nur Frank antreffen, was ihr ganz recht war, denn sie hatte keine Lust auf einen längeren Plausch. Von ihrer Wohnung im Johannistal brauchte sie trotz des Samstagnachmittagsverkehrs nur fünfzehn Minuten, bis sie auf den fast leeren Parkplatz des Präsidiums einbog. Sie sprintete an einem schicken Cabrio-Oldtimer und Bents Volvo vorbei in das Hauptgebäude, wo sie auf der Treppe zwei Stufen auf einmal nahm. Niemand kam ihr entgegen. Es war ungewöhnlich still, bis sie die Glastür zu ihrem Büroflur öffnete.

»… aus dem Obduktionsbericht. Sie hat viel Blut verloren und wäre wohl verblutet, wenn sie nicht vorher erwürgt worden wäre. Die massiven Verletzungen lassen vermuten, dass sie mit einem stumpfen Gegenstand vergewaltigt worden ist.« Nina hätte sich am liebsten die Ohren zugehalten, doch sie blieb wider Willen stehen. Die Tür zum Besprechungsraum stand offen und gab den Blick auf einen unglücklich dreinschauenden Bent frei. »Leider gibt es keine Spermaspuren. Dafür fanden sich Holzsplitter im verletzten Gewebe. Die Rechtsmedizinerin meint, es könnte sich um etwas wie einen Baseballschläger gehandelt haben …«

Nina entfuhr ein Stöhnen.

»Nina?« Oje, Bent hatte sie bemerkt. »Komm doch rein, wenn du … falls du …«

Und das alles nur wegen dieser blöden Sporttasche. Sie trat ein und lächelte in die Runde, nickte Dodo und Frank zu, begegnete einem Blick aus mandelförmigen, braunen Augen unter kräftigen, dunklen Brauen. Das musste der neue Kollege sein. Dichtes, dunkles Haar, ein kurzer Bart und ein Gesicht, das Entschlossenheit ausstrahlte, Verbindlichkeit. Dominik, der neben ihm saß und mit seinen dunklen Locken und großen, braunen Augen von den Kolleginnen als schönster Mann der Kripo gehandelt wurde, wirkte dagegen weich und melancholisch, fast feminin. Wie erwartet, hatte der Neue, den Bent als »Roman Nolte« vorstellte, einen festen Händedruck. Und er weiß genau, wie gut er aussieht, dachte Nina, während sie sein Lächeln erwiderte.

»Und das ist unsere Kollegin Nina Tschöke«, fuhr Bent fort. »Eine unserer besten Mordermittlerinnen.«

Nina schüttelte verlegen den Kopf.

»Recht hat er.« Dominik zwinkerte ihr zu. »Setz dich doch.«

Frank runzelte die Stirn. »Hey, Nina hat Urlaub. Was machst du überhaupt hier? Ich dachte, du wärst auf Malle.«

»Mein Flieger geht erst heute Abend.«

»Magst du einen Kaffee?« Dominik stand auf, ging zu dem Teewagen und hob die Thermoskanne hoch. »Mit Milch, wie immer?«

»Ja, aber nur kurz …« Sie setzte sich und nahm die Tasse entgegen. Verstohlen musterte sie Roman Noltes Kaschmirpullover, die teure Jeans, die blank polierten, schicken Lederschuhe und tastete unwillkürlich nach ihrem etwas schief geklebten Brillenbügel.

»Schön … ja … wir sind gerade bei dem neuen Fall«, erklärte Bent überflüssigerweise. »Ich mach dann mal weiter. Die Verletzungen an den Innenseiten der Handgelenke des Opfers stammen wahrscheinlich von Handschellen. Sie könnten entstanden sein, als das Opfer versucht hat, sich loszumachen, also Druck ausgeübt hat.«

»Würde man sie dann nicht eher an den Außenseiten vermuten?«, warf Nina ein. »Es sei denn, das Opfer war mit beiden Händen an zwei Bettpfosten oder Haken gefesselt und hing quasi in den Handschellen.«

Bent nickte. »Das ist ein guter Punkt.«

»Klingt nach Sadomaso-Spielen, die aus dem Ruder gelaufen sind«, sagte Frank. »SM scheint ja groß in Mode zu sein. Dieser Fifty Shades of Grey-Schinken geht weg wie warme Semmeln, stimmt’s?«

»Hm«, machte Dominik. »Aber welches fünfzehnjährige Schulmädchen würde freiwillig SM-Spiele mitmachen? Ich tippe darauf, dass sie ein Zufallsopfer war, das der Täter in seine Gewalt gebracht hat. Und so brutal wie das Ganze abgelaufen ist, muss der Mann hochgradig gestört sein.«

Nina nahm einen Schluck aus ihrer Tasse. Der Kaffee war stark. »Ein Täter, der Frauen hasst? Es gibt keine Spermaspuren, nur Holzsplitter. Vielleicht ist er impotent und lässt seine Opfer dafür büßen.«

»Bisher gibt es keinen Hinweis auf weitere Opfer. Ich bin immer für Brainstorming, doch wir sollten uns nicht zu weit von dem entfernen, was wir zurzeit wissen«, sagte Bent.

Dominik seufzte. »Wir versuchen nur, uns eine Vorstellung zu machen. Ich bin kein Profiler, aber ich würde sagen, wir suchen einen sexuellen Sadisten, der vermutlich deutlich älter ist als das Opfer, etwa zwischen fünfundzwanzig und fünfzig Jahre alt.«

Roman Nolte zog die Brauen zusammen. »Können wir denn eine Beziehungstat ausschließen? Etwa die Rache eines Ex-Freundes? Oder jemand, den das Opfer abgewiesen oder anderweitig gekränkt hat?«

»Frau Campmann«, Dominik wandte sich an Nina, »das ist die Mutter des Mordopfers, hat keinen Freund oder Ex-Freund erwähnt.«

Roman grinste. »Hast du deiner Mutter in dem Alter alles erzählt, was du so treibst?«

Dominik lachte auf, Bent lächelte. Frank verzog keine Miene. Er hockte tatsächlich so schlecht gelaunt hinter seinem Aktenführer-Rechner, wie Dominik berichtet hatte.

