Читать книгу Der Feind mit deinem Gesicht - Heike Strulik - Страница 3
Kapitel 1
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„Hey, du Idiot......halt gefälligst an .....!“ Sarah schrie dem Autofahrer die Worte regelrecht hinterher. Noch im Loslaufen ließ sie ihre Einkaufstasche auf den Bürgersteig fallen. Ein paar Schritte noch dann war sie bei dem wimmernden Etwas, das da auf der Straße lag, angekommen. Noch einmal blickte sie im Laufen in die Richtung in die das Fahrzeug verschwunden war. Einfach weitergefahren, nachdem der Fahrer diesen kleinen Hund angefahren hatte. Sarah fluchte lauthals aber ihre Stimme wurde bedeutend ruhiger und freundlicher als sie sich dem kleinen Mischling näherte. Sie hatte ihn in der letzten Zeit des Öfteren in der Gegend alleine herum streunen sehen. Anscheinend hatte er keine Besitzer, denn er trug auch kein Halsband. „Wahrscheinlich hat dich sogar jemand ausgesetzt, du Armer“, murmelte Sarah leise vor sich hin als sie sich zu ihm hinunterbeugte. Sie schaute nach allen Seiten, konnte aber niemanden entdecken, der die Szene, so wie sie, beobachtet hatte oder ihr helfen könnte. Und der Mistkerl der den armen Hund angefahren hatte war schon längst über alle Berge. Im Nachhinein ärgerte sie sich, dass sie sich dessen Kennzeichen nicht gemerkt hatte. Sanft strich sie dem Kleinen über sein struppiges Fell. Er musste schon eine ganze Weile alleine in der Gegend herumirren, denn er wirkte ungepflegt und sie konnte fühlen und sehen, dass sein Fell total verzottelt und verknotet war. Es war auch nicht allzu viel dran an dem armen Kerl. Obwohl sie keinen Druck ausübte konnte sie seine Knochen durch das Fell spüren. Sie zog ihre warme Daunenjacke aus und legte sie auf den Boden. Dann hob sie so vorsichtig wie es ging den Hund an und legte ihn darauf. Die ganze Zeit über starrte er sie hilfesuchend aus seinen großen braunen Augen an und wimmerte dabei. Es zerriss ihr beinahe das Herz. Sacht hob sie die Jacke mit dem Hund darin auf während sie selbst aufstand. Kurz bevor sie diese furchtbare Szene mit ansehen musste war sie mit ihrem kleinen Auto angekommen. Sie hatte Lebensmittel eingekauft und der Inhalt ihrer Tragetasche verteilte sich jetzt auf dem Gehweg vor ihrer Haustür. Mit dem Hund im Arm lief sie auf ihr Fahrzeug zu und schloss die Beifahrertür auf. Dort legte sie die Jacke mit dem Hund auf den Sitz. Dann schnappte sie ihre auf dem Gehweg liegende Tüte und schmiss die Sachen die darum herumlagen oberflächlich hinein. Nachdem sie die Tasche eilig in ihren Kofferraum gelegt hatte setzte sie sich auf den Fahrersitz und startete den Motor. „Tierarzt .... “, sprach sie leise mit sich selbst. „Wo finde ich jetzt einen Tierarzt?“ Sie sah auf den kleinen wimmernden Kerl neben sich hinunter. Da fiel ihr ein, dass sie als kleines Kind einen Goldhamster hatte. Sie konnte sich vage daran erinnern wo die Tierarztpraxis damals gewesen war. Bisher hatte sie die Erinnerung daran immer verdrängt, denn es war keine Gute. Gemeinsam mit ihrer Mutter und dem Goldhamster in einem Körbchen war sie dort hinein- und mit einem leeren Körbchen wieder hinausgegangen. Nun konnte sie nur hoffen, dass die Praxis dort immer noch war. Kaum konnte sie sich noch an den Tierarzt erinnern, aber sie erinnerte sich, dass er damals im mittleren Alter gewesen war. Mit ein bisschen Glück praktizierte er noch dort. Sie schlug die Richtung ein und fand tatsächlich nach ein paar Minuten das Gebäude etwas außerhalb der Stadtmitte. Auch ein Parkplatz fand sich in unmittelbarer Nähe und sie hatte mit wenigen Schritten die Eingangstüre des Hauses erreicht. Was sie kaum zu hoffen gewagt hatte bewahrheitete sich tatsächlich. Neben der Eingangstüre prangte ein großes weißes Schild mit der Aufschrift Dr. vet. Lorenz, Facharzt für Tiermedizin. „Gott sei Dank...“, murmelte sie leise vor sich hin. Mit dem Hund auf dem Arm öffnete sie die Tür zur Praxis, die glücklicherweise nicht verschlossen war.
