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Mittwoch, 23. Oktober 2013
ОглавлениеVorsichtig öffnete Marianne die Tür zum Zimmer ihrer Tochter, so als fürchtete sie, dort etwas zu finden, das sie nicht entdecken wollte. Doch alles schien wie immer zu sein. Auf dem Poster über dem Sofa küsste Robert Pattison weiterhin Kristen Stewart, als wäre nichts geschehen. Ihre Tochter Charlotte hatte die Filme gefühlte hundert Mal gesehen. Twilight … oder Twilight Zone?
Ein nebeliger Morgen dämmerte herauf. Keine Spur mehr vom »goldenen Oktober«. Twilight passte, ein zwielichtiger Übergang in eine andere Welt. Von der alten Welt, in der es Gewissheiten gegeben hatte, in eine neue Welt ohne Halt. Noch hatte Marianne die Grenze nicht passiert, alles war offen – und vielleicht war es besser, noch eine Weile im Zwielicht zu verharren.
Der Teddy auf der Sofalehne trug als Mütze einen schwarzen Stringtanga mit Spitzenbesatz, auf dem Teppich unter dem Sofa lag der passende schwarze BH dazu. Charlotte, die als Kind ihre Puppen und Plüschtiere immer der Größe nach aufgereiht hatte, scherte sich seit einiger Zeit nicht mehr um Dinge wie Ordnung oder Schule.
»Aber sie hat sich doch immer gemeldet. SIE HAT SICH IMMER GEMELDET!« Marianne schlug die Hände vor den Mund, schluckte die aufkommenden Tränen hinunter und ließ sich aufs Sofa sinken. War es nicht so? Charlotte hatte angerufen, wenn es mal später geworden war, es zugelassen, dass Marianne sie abholte.
Oder hatte auch das sich geändert, so wie alles sich verändert hatte? Was wusste sie überhaupt noch über Charlotte? Wann war ihre Tochter ihr entglitten? Das sei normal, sagte ihr Lebensgefährte Eberhard. Das sei normal, sagte auch Mariannes Schwester, die zwei erwachsene Töchter hatte. Ob du es willst oder nicht, deine kleine Lotte kommt jetzt in die Pubertät. Da werden sie erst schwierig, eine Zeit lang, bevor alles wieder ins Lot kommt. Wirklich nur die Pubertät? Ihr ungutes Gefühl, die Sorgen blieben.
Auf dem Fensterbrett stand eine vertrocknete Madagaskar-Palme. Charlotte hatte ihr verboten, ihre Pflanzen zu gießen oder überhaupt ihr Zimmer zu betreten. Privatsphäre, Mama, schon mal gehört das Wort? Marianne hatte die vertrockneten Pflanzen eine nach der anderen entsorgt. Charlotte schien es nicht einmal aufzufallen. Diese war die letzte. Sie stemmte sich aus dem Sofa hoch. Wie eine alte Frau, dachte sie. Nun ja, ich bin eine alte Frau. Ihr Knie tat weh, sie humpelte zum Fenster und nahm den Topf mit der Palme vom Fensterbrett. Draußen herrschte noch immer Nebel. Graue Hochhäuser im grauen Nebel vor grauem Himmel.
Wie war es bloß so weit gekommen?
Ihr einziges Kind. Sie war schon vierundvierzig gewesen, als Charlotte geboren wurde. Ein Wunschkind, auf das sie und ihr Mann nicht mehr zu hoffen gewagt hatten. Ein Jahr später kam er bei einem schweren Autounfall ums Leben. Er war selbstständig gewesen, hatte lange eine Eckkneipe im Bielefelder Osten betrieben und erst wenige Monate vor seinem Tod viel Geld in eine Szene-Kneipe in der Altstadt investiert. Die zu wenig abwarf, wie Marianne wusste, da sie seit fünfzehn Jahren für ihn die Buchhaltung machte. Er hinterließ ihr nichts als Schulden.
Sie verkaufte das Haus in Großdornberg und zog in eine Mietwohnung in Sieker. Als Buchhalterin fand sie keine Stelle, also schulte sie zur Altenpflegerin um – und schleppte ein permanent schlechtes Gewissen mit sich herum, da sie sich wegen ihrer Schichtarbeit viel zu wenig um Charlotte kümmern konnte. Ihr blieb häufig nichts anderes übrig, als Lotte abzuschieben, zur Oma, in die Kita, zu Freundinnen.