Bent spielte mit seinem Filzstift. »Gut möglich, dass wir es mit einem psychisch gestörten Täter, einem Narzissten oder Sadisten zu tun haben. Andererseits käme auch ein Täter infrage, der den Mord nur wie ein Sexualdelikt aussehen lassen wollte. Immerhin fehlen Spermaspuren. Ich würde sagen, noch ist alles offen.«

Der Himmel verdüsterte sich. Rote Blätter wirbelten am Fenster vorbei, und der Wind pfiff um die Ecken des Präsidiums. Obwohl alle Fenster geschlossen waren, streifte Nina ein kalter Hauch. »Fangen wir doch einfach damit an, die letzten Tage und Stunden im Leben von Charlotte Campmann zu rekonstruieren.« Wir? Hatte sie wir gesagt?

»Genau.« Bent warf den Filzstift auf sein Pult. »Laut ihrer Mutter ist Charlotte am 18. Oktober morgens zur Schule gefahren. Wir müssen den Todeszeitpunkt … ja?«

Frank hatte die Hand gehoben. »Ich habe in ihrer Schule in Sieker angerufen. Charlotte hatte die letzte Schulstunde am Freitag bei ihrer Klassenlehrerin, einer gewissen Frau Schoppe. Wegen der Ferien war schon gegen 11 Uhr Schluss.«

»Schön … Dominik, du befragst Frau Schoppe, und Roman fährt zu dieser Schulfreundin … ähm …«

»Miriam Breipohl«, ergänzte Roman.

Bent nahm seine Mappe mit dem Obduktionsbericht an sich. »Ganz recht. Viel Erfolg. Und dir, Nina, weiterhin einen schönen Urlaub.«

Während die anderen den Raum verließen, gesellte sich Nina zu Frank. »Na, Frank Tillmann Herbst, was macht der Knöchel?«

»Juckt wie die Hölle unter dem Gips. Das habe ich dieser Putzfurie zu verdanken, wischt die Treppe und sagt nicht mal Bescheid. Die Alte hat doch einen Sparren locker.«

»Sind das die Fundortfotos?«

Frank nickte.

Sie griff nach dem Stapel Fotos neben seinem Rechner und dachte in dem Moment, in dem sie einen Blick auf das erste Foto warf, dass sie den Stapel besser hätte liegen lassen sollen.


Das Haus der Schoppes lag in einer ruhigen Seitenstraße in der Nähe des Moorbachtals. Dominik kannte die Gegend: Das sumpfige Gelände, das der Moorbach in einem Wäldchen bildete, war meist der Endpunkt seiner Laufstrecke, bevor es wieder bergab Richtung Schildesche ging. Als er das alte Fachwerkhaus am Ende der Straße erreichte, wusste er, dass er zu weit gefahren war. Über dem Waldstück jenseits der Wiesen türmten sich dunkle Wolken. Dominik wendete, und nach einer Weile entdeckte er das großzügig geschnittene, weiß geklinkerte Haus der Schoppes. Eine einsame LED-Kerze in einer Edelstahl-Standlaterne flackerte vor der hellgrauen Eingangstür. Als er klingelte, begann ein Hund, hinter der Tür zu bellen.

Kurz darauf öffnete eine schlanke Frau in den Fünfzigern mit silberblonden, straff zum kurzen Schwanz gebundenen Haaren die Tür und schaute ihn mit gerunzelter Stirn an. »Ja bitte?« In der einen Hand hielt sie eine brennende Zigarette, mit der anderen versuchte sie, einen Jack-Russell-Terrier am Halsband zurückzuhalten, der Dominik neugierig beschnüffelte.

»Domeyer. Wir hatten telefoniert. Es tut mir leid, dass ich Sie am Samstagnachmittag belästigen muss, aber …«

»Ich weiß, ich weiß.« Sie nahm einen Zug von ihrer Zigarette, wobei sich die Falten um ihren leuchtend rot geschminkten Mund vertieften, dann schob sie den Terrier zurück in den Flur. »Kommen Sie rein. Ingrid Schoppe«, fügte sie hinzu und streckte ihm kurz ihre Hand hin, als ob sie sich gerade noch der gebotenen Umgangsformen erinnerte. Ihr Händedruck war kühl und schlaff.

Er folgte ihr in ein Wohnzimmer, das ähnlich wie das Outfit von Frau Schoppe in Schwarz- und Weißtönen gehalten war. Bücherregale dominierten die Wände. Außerdem schienen die Schoppes eine Vorliebe für die klaren Farben und Formen von Piet Mondrian zu haben, dessen Kompositionen die freien Stellen als Leinwanddrucke zierten.

»Bitte.« Sie deutete auf das weiße Ledersofa, und er setzte sich. Ihre enge, schwarze Lederhose knarrte, als sie ihm gegenüber in einem Sessel Platz nahm. Der Terrier legte sich in seinen Hundekorb neben dem Sofa.