Doch der Empfangsbereich schien verwaist. „Hallo?,“ rief sie in den Warteraum hinein. „Ist da noch jemand?“ Ihre blonden Locken flogen nach allen Seiten während sie ihren Kopf suchend in alle Richtungen drehte, um festzustellen ob sie alleine war mit dem zitternden Hund in ihrem Arm. Aber die Tür war schließlich nicht abgeschlossen gewesen. Also musste doch irgendjemand da sein. Gerade als sie nach draußen gehen wollte um nach eventuellen Sprechzeiten auf dem Schild zu sehen hörte sie plötzlich eine tiefe Männerstimme hinter sich, die ihr sofort eine Gänsehaut verursachte. Wow. So hatte ihr Körper noch nie auf den Klang einer Stimme reagiert. Langsam, damit sie dem Hund keine unnötigen Schmerzen zufügte, drehte sie sich zu der Richtung aus der die Stimme gekommen war, herum. Der Mann zu dem sie gehörte stand im Halbschatten des abgedunkelten Nebenzimmers und kam etwas näher. „Hallo .... es scheint mir so als ob meine Sprechstundenhilfe vergessen hat abzuschließen als sie Feierabend gemacht hat. Eigentlich haben wir schon geschlossen.“ Diese Stimme. Dieser Mann hätte Opernsänger werden sollen, ging es Sarah durch den Kopf. Obwohl das eigentlich nicht gerade die Musik war die sie für gewöhnlich hörte so gab es durchaus das ein oder andere bekannte Lied aus diesem Genre, dass ihr mit ihren dreiunddreißig Jahren gefiel und, dass sie sich gelegentlich anhörte. Aber das war momentan unwichtig. „Unser Glück, dass die Tür noch offen war“, entgegnete sie daher nur. „Ich habe hier einen Notfall.“ Hilfesuchend streckte sie ihm die Jacke mit dem Hund darauf entgegen. Er trat völlig aus dem Schatten heraus und Tina blieb fast die Luft weg. Eindeutig war dies nicht der Arzt der hier während ihrer Kindheit praktiziert hatte. Wenn ihr vorhin die Stimme schon eine Gänsehaut verursacht hatte, dann hätte sie sein Aussehen in einer anderen Situation vermutlich regelrecht umgehauen. Sie schätzte ihn auf Anfang vierzig. Er war groß, schlank aber nicht zu dünn, hatte pechschwarze Haare und die dunkelsten Augen die sie je gesehen hatte. Sie schalt sich selbst eine dumme Gans. Benahm sich hier wie ein Teenager während der süße kleine Kerl auf ihrem Arm vermutlich furchtbare Schmerzen haben musste. Er kam näher und blickte auf den Hund in ihrem Arm. Ohne viele Worte nahm er ihn ihr ab und ging in das Zimmer aus dem er noch eben gekommen war zurück. „Was ist passiert?“, fragte er mit einem Blick zurück in ihre Richtung während er den Lichtschalter betätigte. Sofort wurde der Raum von einem hellen Licht durchflutet. Sie folgte ihm und antwortete. „Der Hund gehört mir gar nicht. Ich bin nur zufällig dazu gekommen wie irgend so ein Vollidiot ihn angefahren hat und danach einfach weiter gerast ist.“ Alexander Lorenz schmunzelte. Die Frau schien ziemlich temperamentvoll zu sein. Zudem sah sie noch sehr gut aus. Das war ihm sofort aufgefallen obwohl seine Aufmerksamkeit eigentlich voll und ganz dem kleinen Patienten gegolten hatte, kam er nicht umhin das zu bemerken.
Er legte ihn vorsichtig auf den Behandlungstisch. Erst jetzt wurde ihm bewusst, dass die Frau mit Sicherheit ziemlich frieren musste. Sicher, hier in der Praxis war es warm. Aber draußen herrschten beinahe Minusgrade und sie hatte ihre Jacke als Decke für den kleinen Hund benutzt. Er reichte ihr die Jacke mit den Worten „Hier, ich glaube das ist ihre. Ich denke, dass sie nicht verschmutzt ist. So wie es aussieht blutet der Kleine nicht.“ Er kam ihr furchtbar arrogant vor, so wie er auf sie herab sah. Er verzog keine Miene und schien sie mittlerweile schon beinahe zu ignorieren als er sich auf seine Arbeit konzentrierte. „Das wäre mir auch egal...“, antwortete sie daher nur trotzig. Sie konnte nicht ahnen wie sehr ihn, trotz seiner Ernsthaftigkeit gegenüber seiner Arbeit, ihr Verhalten amüsierte. Aber er hatte sich geschworen allen schönen Frauen dieser Welt mit Abstand zu begegnen. Nie mehr würde er eine Frau an sich herankommen lassen. Das hatte er einmal getan und es bitter bereut. Also konzentrierte er sich auf seinen Patienten und redete kaum ein Wort mit ihr. Er zog sich eine Brille aus der Tasche seines Pullovers und setzte sie auf. Das tat seiner Attraktivität nicht den geringsten Abbruch. Ganz im Gegenteil. Das schwarze Gestell passte hervorragend zu seinem Typ und unterstrich noch seine markanten Gesichtszüge. Ihr fiel sofort auf wie sehr sich sein Benehmen veränderte als er sich voll und ganz dem Hund zuwandte. Sanft sprach er mit seiner tiefen, schönen Stimme auf den Kleinen ein. Und der schien sich tatsächlich alleine daraufhin zu beruhigen. Still ließ er die sanfte Untersuchung des Tierarztes über sich ergehen. Der tastete jedes Körperteil des Hundes ab und bewegte vorsichtig jedes der Beinchen vor und zurück. Irgendwann sprach er doch Sarah an, die mehr oder weniger geduldig daneben stand und erstaunt zusah wie die Wesensveränderung in diesem Mann vor sich ging. Obwohl es nicht ihr Hund war, hoffte sie doch, dass er durchkam und keine größeren Verletzungen hatte. Zur Not würde sie sogar die Kosten hierfür übernehmen. Auch wenn es sie eigentlich nichts anging, und ihr Geldbeutel das vielleicht nicht unbedingt zulassen würde. „So wie es aussieht hat er sich nichts gebrochen. Aber ich möchte das zur Sicherheit noch röntgen.