Das Geld war knapp: Statt eines Gartens gab es nur noch einen kleinen Balkon in einem Wohnturm. An Reit- oder Ballettstunden für Charlotte hatte Marianne nicht einmal denken können. Sosehr sie es sich auch wünschte, sie konnte ihrer Tochter nichts bieten. Charlotte besuchte immerhin seit einigen Jahren das Gymnasium, aber glücklich schien sie dort nicht zu sein. Lad deine Klassenkameraden doch einfach mal ein, Charlotte. Mama, soll ich die etwa in dieses schäbige Hochhaus mit dem Gerümpel im Hof einladen? Weißt du eigentlich, wie die leben? Die halten mich doch für Asi …
Es klingelte. Das war Eberhard, genannt Hardy. Erst klingelte er pro forma, dann drehte sich der Schlüssel im Schloss.
»Marianne, mein Schatz, wo bist du denn?« Schritte, Türenklappen. »Ach hier?!« Er blieb mitten im Zimmer stehen und schaute sich um.
Marianne lächelte schief. »Ist hier eine Bombe eingeschlagen?«
»Was?« Hardy runzelte die Stirn.
»Das ist es doch, was du denkst.«
»Ach Schatz.« Er ging auf sie zu, nahm ihr den Topf aus der Hand, stellte ihn zurück aufs Fensterbrett und drückte sie. »Als ob das noch wichtig wäre.«
Marianne brach in Tränen aus. »Ihr Handy ist immer noch ausgeschaltet. Heute ist Mittwoch, und seit Freitag ist sie weg!«
Er drückte sie noch etwas fester und wiegte sie leicht hin und her. »Die Polizei …«
»Ach, die Polizei!« Sie machte sich los. »Was tun die denn schon? Eine jugendliche …«, sie deutete Anführungszeichen mit den Fingern an, »›Ausreißerin‹. Ich hätte nicht erwähnen sollen, dass sie sich einmal nicht gemeldet hat, als sie erst am nächsten Tag nach Hause kam. Da ist ihr Handy-Akku leer gewesen, aber der Sesselpupser hat gar nicht zugehört. Für die ist das jetzt der Vorwand, nichts zu tun, dabei ist sie erst fünfzehn. Fünfzehn, Hardy! Und dann diese Fragen: ›Erzählt Ihnen Ihre Tochter alles?‹« Sie äffte den Tonfall des Beamten nach. »Verdammt noch mal, nein, natürlich nicht, aber …«
»Der wollte dich nur beruhigen, Marianne. Und ich bin sicher, die machen alles, um sie zu finden.«
»Na klar. Und warum ist sie dann nicht hier?« Sie machte eine heftige Armbewegung, um das »hier« zu verdeutlichen, und stieß dabei die Palme vom Fensterbrett. Sie starrte auf den zerbrochenen Topf, auf die Blumenerde auf dem Teppich. Das Bild verschwamm.
»Nicht weinen, mein Schatz, wir wissen doch noch gar nichts.« Hardy ging in die Knie, um die Scherben aufzusammeln.
Sicher, sie befanden sich noch immer im Grau des Zwielichts. Aber wie lange wollte sie sich etwas vormachen? Sie schloss die Augen. Mit jedem Tag wurde das Grau ein wenig schwärzer.
»Marianne?«
Sie öffnete die Augen wieder.
Er war aufgestanden und zeigte ihr ein Hundehalsband aus feinem, schwarzem Leder. »Das lag ganz hinten unter dem Sofa. Hat Charlotte sich einen Hund gewünscht?«
Sie hob die Brauen. »Das hat sie nie erwähnt. Außerdem weiß sie, dass Hunde hier nicht erlaubt sind.«
Als hätte Kitty das gehört, tappte sie ins Zimmer und strich schnurrend um Mariannes Beine. Geistesabwesend kraulte sie der Katze das Nackenfell.
Hardy untersuchte das Band. »Schau mal, da sind Initialen drauf, aber nicht ihre.«
An einer Seite des Bandes waren zwei goldene, ineinander verschlungene Buchstaben angebracht. »Kennst du jemanden, zu dem diese Initialen gehören?«
Marianne überlegte. »Nein, aber ich weiß auch nicht mehr, mit wem sich Lotte trifft. Sag mal, ist das etwa echtes Gold? Das sieht nicht aus wie Messing.«
Er schürzte die Lippen. »Ziemlich edel für ein Hundehalsband. Ist das überhaupt … für einen Hund gedacht?«
»Was meinst du, Hardy? Wofür denn sonst?«
Anstelle einer Antwort nahm er sie in den Arm.