»Ich denke, Sie wissen bereits, worum es geht. Wir versuchen, die letzten Stunden vor dem Mord an Charlotte Campmann zu rekonstruieren. Ihre letzte Schulstunde hatte sie bei Ihnen, nicht wahr, Frau Schoppe?«

Sie nahm noch einen Zug und drückte dann die Zigarette umständlich in einem Aschenbecher auf dem Couchtisch aus. »Richtig. Ich bin ihre Klassenlehrerin und gab in der letzten Stunde Englisch. Obwohl ich in der letzten Stunde vor den Ferien nur einen Film gezeigt habe, war die Campmann wie so oft mehr physisch als mental anwesend.«

»Charlotte wirkte abwesend? Haben Sie eine Ahnung, wieso?«

Ihre Lippen kräuselten sich zu einem süffisanten Lächeln. »Ich sage mal so: Sie interessierte sich mehr für ihre Wirkung auf das andere Geschlecht als für Sachthemen. Das ist in dem Alter ein Stück weit normal, aber bei ihr war das schon sehr ausgeprägt.«

»War sie beliebt bei ihren Mitschülern?«

Sie schlug die Beine übereinander. »Nun, sie erregte Aufmerksamkeit bei den Jungs, das schon, und bei den Mädchen … ich hatte nicht den Eindruck, dass sie beliebt war. In den Pausen sah ich sie öfter allein oder gelegentlich mit Miriam Breipohl.«

»Kam Ihnen Charlotte in letzter Zeit verändert vor?«

»In letzter Zeit …« Sie schürzte die Lippen. »Ihre schulischen Leistungen sind schon seit Anfang des Jahres deutlich abgesackt. Auch mündlich, sie ist stiller geworden. Letztes Jahr wirkte sie aufmerksamer und hat sich mehr beteiligt. Ansonsten kann ich das nicht beurteilen.«

Der Terrier sprang auf und lief schwanzwedelnd zur Tür.

»Mein Mann«, erklärte Frau Schoppe.

Ein mittelgroßer Mann mit markantem Gesicht trat ein und streichelte den Hund. Trotz seiner grauen Haare wirkte er jünger als seine Frau.

»Das ist der Herr von der Kripo.«

Schoppe ging auf Dominik zu. »Norbert Schoppe.« Er hatte ein offenes Lächeln und einen festen Händedruck.

»Er ist wegen Charlotte Campmann hier.« Sie zog ihren cremeweißen Angorapullover zurecht.

Schoppes Miene verfinsterte sich. »Wegen Charlotte … das dachte ich mir schon. Ich kann es immer noch nicht fassen!«

Dominik hob die Brauen. »Sie kannten sie?«

Ingrid Schoppe verschränkte die Arme vor der Brust.

Norbert Schoppe setzte sich neben ihn aufs Sofa. »Ich kannte sie so gut, wie man eine Schülerin kennen kann, die man seit drei Halbjahren in Biologie unterrichtet. Also eher oberflächlich. Trotzdem … schreckliche Geschichte! Sie hatte noch ihr ganzes Leben vor sich.«

»Ja, schlimm so was«, sagte Frau Schoppe und lächelte. »Mein Mann ist sehr empathisch, müssen Sie wissen. Er interessiert sich für seine Schüler und natürlich auch für die Schülerinnen.«

Empathisch? Im Gegensatz zu dir, dachte Dominik. War das Spott in ihren Augen? Aber was wusste er schon von ihr, vielleicht hatte sie ihre Schülerin nicht gemocht. Obwohl oder weil sie sich selbst um Aufmerksamkeit beim anderen Geschlecht bemühte mit figurbetonter Kleidung und ihrem stark geschminkten Gesicht?

»Hat einer von Ihnen Charlotte Campmann nach der letzten Schulstunde noch einmal gesehen?«

»Nein, ich bin gleich danach nach Hause gefahren«, gab Frau Schoppe zurück.

Herr Schoppe schüttelte den Kopf und lehnte sich vor. »Darf man fragen, wie … also … wie ist die arme Charlotte denn …« Er brach ab, denn in diesem Moment ertönte ein Poltern im Raum über ihnen, als wäre etwas Schweres zu Boden gefallen. Es folgte ein Schrei. Frau Schoppe nahm die Arme auseinander und richtete sich auf. »Oh Gott, ich hoffe …«

»Bleib ruhig, Schatz, ich glaube, sie ist einfach nur böse auf mich. Ich hab sie wegen der ständigen Sauerei im Bad angesprochen und …«

»Entschuldigung.« Frau Schoppe sprang auf und eilte aus dem Zimmer.

»Ingrid, nun bleib doch!«, rief er ihr hinterher und seufzte. »Meine Stieftochter.« Er verdrehte die Augen. »Isabel ist etwas impulsiv. Und mit ihren Ausbrüchen hat sie meine Frau fest im Griff! Aber … wo waren wir stehen geblieben … Charlottes Tod … haben Sie schon einen Verdacht?«

»Ich darf Ihnen leider nichts dazu sagen. Nur so viel, dass sie keines natürlichen Todes gestorben ist.«

Schoppe nickte und starrte vor sich hin. Von oben drangen Stimmen, dann Gebrüll. Er lächelte schief. »Ich höre das schon gar nicht mehr.«

»Pubertät?«, fragte Dominik.

»Wenn es das nur wäre. Isabel ist schon fünfundzwanzig.«

»Heutzutage bleiben die Kinder länger im Haus, wie?« Dominik dachte an Nils, Robin und Lissa. Er würde sich wünschen, dass sie mit fünfundzwanzig noch zu Hause wohnten, hegte aber wenig Hoffnung.

»Isabel ist wieder zurückgezogen. Sie hat schon mal woanders gewohnt, wenn auch nicht allein, das schafft sie nicht.«

Kurz darauf ging die Tür auf, und Frau Schoppe erschien mit roten Flecken im Gesicht. »Die Unterbrechung tut mir leid, ich …« Ein Rumpeln, das von oben kam, ließ sie zusammenzucken.

»Alles gut, ich bin jetzt auch fertig.« Dominik stand auf und reichte Norbert Schoppe seine Visitenkarte. »Für den Fall, dass Ihnen noch etwas einfällt.«


Geistesabwesend packte Nina die Sporttasche. Die Fotos vom Fundort gingen ihr auch zu Hause nicht mehr aus dem Kopf. Sie musste an ihre eigene Schulzeit denken, an Franziska, ihre temperamentvolle und bewunderte Freundin, die kurz nach ihrem sechzehnten Geburtstag verschwand. Franzi, das Partygirl, die Rampensau, die Stimmungskanone, die überall im Mittelpunkt stand. Und eines Tages war sie fort. Die Stille danach war gespenstisch. Alle schlichen nur noch geduckt durch die Flure der Schule, sprachen in gedämpftem Ton, selbst die Lehrer, die versuchten, Franzis Mitschülern Mut zu machen, wirkten geschockt.