“ Sarah nickte nur bejahend mit dem Kopf. „Ich denke, dass ich ihn über Nacht zur Beobachtung hier lassen werde. Ich wohne direkt über der Praxis…“, erklärte er, der immer noch sprachlosen, Sarah. Der Blick ihrer großen braunen Augen wechselte besorgt von ihm zu dem Hund auf dem Behandlungstisch. Er musste sich zwingen wegzusehen und sich wieder dem Tier zuzuwenden. „Warten sie bitte hier oder im Wartezimmer wenn sie möchten. Ich nehme ihn mit zum Röntgenraum.“ Sagte er zu ihr ohne sie eines weiteren Blickes zu würdigen. Diese arrogante Art von ihm. Verdammt noch mal. Warum regte sie sich nur so sehr darüber auf? Eigentlich sollte es ihr doch egal sein wie er sie behandelte, solange er sich nur gut um das kleine Fellknäuel kümmerte. Stolz und mit hoch erhobenem Kopf lief sie die paar Schritte hinter ihm her und sank dann doch erschöpft auf einen der Stühle im Wartezimmer. Erst jetzt fiel ihr auf, dass sie eigentlich sehr hungrig war. Ihr Magen begann zu knurren. Sie hatte den ganzen Tag über durchgearbeitet und keine Zeit zum Essen gehabt. Deswegen wollte sie sich sofort nach dem Einkaufen ihr Abendessen richten und es sich damit vor dem Fernsehgerät gemütlich machen. Aber der Schreck mit dem Unfall des kleinen Mischlings war ihr dazwischen gekommen. Jetzt saß sie hier und wartete, mehr oder weniger geduldig, auf das Ergebnis der Röntgenuntersuchung. Eigentlich hätte sie sich schon längst auf den Weg nach Hause machen können. Schließlich handelte es sich nicht um ihr Haustier und dieser Lorenz hatte ihr ohnehin zu verstehen gegeben, dass er den Hund über Nacht hierbehalten wollte. Was machte sie also noch hier? Aber sie hätte es nicht übers Herz gebracht so einfach zu verschwinden. Natürlich wollte sie wissen wie es jetzt mit diesem braun gefleckten Schnauzer-Mischling weiterging und wie schwer seine Verletzungen waren. So in Gedanken versunken erschrak sie beinahe als die Tür zum Röntgenraum sich öffnete und der Arzt ohne den Hund wieder herauskam. „Wie ich es mir gedacht hatte. Er hat nichts gebrochen. Ich denke er hat viel Glück gehabt und der Schreck war größer als alles andere. Trotzdem möchte ich ihn mit zu mir nach oben nehmen. Ich habe ihm ein leichtes Schmerzmittel gespritzt und nun schläft er friedlich.“ Sarah nickte wieder nur mit dem Kopf. Sie war müde und kaputt vom langen Stehen in der Arbeit. Aber sie war auch froh, dass es dem kleinen Kerl relativ gut zu gehen schien. „Wissen sie schon was ihre Behandlung kostet?“, fragte sie ihn stattdessen nur. „Machen sie sich darüber mal keine Sorgen. Sie sagten ja... der Hund gehört ihnen nicht. Er ist auch nicht gechipt oder tätowiert. Also kann man auf Anhieb keinen Besitzer ausfindig machen. Ich werde im Tierheim nachfragen lassen ob ein Hund vermisst wird. Aber so ungepflegt wie er aussieht, hat er wohl schon lange kein schönes Zuhause mehr gehabt.“ „Das ist mir auch sofort aufgefallen. Ich möchte auf jeden Fall wissen wie es mit ihm weitergeht. Ich lasse ihnen meine Telefonnummer hier. Würden sie mich bitte anrufen wenn sie etwas herausfinden!?“ Dies war mehr ein Befehl als eine Bitte von ihr gewesen. Er musste nun doch lächeln und Sarah war entgegen ihrer Natur total sprachlos. Dieser Mann war wirklich umwerfend wenn er lächelte. Nur zu schade, dass er dies scheinbar nicht allzu oft tat. Sie reichte ihm eine Karte die sie aus der Seitentasche ihrer Jacke zog. „Hier. Meine Nummer. Bitte vergessen sie nicht mir Bescheid zu geben.“ Er nahm die Karte und reichte ihr die Hand zum Abschied. Als Tina sie nahm sprang plötzlich ein kleiner statischer Funke zwischen ihnen. Erschrocken zog sie ihre Hand zurück. „Huch .... ich bin wohl heute etwas aufgeladen.“, war alles was sie dazu sagen konnte. Sie merkte wie ihr die Farbe ins Gesicht schoss, als er ihr so direkt in die Augen blickte. „Das scheint der neue Teppichboden zu sein“, bemerkte er nur trocken. Sarah zog ihre Jacke an und machte sich auf den Weg zur Eingangstür. Ihre blonden langen Locken wippten bei jedem ihrer Schritte. Mit dem Türgriff in der Hand drehte sie sich noch einmal zu ihm um. „Nicht vergessen.....rufen sie mich an.“ Und schon war sie aus der Praxis verschwunden.