Nach ein paar Tagen begannen Franzis Freundinnen Geschichten zu stricken, die zu ihr passten: Mal hatte sie sich einer fahrenden Schauspieltruppe angeschlossen, mal war sie mit einem amerikanischen Millionär durchgebrannt und lebte jetzt in Hollywood. Sie erwarteten, Franzi jederzeit durch die Tür hereinspazieren zu sehen mit einer abenteuerlichen Entschuldigung für ihre Abwesenheit im Gepäck. Doch sie kehrte nie zurück. Nina widerstand damals der Versuchung, sich mit Geschichten davon abzulenken, dass etwas Unheimliches in die heile Welt des kleinen Gymnasiums eingebrochen war. Stattdessen versuchte sie sich zwei Jahre lang wie besessen an der Lösung des Rätsels, wandte sich an Franzis Angehörige und Freundinnen, die nicht verstanden, was sie mit ihren Fragen bezweckte, suchte in Zeitungsarchiven nach ähnlichen Fällen. Erst fünfzehn Jahre später wurde eine skelettierte Leiche in einer Höhle im Sauerland gefunden und anhand der DNA als Franzi identifiziert. Die Deformierungen an ihrem Schädel ließen auf ein Verbrechen schließen.

Franzi war der Grund gewesen, warum sie zur Polizei gegangen war. Und nach mehreren Stationen hatte sie es genau dahin gebracht, wo sie immer hingewollt hatte: zur Kripo. Anfangs war sie sehr stolz gewesen und ehrgeizig: Sie wollte sich beweisen. Mit der Zeit stellte sie fest, dass ihre älteren Kollegen auch nur mit Wasser kochten. Inzwischen fühlte sie sich häufig erschöpft. Es fiel ihr schwer abzuschalten, wenn sie an einem Fall arbeitete. Ihr Privatleben, das sich auf Sport und gelegentliche Kinobesuche mit Freundinnen beschränkte, kam eindeutig zu kurz. Und vielleicht … sie hielt inne, betrachtete die pralle Tasche, aus der ein Sportshirt herausquoll und den Reißverschluss blockierte … vielleicht war es auch umgekehrt: Die Arbeit lenkte sie ab von ihrem unbefriedigenden Privatleben.

Das Klingeln des Telefons riss sie aus ihren Gedanken.

»Du, Nina, wir haben alles im Koffer!« Kai klang stolz.

Sie lachte. »Dann seid ihr weiter als ich.«

»Aber Bines Bär darf nicht mit, sagt ihre Mama. Der ist zu groß. Du, wir essen gleich Pizza, und dann fahren wir los, sagt Bines Mama! Soll ich dir sagen. Ich freu mich schon so!« Er summte, wie immer, wenn er aufgeregt war. »Nina, und dann kommst du, und wir steigen in das Flugzeug ein. Und wusch … und wusch fliegt es …«

»Ja, Kai, danke für die Nachricht. Ich muss jetzt weiter packen. Bis nachher.«

»Wir sind schon fertig!«, kam es triumphierend aus dem Hörer, bevor Nina das Gespräch wegdrückte.

Dann ließ sie sich auf das Wohnzimmersofa fallen. Noch vor Kurzem hatten sie und Kai zusammengewohnt, doch inzwischen lebte er mit seiner Freundin Bine, die wie er das Down-Syndrom hatte, in seiner ersten eigenen Wohnung. Ursprünglich hatte Bines Mutter die Reise geplant und angeboten, die beiden zu begleiten. Doch Nina hatte das Angebot ausgeschlagen, weil sie mal wieder Zeit mit Kai verbringen wollte und ihre Freundin Michaela zur selben Zeit auf Mallorca Urlaub machen würde. Nina stand auf und wanderte vor dem großen Wohnzimmerfenster auf und ab. Draußen dämmerte es, doch im hellen Licht der Deckenlampe sah sie nicht viel mehr als ihr Spiegelbild in der Scheibe. Davor schob sich ein anderes. Weit aufgerissene blaue Augen in einem verzerrten, bleichen Gesicht. Würgemale, Blut und Hämatome … Nina schaltete die Lampe aus. Jetzt sah sie nur noch die windbewegten Büsche ihres Gartens. Das Wetter war umgeschlagen, der Bericht hatte ein Sturmtief mit Orkanböen für die nächsten Tage angekündigt. Zum Glück ging der Flieger schon heute Abend.

Andererseits … Nina seufzte, griff zögernd zu ihrem Handy und tippte die Nummer der Fluggesellschaft ein. Fragen kostete ja nichts.

Das Freizeichen tutete zweimal, dann meldete sich eine helle Stimme. »Eurowings, was kann ich für Sie tun?«


In der Cafeteria des Präsidiums waren die künstlichen Sonnenblumen auf den Tischen durch tönerne Halloween-Kürbisse ersetzt worden. Die einzige Beleuchtung in dem fast leeren Raum bestand aus den elektrischen Teelichtern in den Kürbissen. Dominik löffelte seine Linsensuppe und dachte an die Begegnung mit den Schoppes. Etwas ähnlich Kitschiges wie Halloween-Kürbisse käme in ihrem modernen Einfamilienhaus garantiert nicht zum Einsatz.

Die Tür klappte und er sah auf. Eine zierliche Kollegin trat ein. Auf den ersten Blick wirkte sie unscheinbar, ihr ungeschminktes Gesicht seltsam nackt und verletzlich. Lag es daran, dass Ute Vienenkötter-Lange, eine Kollegin aus dem Kommissariat für Wirtschaftsdelikte, ihre schönen Augen früher hinter einer dicken Brille versteckt hatte? Nachdem sie sich einen Kaffee geholt hatte, schaute sie sich um. Trotz der kümmerlichen Beleuchtung entdeckte sie ihn. Ein scheues Lächeln glitt über ihr Gesicht. Zögernd trat sie an seinen Tisch.

»Hallo Dominik. Ich hoffe, ich störe nicht.«

»Aber nein, setz dich zu mir. Ich habe nur gerade an ein Lehrerehepaar gedacht, das ich vorhin befragt habe. Die Klassenlehrerin der getöteten Fünfzehnjährigen. Ich hatte den Eindruck, die Sache ging ihr am Allerwertesten vorbei.«

Sie nahm ihm gegenüber Platz und sah ihn fragend an.

»Zuerst dachte ich, die Frau ist wohl einfach unterkühlt. Aber als es um ihre eigene Tochter ging, wirkte sie völlig anders.«

»Sie mochte ihre Schülerin nicht?« Ute krauste die von Sommersprossen überzogene Nase und sah ihn so unglücklich an, dass er den Impuls hatte, sie zu trösten.

»Ich glaube nicht. Vielleicht geht es auch um Eifersucht – eine alternde Frau, die eifersüchtig auf den Sex-Appeal einer Fünfzehnjährigen war.«

»Ein schlimmer Fall! Ich könnte das nicht. Ich bewundere euch, wirklich! Ich bin froh, dass ich nur mit Geldwäsche befasst bin. Obwohl es zurzeit um Drogenhändler und Zuhälter geht. Aber ich beschäftige mich nur mit den Geldflüssen.«

»Aha? Erzähl mal.«

Sie nahm einen Schluck aus ihrem Kaffeebecher. »Für dich sicher langweilig. Ziemlich trockene Materie.«

»Ehrlich gesagt, ich bewundere dich, dass du diesen Dingen so akribisch nachgehen kannst. Ich kriege schon Pickel, wenn ich nur an meine Steuererklärung denke. Und jetzt erzähl.«

Eine feine Röte überzog ihr Gesicht. »Wie gesagt, Geldwäsche, wobei auch Banken involviert sind, die Briefkastenfirmen Konten im Ausland zur Verfügung stellen.« Sie seufzte. »Aber wir kommen nicht so recht voran. Die Banken werden vorsichtiger. Und die Dealer und Zuhälter auch.«

»So?«

»Durch bargeldintensive Hotels kann man zum Beispiel unauffällig Geld waschen. Wir haben da momentan einen konkreten Verdachtsfall. Doch seit einem guten Jahr finden wir nichts mehr. Bei Durchsuchungen sind Unterlagen über dubiose Abrechnungen und Geschäftsbeziehungen nicht mehr auffindbar. Alles clean, dabei sind wir fast sicher, dass da Drogengeld gewaschen wird. Die sind uns immer einen Schritt voraus. Man könnte fast meinen, wir hätten einen Maulwurf.«

Dominik runzelte die Stirn. »Hast du jemanden in Verdacht?«

Sie winkte ab. »Nein, natürlich nicht. Ich habe tolle Kollegen. Vermutlich gibt es keinen Maulwurf. Wir müssen eben besser werden.«

»Ach, da fällt mir ein, dieses Buch, das du mir geliehen hast und das ich dir seit Wochen zurückgeben will …«

»Anlagetipps für über Fünfzigjährige?«

»Genau das. Ich will es immer ins Präsidium mitnehmen und vergesse es dann. Hast du heute Abend schon was vor? Ich könnte es dir vorbeibringen …«

»Ich wollte etwas für Leander und mich kochen. Ich bin also zu Hause, aber es ist nicht so dringend mit dem Buch.«

»Ich bringe es dir vorbei, dann ist das erledigt. Ich vergesse es sonst. Okay?«

»Na klar, komm vorbei. Ich muss jetzt los.« Sie stand auf.

Wenn sie lächelt, ist sie alles andere als unscheinbar, dachte Dominik. »Bis bald, Ute.« Er hob grüßend die Hand.


Als Nina auf den Parkplatz des Präsidiums fuhr, war es bereits dunkel. In dem Teil des Gebäudes, in dem die Kripo untergebracht war, schien hinter einigen Fenstern Licht. Wie sie vermutet hatte, hielt sich Bent noch in seinem Büro auf. Durch die halb geöffnete Tür konnte sie ihn an seinem Schreibtisch sitzen sehen. Als sie nach kurzem Klopfen eintrat, blickte er mit überraschtem Ausdruck auf. Roman Nolte thronte auf Bents Besucherstuhl und grinste sie herausfordernd an. Bent öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch Nolte kam ihm zuvor: »Du hast Glück, Nina. Miriam ist gerade vom Besuch einer Freundin aus Minden zurückgekehrt. Wir können gleich hinfahren und sie befragen.«

Bents Mund öffnete sich noch etwas mehr.

»Es sei denn, der Chef hat was anderes mit dir vor«, fügte Nolte hinzu.

»Schön …«, begann Bent. »Also Nina … ich bin erstaunt. Bedeutet das …«

»Ich verstärke euch.«

»Ich gebe zu, das freut mich, aber …«

»Bent, der Flieger ist eh schon weg.«

Speziell ihr Bruder war nicht begeistert gewesen, dass sie nicht mitflog. Bines Mutter war zunächst aus allen Wolken gefallen, als Nina plötzlich, drei Stunden vor Abflug, bei ihr auf der Matte gestanden hatte. Man kann den Namen auf dem Ticket noch ändern, die Bearbeitungsgebühr übernehme ich natürlich. Bines Mutter begleitete die beiden nun an ihrer Stelle. Und ihrer Freundin versicherte Nina am Telefon, dass sie nachkommen würde, sobald der Fall gelöst wäre. »Bis dahin ist der Urlaub zu Ende, wetten?« Michaela schnalzte mit der Zunge. »Nina, pass bloß auf, dass du nicht eines Tages im Burn-out landest!«.