Alexander blieb noch eine ganze Weile auf dem Fleck stehen und starrte auf die Tür. Als ob er erwartete, dass sie im nächsten Moment aufgehen und diese verblüffende Frau zurückkommen würde. Mit einem Kopfschütteln erwachte er aus dieser Starre und schaute auf die Karte die er noch immer in der Hand hielt. Sarah Ludwig stand da in großen, schön geschwungenen Buchstaben auf einer cremeweißen Visitenkarte. Darunter zwei Telefonnummern und ihre Adresse. Er kannte die Gegend nicht. Erst vor kurzem war er hierhergezogen und hatte die Praxis von seinem Vorgänger übernommen, der ihn Pension gegangen war. Er war aus der Nähe von München hierhergezogen um alles hinter sich zu lassen. Die Vergangenheit holte ihn allerdings immer wieder ein. Dies war mittlerweile schon sein dritter Umzug innerhalb der letzten paar Jahre gewesen und er hatte das Gefühl er wurde von seinem Unglück regelrecht verfolgt, würde nirgendwo die ersehnte Ruhe finden. Aber vielleicht hatte er ja dieses Mal Glück. Es gefiel ihm sehr gut in dieser kleinen Ortschaft im Südwesten Deutschlands. Nachdem er im Internet die Anzeige gelesen hatte, dass eine Tierarzt-Praxis aus Altersgründen einen Nachfolger sucht, war das wie ein Wink des Schicksals gewesen. Das war vor circa einem halben Jahr gewesen. Schnell war man sich einig geworden und Alexander hatte die Praxis von Dr. Schubert übernommen. Glücklicherweise hatte der auch gleichzeitig mit der Praxis seine darüber liegende Wohnung zu verkaufen. Er selbst wollte sich auf seinen Ruhesitz begeben. Ein Ferienhäuschen im nahegelegenen Elsass. So hatte Alexander Lorenz zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen können und Wohnung und Praxis in einem gefunden.
Er machte sich auf den Weg zurück in den Behandlungsraum in dem er den kleinen Findling gelassen hatte. Friedlich lag der in dem kleinen Hundekorb in den er ihn hineingelegt hatte. Man sah ihm an, dass er dringend aufgepäppelt werden musste. Alexander gab ihm noch eine Vitaminspritze. Doch davon bekam der Hund so gut wie nichts mit. Erschöpft schlief er weiter und reagierte auf den kleinen Piecks nur mit einem kurzen, Geräusch.
Die Eingangstür war immer noch nicht verschlossen. Deswegen machte sich der Tierarzt auf den Weg dorthin. Kurz schaute er hinaus und blickte sich um. Von Sarah Ludwig war natürlich nichts mehr zu sehen. Wieder schüttelte er den Kopf über sich selbst. Er hatte sich doch selbst geschworen sich nicht mehr von einer Frau derart beeindrucken zu lassen. Warum also sah er sich hier nach ihr um? Hoffte er etwa sie hier noch irgendwo zu erblicken? Wahrscheinlich würde er sie ohnehin nie mehr zu Gesicht bekommen, und eigentlich war das auch ganz gut so. Warum also war er so enttäuscht darüber? Sie hatte den Hund hier nur aus reiner Gutmütigkeit hergebracht. Sicher. Sie hatte ihn gebeten, dass er sie anrufen sollte. Er lächelte bei dem Gedanken daran wie sie das getan hatte und zog die Visitenkarte aus seiner Hosentasche, um noch einmal darauf zu schauen. Dann steckte er sie eilig weg, zog den Schlüssel hervor und steckte ihn in das Schloss der Eingangstür um abzuschließen. Pia-Maria Kastner, seine Praxisgehilfin hätte das eigentlich tun sollen. Morgen musste er ein ernstes Wörtchen mit ihr reden dachte er und musste dabei über sich selbst lächeln. Denn das würde er doch nicht übers Herz bringen. Sie war schon gut in die Jahre gekommen und eigentlich hätte sie es schon längst verdient ihre Rente zu genießen. Aber erstens wollte sie nicht ganz zum alten Eisen gehören und hatte Angst alleine zu Hause zu versauern wenn sie nicht mehr arbeiten ging, und zweitens, wenn sie das auch nicht so offen aussprach, hatte Alexander die Vermutung, dass ihre Rente ziemlich schmal ausfiel und sie damit wohl kaum über die Runden zu kommen schien. Also verbrachte sie ein paar Stunden die Woche noch in der Praxis in der sie schon bei Dr. Schubert viele Jahre gearbeitet hatte. Alexander hatte sie samt Praxis mitübernommen. Die gute Seele des Hauses sozusagen. Er hatte sie sofort ins Herz geschlossen. Sie hatte so etwas Mütterliches an sich und er hatte nie das Gefühl ihr Chef zu sein sondern ganz im Gegenteil kam er sich in ihrer Gegenwart oft vor wie ein Junge der bei ihr gelegentlich einen Ratschlag einholte. Nur das mit dem Praxis abschließen, das klappte ganz offensichtlich nicht mehr ganz so gut. Sie hatte es wohl vergessen und er würde es sich ganz einfach zur Gewohnheit machen müssen die Tür zu kontrollieren wenn sie gegangen war, ohne darüber viele Worte zu verlieren.
Er ging zurück zu seinem letzten Patienten des heutigen Tages und schaute auf ihn herab. Er war wirklich ein süßer kleiner Mischling und tat ihm furchtbar leid. Was wenn sich kein Eigentümer für ihn fand? Vielleicht hatte er ja Glück und es würde sich ein alter, oder neuer Besitzer für das struppige Fellknäuel finden. Fürs Erste hob er den Korb und trug ihn mit zu sich nach oben in seine privaten Räume. Alexander hatte es sich hier oben gemütlich eingerichtet. Sein eigenes Reich, in das bisher niemand eingedrungen war. Praktischerweise gab es eine Treppe die direkt von der Praxis in seine Privatwohnung führte. Nur eine Zwischentür verhinderte, dass ungebetene Gäste sich hier Zutritt verschaffen konnten. Hoffentlich hatte er hier nun endlich seine Ruhe vor den Schatten der Vergangenheit. Er war es leid ständig davor zu fliehen und wollte nun endlich sesshaft werden. Und hier würde es ihm ganz bestimmt gelingen. Das hatte er fest vor. Er stellte den Korb mit seinem lebendigen Inhalt im Wohnzimmer ab und ging in die Küche um sich eine Kleinigkeit zu essen zu machen. Viel Hunger hatte er nicht also begnügte er sich mit einem Sandwich und einem Glas Wein zum Abendessen. Früher hatte er gerne gelegentlich etwas gekocht. Aber für sich alleine zu kochen machte ihm keinen Spaß. Also aß er ab und zu auswärts und ansonsten machte er sich nur kalte Snacks. So wie heute. Pia-Maria schimpfte ihn deswegen gespielt des Öfteren mit erhobenem Finger. Dabei lächelte sie und zog meist einen kleinen Topf oder eine Schüssel aus ihrer alten Stofftasche hervor die sie stets mit sich trug. Sie nannte es ihre „Reste“ von zu Hause. Doch Alexander hatte den dringenden Verdacht, dass sie absichtlich zu große Mengen kochte um ihn zu füttern. So war sie eben. Eine gute Seele.
Außer ihr arbeitete noch eine junge Frau als Sprechstundenhilfe seiner Praxis. Diana Meyer. Sie hatte erst vor einem Jahr ihre Lehrzeit bei seinem Vorgänger beendet und da sie gute Arbeit geleistet hatte wurde sie danach als Vollzeitkraft übernommen. Auch Alexander war mit ihr sehr zufrieden. Für eine Frau ihres Alters war sie ausgesprochen ernsthaft und hatte für ihre Arbeit die nötige Disziplin. Viele andere junge Frauen ihres Alters waren noch mit anderen Dingen beschäftigt. Disco, Partys feiern und Männer kennenlernen. Aber Diana hatte das wohl alles schon hinter sich oder sie sprach nicht allzu viel darüber. Alexander wusste lediglich, dass sie in einer festen Beziehung mit einem Studenten lebte und mit ihm eine Wohnung teilte. Möglicherweise war Pia-Maria da besser informiert. Aber das war Alexander ganz recht so. Er hatte seine eigenen Sorgen und wüsste nicht mit wem er darüber reden könnte oder wollte. Pia-Maria hätte mit Sicherheit auch ein offenes Ohr für seine Probleme. Doch die schienen ihm viel zu persönlich um sie einer, eigentlich doch fremden, Person anzuvertrauen. Es war besser wenn niemand hier von seiner Vergangenheit wusste und so sollte es auch bleiben.
So in Gedanken versunken richtete er sich zwei Sandwiches in der Küche, während sein kleiner Patient friedlich vor dem Ofen in seinem Wohnzimmer vor sich hin schlummerte. Ab und zu konnte er ein kleines Wimmern aus seiner Richtung vernehmen. Offensichtlich träumte der Kleine. Wenn er aufwachen würde hätte er sicher ziemlichen Hunger. Da war er sich sicher. Glücklicherweise hatte er ein paar Proben Hunde- und Katzenfutter von einem Tiernahrungshersteller im Haus. Er ging noch einmal kurz nach unten in die Praxis und holte sich ein paar Dosen davon in die Wohnung. Oben angekommen nahm er sich den Teller mit seinem Abendbrot und machte es sich auf der großen Wohnlandschaft gemütlich. Er zog sich die Schuhe aus und legte seine Füße auf den Tisch. Während er mit der einen Hand seinen Teller auf dem Schoß balancierte schaltete er mit der Fernbedienung in der anderen das Fernsehgerät ein und zappte sich durch die Kanäle. Bei einem Nachrichtensender angekommen legte er die Bedienung aus der Hand und widmete sich ganz seinem mageren Essen. Immer wieder sah er dabei nach dem Hund in seinem Körbchen. Noch schlief er friedlich, aber mit Sicherheit würde der Hunger den kleinen Kerl bald wecken. So abgemagert hatte er schon lange kein Tier mehr gesehen. Er fragte sich was ihm wohl zugestoßen sein mochte. Nach allen möglichen politischen Themen berichtete der Nachrichtensprecher mittlerweile über einen Großbrand in der Nähe von Hamburg. Als ein Filmbericht dazu zu sehen war schaltete Alexander schnell in einen anderen Kanal. Seit damals konnte er sich solche Bilder nicht mehr ansehen. Er legte seinen Teller zur Seite und starrte in das Feuer, welches in seinem Schweden-Ofen allmählich immer kleiner wurde, bis nur noch die rote Glut übrig war. Er stand auf und streichelte im Vorbeigehen dem Hund über sein Köpfchen. Dann nahm er zwei große Holzscheite aus dem Korb neben dem Ofen und legte sie auf die Glut. Ein Wunder, dass er dazu überhaupt fähig war. Sofort begannen sich kleine Feuerzungen unter dem Holz zu bilden und man konnte beobachten wie schnell das Feuer von dem neuen Holz Besitz ergriff. Schnell entstand eine wohlige Wärme die durch das Glasfenster des Ofens hindurch drang. Faszinierend und angsteinflößend zugleich, empfand Alexander jedes Mal dieses Schauspiel. Wie hypnotisiert starrte er auf das immer mächtiger werdende Feuer als ihn ein Laut von der Seite aus seiner Starre auf schrecken lies. Der Hund war, wie er es sich gedacht hatte, aufgewacht und blickte ihn nun erwartungsvoll aus großen braunen Augen an. Er schien kein bisschen Angst zu haben. Schließlich war er hier in einer fremden Umgebung. Aber das schien ihn nicht zu stören. Ganz offensichtlich fühlte er sich wohl „Na mein Kleiner. Du hast doch bestimmt mächtig Hunger..... so wie du aussiehst!