»Schön … also, wenn …«, begann Bent.

»Super, eine Frau der schnellen Entscheidungen!« Roman Nolte hob den Daumen. »Und uns fehlt der weibliche Blick.«

Weiblicher Blick? Was für ein Schmu. Leider fiel ihr keine Replik ein. »Ähm … wer war denn noch mal Miriam?«

»Die Schulfreundin des Opfers. Sie wohnt in Sieker wie Charlotte Campmann«, erklärte Bent. »Ihr könnt meinetwegen sofort fahren.«


Eine Gruppe junger Männer lungerte im Eingangsbereich des Hochhauses herum. Nina wunderte sich. Waren Pelzmützen hier groß in Mode? Während sie und Roman sich dem Haus näherten, erkannte sie, dass es sich bei den vermeintlichen Pelzmützen um die üppigen Haarschöpfe oberhalb der abrasierten Stellen handelte. Nicht Pelzmützen, sondern Undercut-Frisuren standen hier hoch im Kurs. Neben Cannabis-Geruch wehten Fetzen einer fremden Sprache zu ihnen herüber. Nina tippte auf Arabisch.

»Charlotte Campmann wohnte gleich nebenan.« Roman deutete auf das benachbarte Hochhaus. Die Jugendlichen starrten sie an. Ob die ahnten, dass sie von der Polizei waren? Oder lag es an dem Cabrio? Roman hatte es sich nicht nehmen lassen, ihr seinen Oldtimer vorzuführen, also waren sie statt mit einem Dienstwagen mit seinem Citroën gefahren. Er schien sie damit beeindrucken zu wollen. Und sie musste zugeben, der Wagen bewies Geschmack, very stylish, diese hellbraunen Ledersitze. Außerdem war Roman Nolte ein mutiger Mann: sein schickes Cabrio mitten in einem sozialen Brennpunkt zu parken …

Nina klingelte, doch die Haustür war nur angelehnt. Sie machte Licht in dem schmucklosen Flur, und sie stiegen die Treppe hoch. Im dritten Stock öffnete ihnen eine pummelige, ganz in Schwarz gekleidete junge Frau die Tür. Sie trug ebenfalls Undercut, nur dass ein Teil der langen, blonden Tolle, die ihr ins Gesicht fiel, leuchtend grün gefärbt war.

»Miriam Breipohl?« Nina zeigte ihren Polizeiausweis.

Die junge Frau nickte, trat zurück, und sie folgten ihr in den Flur. Durch eine halb offene Tür flackerte bläuliches Licht, Stimmen waren zu hören, dann mehrere Schüsse. »Sind Sie Krimifan?«, fragte Nina.

»Nee, ich nicht, meine Mutter.« Miriam führte sie in eine Küche. Sie nahmen am Küchentisch Platz.

»Miriam?« Eine Frau, die Ende vierzig sein mochte und trotz ihres Alters deutlich schlanker als ihre Tochter war, steckte den Kopf durch die Tür. »Sie hatten angerufen, nicht? Miriam, hast du dem Herrn und der Dame von der Polizei nichts angeboten? Möchten Sie etwas trinken? Kaffee oder …?«

»Nein danke«, sagte Roman.

»Vielen Dank, aber … alles gut«, versicherte Nina.

»Schreckliche Geschichte! Charlotte war oft bei uns, früher jedenfalls … Und die arme Marianne! Ich war schon drüben, um ihr mein Beileid auszusprechen. Schlimm, was heutzutage …«

»Vielleicht kann Ihre Tochter uns bei der Suche nach dem Täter weiterhelfen.« Roman lächelte verbindlich, aber es war deutlich, dass er Mutter Breipohl loswerden wollte. »Miriam, war Charlotte eine gute Freundin von dir?«

Miriam spielte mit ihrem Nasenpiercing. »Ja, früher.«

»Charlotte ist nämlich ewig nicht mehr hier gewesen«, erklärte Frau Breipohl. »Die beiden haben schon lange nichts mehr miteinander zu tun.«

Nina überlegte. Wollte Frau Breipohl ihre Tochter aus der Ermittlung raushalten?

Roman fixierte Miriams Mutter. Seine Augen wurden schmal.

Frau Breipohl blinzelte. »Wenn … falls Sie noch Fragen an mich haben, ich bin im Wohnzimmer.« Als keine Antwort folgte, nickte sie ihnen zu und verschwand in den Flur.

»Stimmt das? Dass Charlotte und du nichts mehr miteinander zu tun hattet?«, fragte Nina.

»Es war nicht mehr so wie früher, als wir uns ständig WhatsApps geschrieben haben, oder wir waren zusammen. Ich wusste früher, was abging bei ihr. Die gleiche Scheiße wie bei mir.«

»Und was war das, was da … bei euch abging?«, fragte Roman.

»Für die aus unserer Klasse waren wir nur die beiden aus dem Brennpunktviertel. Die Prolls sozusagen. Wir haben beide keinen Vater, mit dem wir angeben können. Also mein Vater hat ja ein Bauingenieurunternehmen.« Sie äffte einen gezierten Tonfall nach. »Und mein Vater ist Chefarzt und mein Vater … blablabla und dann geht’s im Winter da und da hin zum Snowboarden und im Frühjahr zum Shoppen nach New York … blablabla und von welcher Marke sind eigentlich deine Klamotten, ach, von der habe ich noch gar nichts gehört, sag mal, kaufst du den Schrott etwa bei Kik ein, oder wie?«

»Ihr wurdet ausgegrenzt?«, fragte Nina.

»Bei ihr war’s schlimmer. Ich steh sowieso nicht auf schöne Kleidchen und so was, ist mir zu angepasst. Für mich war immer klar, ich passe da nicht rein. Die haben das von mir gekriegt!« Sie zeigte die Faust mit ausgestrecktem Mittelfinger. »Ich hab mir andere Freunde gesucht, nicht solche, die sich von Mama mit dem Mutti-Panzer in die Schule kutschieren lassen, sondern solche mit politischem Bewusstsein! Aber Charly hatte es echt schwer.«

»Mutti-Panzer?« Nina schmunzelte.

»Na, Sie kennen doch diese Helikopter-Muttis, die am liebsten einen fetten Geländewagen fahren, als wären sie in der Wüste Gobi unterwegs oder was.«

»Hatte Charlotte Feinde in der Klasse?«, fragte Roman.

Miriam straffte sich. Ihre Augen funkelten. »Kann man wohl sagen. Das Oberarschloch Vincent und seine Unterarschlöcher! Die haben sie gemobbt!«

Um Romans Mundwinkel zuckte es. »Hat Vincent auch einen Nachnamen, oder heißt er nur Oberarschloch?«

Miriam zog eine Grimasse. »Oberarschloch reicht bei dem! Die haben ihren Kopf auf die Körper von Pornoqueens montiert und die Bilder im Internet verbreitet. Von wegen, was sie für eine Schlampe wäre. Das ging in der ganzen Schule rum.«

Nina schüttelte den Kopf. »Und wieso? Weil sie Sachen von Kik trug?«

»Quatsch, Charly konnte eigentlich anziehen, was sie wollte, sie sah immer super aus. Vincent, das Obera… Spiekerkötter hat sie angebaggert, und sie? Sie hat es gewagt, ihn abblitzen zu lassen. Ihn, den angesagten König der Klasse, den geilen Supersportler, immer Teil vom neusten heißen Scheiß. Der mit dem allercoolsten Vater überhaupt.«

»Und dieser Alphajunge hat ihr das nicht verziehen?«, fragte Roman.

»Er nicht und seine Clique auch nicht. Und der Rest der Klasse hatte sie auch auf dem Kieker. Die Mädels waren alle neidisch, weil sie so gut aussah, und die Jungs wussten, dass sie bei ihr nicht landen konnten.«

Roman grinste. »Und – warst du nicht auch neidisch, dass sie so gut aussah?«

»Ich …« Miriam wurde rot und strich sich die grüne Haarsträhne aus dem Gesicht, die sofort wieder zurückfiel. »Ich mag Charly sehr, also eigentlich …« Sie knabberte an ihrem Lippenpiercing. »Also Charly ist ja ’ne Heterobraut, aber ich …«

»Du nicht, verstehe«, sagte Nina.

»Charly wollte immer nur dazugehören. Aber nach Silvester war sie lange krank und hatte plötzlich keine Lust mehr auf die Klasse, was ich sehr gut verstehen kann. Sie erzählte mir, sie würde am liebsten die Schule wechseln, aber ihre Mutter fände das nicht gut. Ich glaube, sie hat später neue Leute außerhalb der Klasse gefunden. Wir haben uns dann auch nur noch selten gesehen.«

»Wenn Charlotte dazugehören wollte, wäre dann dieser Vincent nicht der Eintritt dazu gewesen?«, fragte Nina.

»Charly stand nicht so auf Jungs.«

Nina hob fragend die Brauen.

»Auf gleichaltrige, meine ich. Manchmal denke ich, die hat auf ihren Retter gewartet, der sie aus allem rausholt, aus dem hässlichen Hochhaus, aus diesem blöden Viertel, aus unserer Arschgeigen-Klasse. Der Märchenprinz oder so. Eventuell lag es daran, dass sie so superhübsch war.«

Nina beugte sich vor. »Wie meinst du das?«

»Na, dass sie dachte, sie hätte was Besseres verdient. Haben wir wohl alle, aber nicht alle machen sich Illusionen. Sie hat vom tollen Leben fantasiert, ein Leben, in dem sie sich kaufen könnte, was sie wollte, leben, wie sie wollte, schickes Haus, teure Urlaube, ein Supertyp an ihrer Seite, der für sie sorgt. Darum ging es.«

»Gab es denn so einen Mann in ihrem Leben? Älter, womöglich wohlhabend?«, fragte Nina.

Miriam zögerte. Sie knibbelte am Lack ihrer schwarz lackierten, kurzen Fingernägel. »Sie hat mal so was durchblicken lassen, aber sie hat mir nicht verraten, wer das ist. Eventuell hätte sie das, wenn sie zu unserer Verabredung gekommen wäre. Wir hatten uns nach längerer Zeit mal wieder verabredet.«

»Aha? Und für wann hattet ihr euch verabredet?«, fragte Roman.

»Für letzten Samstagabend.«

Nina wechselte einen Blick mit Roman. »Wann hast du Charlotte das letzte Mal gesehen?«

»Am Freitag davor. Wir hatten Englisch bei Frau Schoppe. Charly sagte noch: Bis morgen.« Miriams Augen füllten sich mit Tränen. »Bis morgen … wenn das Vincent war, dann …« Sie ballte die Fäuste.

Roman runzelte die Stirn. »Wieso denkst du das? Hat er ihr gedroht?«

»Ich hab mitbekommen, wie Charly zu ihm sagte, sie wüsste schon, wer diese Fotos ins Netz gestellt hätte, und wenn er sie nicht löschen würde, würde sie zur Polizei gehen.«

Der Wind heulte um die Ecken des Hauses, das schräg gestellte Küchenfenster schlug zu, und kurz darauf prasselten Graupelkörner gegen die Scheibe.

»Und was hat er geantwortet?«, fragte Roman.