“ Alexander stand auf und ging in die Küche. Dort nahm er eine alte Schüssel aus dem Schrank. Die hatte er eigentlich schon längst fortwerfen wollen. Aber irgendwie war sie doch jedes Mal wieder in der Spülmaschine gelandet und kam zurück in den Schrank. Nächstes Mal fliegst du in den Müll hatte Alexander sich immer wieder dabei gedacht und es doch gelassen. Nun erfüllte das gute alte Stück wenigstens noch einen Sinn. Er öffnete eine der Futterdosen und füllte einen Teil des erstaunlich gut riechenden Hundefutters hinein. Danach nahm er die Schüssel mit in das Wohnzimmer und ging damit zum Hundekörbchen. Der Kleine war zu schwach um aufzustehen, also hob er ihm die Schüssel vor die Nase und sprach auf ihn ein. Der schnupperte kurz und sein kleines Schwänzchen begann sich leicht hin- und her zu bewegen. Erst zaghaft, dann immer schneller schlang der Hund das Futter in sich hinein und in Kürze war die Schüssel leer. „Das war´s fürs Erste. Zuviel auf einmal tut deinem kleinen Bäuchlein nicht gut.“ Alexander ging zurück in die Küche, säuberte die Schüssel und tat etwas frisches Wasser hinein. Damit ging er zurück und lies den Hund trinken. Einen dankbaren Hundeblick und einen kurzen Seufzer später kugelte der Hund sich zusammen und schlief auch schon wieder ein. Mit einem Lächeln sah Alexander auf ihn herunter und fragte sich wie der Kleine wohl heißen mochte. Allerdings war es sehr unwahrscheinlich das jemals herauszufinden. „Wir müssen dir wohl einen neuen Namen geben“, sagte er mehr zu sich selbst während er sich zu ihm beugte und dem schlafenden Etwas das struppige Fell streichelte. „Und ein Bad hast du auch dringend nötig.“
Alexander ließ sich erneut auf der Couch nieder, zappte noch ein bisschen durch die Kanäle und als er bemerkte, dass ihm ständig die Augen zufielen begab er sich in das Badezimmer um sich zu duschen und für das Bett zu richten. Eine Mütze Schlaf würde ihm sicherlich guttun. In der letzten Zeit war er ständig müde und lustlos. Während der Arbeit verging die Zeit wie im Flug. Doch abends saß er stets alleine in seiner Wohnung und grübelte. Er hatte hier noch keine Freunde gefunden. Wollte er das überhaupt? Diese Frage konnte er sich wohl nicht einmal selbst beantworten. Andererseits war es ziemlich langweilig jeden Abend alleine zu Hause zu verbringen. Von den Wochenenden ganz zu schweigen. Und immer wieder jede Menge Zeit zum Grübeln. Jedenfalls war Alexander nicht der Typ der so einfach Freundschaften schloss. Wo sollte er in dieser, ihm immer noch fremden, Stadt Leute kennen lernen? In Kneipen ging er so gut wie nie. Vielleicht sollte er sich bei einem Fitness-Club anmelden. Diesen Gedanken hatte er schon des Öfteren gehabt. Dort konnte man eventuell jemanden kennen lernen. Aber wären das dann auch die Menschen mit denen er sich gerne umgeben würde. Insgeheim hatte er das ein oder andere Vorurteil.
So in Gedanken versunken legte er sich, nachdem er noch einmal nach seinem „Hausgast“ gesehen hatte, in das Bett und versuchte zu schlafen. Obwohl er noch kurz zuvor kaum die Augen offenhalten konnte, so fiel ihm das nun in der Einsamkeit seines großen Bettes sehr schwer. Also knipste er das Licht der Nachttischlampe an und nahm seine Lesebrille und ein Buch um darin zu lesen. Doch irgendwann ertappte er sich dabei, dass er den gleichen Satz immer und immer wieder las ohne seinen Sinn zu verstehen. Das lag ganz einfach daran, dass seine Gedanken immer wieder abschweiften und ihm ständig das Bild eines lebhaften, blonden Lockenschopfes vor Augen erschien. Er senkte das Buch und zog die Brille ab. Lesen hatte keinen Wert, das sah er ein. Warum nur hatte ihn diese Frau heute so beeindruckt? Er hatte in den letzten Jahren doch ständig interessante und schöne Frauen kennengelernt. Allerdings hatte keine von ihnen auch nur annähernd die Wirkung auf ihn ausgeübt wie diese Sarah Ludwig. Dabei hatten sie doch kaum mehr als zwei-drei Sätze gewechselt. Aber ihre ganze Art, selbstbewusst, gleichzeitig schmollend und leicht trotzig wie ein kleines Kind, wie sie sprach und ihre Gestik, das alles hatte auf ihn gewirkt wie schon lange keine Frau mehr. Von ihrem Aussehen ganz zu schweigen. Einerseits hatte man ihr angesehen, dass sie erschöpft und ausgefroren gewesen war. Und trotzdem hatte sie eine natürliche Schönheit ausgestrahlt die vielen anderen Frauen fehlte. Und da war auch noch ihre Sorge um das kleine Wesen, dass sie kurzfristig in ihre Obhut genommen hatte. Sie war genau der Typ Frau bei dem Alexander Angst hatte doch noch einmal schwach zu werden. Obwohl sie sich so selbstbewusst gegeben hatte, hatte sie in ihm das Bedürfnis wachgerufen sie in den Arm zu nehmen, sie zu wärmen und zu beschützen. Wovor auch immer. Das alles war ihm in den wenigen Minuten durch den Kopf gegangen, die er mit ihr verbracht hatte. Wahrscheinlich würde er sie nie mehr wiedersehen und er wusste nicht ob er darüber enttäuscht sein sollte oder ob es nicht einfach so ganz gut war. Gedankenverloren schüttelte er den Kopf und legte Buch und Brille beiseite bevor er das Licht löschte. Nach einiger Zeit fand er sogar den erlösenden Schlaf. Allerdings spukte ihm im Traum immer noch ein blonder Lockenschopf durch die nächtlichen Gedanken.
Sarah verließ die Praxis und blieb kurz auf dem Treppenabsatz stehen, nachdem sie die Tür hinter sich zugezogen hatte. Sie nahm einen tiefen Atemzug und bemerkte erst jetzt, dass sie sich in seiner Gegenwart kaum getraut hatte Luft zu holen. Dieser Mann war im wahrsten Sinne des Wortes atemberaubend. Auch wenn er zunächst arrogant gewirkt hatte, so sah man ihm bei der Arbeit doch an, dass er ein gutes Wesen besaß. Wie liebevoll er mit dem kleinen Streuner umgegangen war. Sie hatte sich bei dem Gedanken daran ertappt wie gerne sie an dessen Stelle auf dem Praxistisch gelegen hätte. Auf einmal kam ihr dieser Gedanke daran so lachhaft vor, dass sie tatsächlich kurz laut auflachen musste als sie die paar Schritte zu ihrem Fahrzeug ging. Sie startete den Motor und machte sich auf den Weg zurück nach Hause. Was für ein Tag. Und vor allen Dingen was für ein Abschluss dieses Tages. Es war Zeit, dass sie endlich nach Hause kommen würde und sich unter die warmen Wasserstrahlen ihrer Dusche stellte. Die ganze Aufregung mit dem Hund und dann dieser Mann... Erst jetzt wurde ihr bewusst wie sehr sie eigentlich gefroren hatte. Doch unter den Blicken von Alexander Lorenz war ihr seltsam warm geworden. Bisher hatte sie sich selten in Gegenwart eines Mannes so eingeschüchtert gefühlt. Normalerweise bot sie jedem noch so großen Macho stets Contra und wehrte reihenweise die Annäherungsversuche der verschiedensten Exemplare Mann kurzerhand und unmissverständlich ab. Doch dieser Lorenz war ein ganz spezieller Fall. Er hatte noch nicht einmal den Versuch eines Flirts bei ihr gemacht. Sie war nicht eingebildet doch sie wusste um ihre Wirkung auf Männer. Und nachdem sie das ein oder andere Mal auf die Nase gefallen war hatte sie für das Erste dieselbe voll und keine Lust auf eine weitere, früher oder später doch gescheiterte, Beziehung. Sie hatte sich fest vorgenommen ihr Singledasein in vollen Zügen zu genießen und außerhalb ihrer Arbeitszeiten, in ihrer Freizeit alles zu tun und zu lassen so wie sie es wollte ohne auf irgendjemanden Rücksicht zu nehmen. Noch gut konnte sie sich an ihre kurze Beziehung mit Robert erinnern. Sie hatte es tatsächlich gewagt und war bereits nach kurzer Zeit zu ihm gezogen. Was zu Anfang recht harmonisch begonnen hatte war im Alltagsstress des Zusammenlebens schon nach ein paar Wochen gescheitert. Was ihr vorher nicht klargewesen war; Robert war der reinste Pedant. Alles hatte seine genaue Ordnung. Und seiner Meinung nach hatte sie vom Tag ihres Einzugs bei ihm an dafür zu sorgen, dass diese Ordnung auch eingehalten wurde. Penibel achtete er auf jeden, noch so kleinen Wasserspritzer im Waschbecken und ein Krümel an der Brotschneidemaschine konnte ihn förmlich zum Ausrasten bringen. Es verging kein Tag ohne Streit und er war ständig darauf aus ihr vorzuschreiben wie sie zu leben hatte. Noch nicht einmal das Fernsehprogramm konnte sie selbst bestimmen. Er sagte ihr welche Kleidung sie tragen sollte wenn sie in die Arbeit ging, was sie essen, trinken und selbst wann sie zu Bett gehen sollte. Mal alleine mit einer Freundin oder Kollegin etwas trinken gehen....? Das war gar nicht drin. Roberts Eifersucht kannte keine Grenzen und so entschloss sie sich schon nach kurzer Zeit sich von ihm zu trennen. Alles was sie anfangs eventuell für ihn empfunden hatte war schon nach wenigen Wochen unter seiner Herrschsucht im Keim erstickt. Das war der Zeitpunkt gewesen wo Sarah sich entschloss so schnell keinen Mann mehr in ihr Leben zu lassen. Sie genoss es abends heimzukommen, ihre Klamotten abzustreifen und sich in Jogginghosen und T-Shirt mit einem großen Teller Spagetti vor die Glotze zu schmeißen. Wenn ihr danach war schlief sie einfach davor ein und niemand motzte mit ihr herum weil sie nicht rechtzeitig ins Bett gegangen war und der dreckige Teller noch auf dem Wohnzimmertisch stand. Männer.....wofür braucht man die eigentlich... das war ihre Devise. Und bis zu diesem Nachmittag empfand sie das tatsächlich auch so. Doch beim Anblick dieses Prachtexemplars heute Abend war es ihr sofort wieder eingefallen. Obwohl er so eisig und abweisend zu ihr gewesen war, oder vielleicht sogar gerade deswegen...? Auf jeden Fall hatte er auf sie und ihren Körper, dieser Verräter, eine überwältigende Wirkung gehabt.