»Der Arsch hat sie angegiftet: Hey Schulschlampe, geh ruhig zu den Bullen, aber wenn du das tust, wird’s erst richtig hässlich!«


Dominik hatte Ute Vienenkötter-Lange noch nie zu Hause besucht. Wie sie wohl wohnte? Ob alles wohlgeordnet und in zurückhaltenden Farben gehalten war? Oder lebte sie privat andere Seiten aus? Er bog vom Ostwestfalendamm ab und nahm die Ausfahrt Richtung Bethel, fuhr hinter einem Taxi her, dem einzigen Auto, das zu dieser Zeit auf der sonst so vollen Artur-Ladebeck-Straße zu sehen war. Ute wohnte im Eggeweg, einer langen Straße, die den Hang des Teutoburger Waldes hinaufführte. Wie sich herausstellte, lag ihr Haus weit oben. Er fand eine Parkbucht und stellte den Motor aus. Die Rollläden in dem Haus waren heruntergelassen, kein Licht schimmerte durch die Ritzen. Doch Ute hatte gesagt, dass sie zu Hause sei. Er griff nach dem Buch auf dem Beifahrersitz, das sie ihm geliehen hatte, und wollte gerade aussteigen, als er ein leises Quietschen und Zwitschern hörte.

Er warf einen Blick in den Rückspiegel und entdeckte eine Radfahrerin, die sich den Hang hochquälte. Das Zwitschern kam von einer ungeölten Kette. Im Rückspiegel sah er, dass die Frau zickzack fuhr, vermutlich reichten ihre Gänge nicht aus für diese Steigung. Unvermittelt tauchten zwei Scheinwerfer hinter ihr auf. Ein SUV war um die Ecke gebogen, schoss die Straße hoch, blendete jetzt auf. Die dunkle Silhouette der Radfahrerin bewegte sich Richtung Straßenrand. Der breite SUV konnte dennoch nicht vorbei, denn hier war die Straße eng, an beiden Seiten parkten Autos.

Der Fahrer ließ den Motor aufheulen. Dominik wandte den Kopf. Die Radfahrerin stieg ab und schob ihr Rad zwischen die parkenden Autos. Der SUV raste an ihr und Dominiks Wagen vorbei, bremste scharf, bog in die nächste Einfahrt ab und parkte vor einer Garage. Die Scheinwerfer erloschen. Im Wagen erkannte er Utes Mann Leander Lange, das Gesicht schwach beleuchtet von einem Handydisplay, auf das Lange starrte. Dann schaltete er die Innenbeleuchtung des SUVs ein. Ein Mann in den Dreißigern mit einem kantigen, attraktiven Gesicht und braunem Haar, das er im Nacken länger trug. Ein Mann, mit dem Dominik etwas Unangenehmes verband, obwohl er Lange, der Ute mal vom Präsidium abgeholt hatte, nur vom Sehen kannte.

Wo hatte Dominik ihn früher gesehen, dieses nervöse Zwinkern gepaart mit dem ernsten, fast feindseligen Blick aus schmalen Augen, den Lange jetzt auf die Straße richtete? Dominik schüttelte den Kopf. Er kam einfach nicht drauf. Er hätte aussteigen und Lange das Buch für seine Frau in die Hand drücken können. Stattdessen duckte er sich tiefer in seinen Sitz. Einen Moment später erlosch die Innenbeleuchtung des SUVs.

Wieder ertönte das klägliche Quietschen des Rads. Die Frau fuhr jetzt im Stehen den Berg hoch. Als sie Dominiks Höhe erreichte, verließ Lange den SUV und lehnte sich mit verschränkten Armen an sein Monstrum von Auto. »Was war das denn eben, Madame? Ist das richtig geil, den Verkehr zu behindern?«, rief er.

Das Licht der Straßenlaterne fiel auf das kurze, graue Haar der Radfahrerin, die schnaufend abstieg. »Entschuldigen Sie mal, ich hab Sie doch vorbeigelassen! Obwohl man Ihr Verhalten auch als Nötigung verstehen konnte!«

»Ich glaub’s nicht.« Lange nahm die Arme auseinander und machte einen Schritt Richtung Bürgersteig. »Willst du dich mit mir anlegen, du alte Schachtel? Verpiss dich bloß mit der Möhre da, sonst mach ich dir Beine!« Lange lief jetzt auf sie zu. Dominik legte die Hand wieder auf den Türgriff, um auszusteigen und einzugreifen, als die Radfahrerin rasch ihr Rad wendete und aufstieg, um den Berg, den sie so mühsam hochgeächzt war, wieder hinunterzurollen.

»Hau ab, du blöde Fotze!«, rief Lange ihr so laut nach, dass sie es noch hören musste, und lachte.

Sollte er …? Dominik atmete schneller, doch etwas hielt ihn zurück. Lange schloss noch immer grinsend die Haustür auf und verschwand im Haus. Warum hatte er den Kerl nicht zur Rede gestellt? Hatte Ute so einen Mann verdient? Ute war … sie war etwas Besonderes, gewissenhaft, klug, verletzlich … Doch was wusste er schon von ihr? Wenn man den Gerüchten im Präsidium glauben wollte, dann war Ute bis über beide Ohren verliebt in ihren Ehemann, den sie erst vor einem Jahr geheiratet hatte. Und genau so sollte es doch sein, oder nicht? Dass Dominik ihn unsympathisch fand, spielte keine Rolle. Er legte die Hand auf das Buch Fünfzigplus: die besten Anlagetipps. Das würde er im Auto lassen, um es Ute morgen im Präsidium zu geben.

Wenn sie so verliebt war … hoffentlich kam nicht eines Tages das böse Erwachen …

Aber nein, er würde sich bestimmt nicht ungebeten in ihre Angelegenheiten einmischen. Es sei denn, er hätte etwas gegen Leander Lange in der Hand. Er seufzte. Verdammt, wo hatte er Lange schon einmal gesehen, und was hatte ihn dabei so gestört?

Kalte Liebe

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