Zu Hause angekommen parkte sie ihr Auto in die noch immer freie Parklücke und holte sich ihren mittlerweile leicht durcheinandergeratenen und zerbeulten Einkauf aus dem Kofferraum. Eilig machte sie sich auf den Weg in ihre Wohnung im zweiten Obergeschoss. Auf der Treppe begegnete ihr Frau Wiesner aus dem Erdgeschoss, die gerade dabei war zu dieser abendlichen Stunde noch die Treppe zu fegen. „Hallo Frau Wiesner, sie sind ja wieder mal fleißig .... wie immer halt.“ lächelte sie der netten Nachbarin entgegen. „Hallo Frau Ludwig. Sie sind aber heute spät dran. War es heute so stressig auf der Arbeit?“ „Nein nein...... aber das erzähle ich ihnen gerne morgen wenn sie möchten. Ich besuche sie morgen Nachmittag auf einen Tee oder Kaffee wenn es ihnen Recht ist, jetzt will ich nur noch was essen und ins Bett.“ „Na dann wünsche ich ihnen einen erholsamen Abend. Ich freue mich doch immer wenn sie mich besuchen.... sie wissen ja....ich bin immer daheim.“ Sarah nickte ihr lächelnd ein letztes Mal zu und tätschelte ihr im Vorbeigehen die Schulter. „Also bis morgen dann. Ich bringe was Süßes mit.“
Oben angekommen schloss sie die Türe zu ihrer Wohnung auf und streifte mit geübter Bewegung ihre Schuhe an der Garderobe ab. Die Wohnung hier war nach ihrer Trennung von Robert ein wahrer Glücksgriff. Zuerst war sie ja skeptisch gewesen. Menschen verschiedenster Altersstufen wohnten hier und sie hatte anfangs Zweifel gehabt, ob das gutgehen konnte. Glücklicherweise wurde sie eines Besseren belehrt. Frau Wiesner, Witwe und schätzungsweise um die siebzig Jahre alt war ein wahrer Schatz und ein Engel für alle anderen Hausbewohner. Wann immer ein Babysitter für die Mieter im Dachgeschoss mit ihren drei kleinen Kindern, eine sprichwörtliche Tasse Zucker oder sonst etwas gebraucht wurde war sie zu Hilfe. So bekämpfte sie ihre Einsamkeit nach dem Tod ihres geliebten Mannes und auch Sarah war schon das ein oder andere Mal froh über eine solch hilfsbereite Nachbarin gewesen. So war es für sie auch keine Überwindung sie des Öfteren am Wochenende auf einen Schwatz, eine Tasse Tee oder ähnlichem zu besuchen. Insgeheim wurde sie von den anderen Hausbewohnern die „Omi“ genannt. Frau Wiesner war das auch schon zu Ohren gekommen und sie freute sich darüber sehr. Da es ihr nicht vergönnt gewesen war eigene Kinder, und infolge dessen Enkelkinder, zu haben so sah sie heute den Sinn ihres Lebens darin ihren Mitmenschen stets zu helfen wann immer sie gebraucht wurde. Und sie wurde gebraucht, das war allen anderen hier mehr als bewusst.
Sarah stellte ihre Einkaufstüte in der Küche ab und ging ins Schlafzimmer, um sich ihrer Kleidungsstücke zu entledigen. Nachdem sie neue Unterwäsche und ihren heißgeliebten Jogginganzug zusammengesucht hatte, ging sie eilig in das Badezimmer und stellte sich unter die wärmende Dusche. Anschließend trocknete sie sich sorgfältig ab und stieg aus der noch dampfenden Duschkabine. Ein prüfender Blick in den Spiegel dann begann sie damit sich sorgfältig mit ihrer Bodylotion einzucremen. Ihre Gedanken schweiften immer wieder ab zu dem zuvor erlebten und zu diesem atemberaubenden Mann. Sie erschrak als sie sich dabei erwischte sich vorzustellen wie es wohl wäre wenn er es wäre, der langsam und zärtlich mit seinen großen gepflegten Händen die Creme auf ihrem Körper verteilen würde. „Dummes Ding“, sagte sie laut zu sich selbst. „Aus dem Alter bist du doch wohl heraus Sarah.“ Schnell verschloss sie die Flasche und zog sich die bequemen Kleidungsstücke an. Ihr Magen knurrte laut hörbar und sie machte sich daran ihre Einkäufe auszupacken und sich etwas Schnelles zu kochen. Spagetti mit Käsesoße. Ihr Leibgericht. Ohne viel Aufwand und wahnsinnig lecker. Mit einer Riesenportion setzte sie sich auf ihren Lieblingssessel und schaltete das Abendprogramm des Fernsehers ein.