Читать книгу DER TOD KANN MICH NICHT MEHR ÜBERRASCHEN - Heike Vullriede - Страница 6

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Für seinen ersten Chemo-Termin im Krankenhaus benötigte er neue Schlafanzüge und neue Unterhosen. Das jedenfalls meinte Lisa. Sein Hinweis, die wenigen Tage bis zum Krankenhausaufenthalt nicht mit unnötigen Einkäufen verschenken zu wollen, kümmerte sie nicht.

»So gehst du mir nicht ins Krankenhaus!«, war ihr schlichter Kommentar dazu und so verbrauchte er kostbare Zeit damit, zusammen mit Lisa im Einkaufszentrum Wäsche zu kaufen. Er erstand Schlafanzüge und Retroshorts, außerdem noch T-Shirts, Socken und Handtücher. Das Ganze kostete ein Vermögen. Marvin wusste gar nicht, wie teuer Unterwäsche sein konnte.

›Klinik und Poliklinik für Neurochirurgie‹ stand auf dem Schild am Eingang zu einem mächtigen, aber alten Gebäude mit diversen Anbauten. Nie hätte er erwartet, hier Patient zu werden. Bis zum Tag seiner Diagnose hatte er nicht einmal von einer solchen Klinik in der Stadt gewusst. Sie hätte einen ausgezeichneten Ruf, so die Versicherung seines Neurologen.

Lisa setzte ihn vor dem Krankenhaus ab und fuhr dann zur Arbeit. In ihrem Job als Werbekauffrau machten die wöchentlichen Prospektarbeiten sie derzeit unentbehrlich. Aber sie wollte abends noch vorbeikommen, um ihn zu besuchen.

Marvin winkte ihr nach.

Es war viel zu früh, um jetzt schon zur Station zu gehen. Was nun? Herumstehen und warten? Vor dem Eingang des Hauses entdeckte er einen schmalen Fußweg, der zu einem Teich führte. Also folgte er mit seiner riesigen Reisetasche voller neuer Kleidung dem Pfad bis zum Ufer und ließ seinen Hintern auf einer kalten Parkbank nieder. Man hörte das Zirpen von Vögeln und das leise Plätschern winziger Wellen am Uferrand, sonst nichts. Keine Autos, keine Leute – nur Stille. Ihn störte das. Sie schien ihm unangemessen, diese Stille – zu idyllisch irgendwie. Ein paar Enten schwammen heran. Vermutlich hofften sie auf Brotkrumen. Er täuschte sie mit einigen Steinchen, die er vor seinen Füßen aufhob und quer über den Weg warf. Eilig und quakend sauste das Federvieh hinterher; jedes bemüht, den anderen ihres Völkchens die vermeintlichen Leckereien wegzuschnappen. Marvin beobachtete sie eher nebenbei. Plötzlich fiel ihm jedoch eine der Enten auf, weil sie anders aussah als ihre Artgenossen. Etwas erschreckend Warzenartiges ragte an ihrem Hinterkopf hervor, eine Geschwulst, fast so groß wie der kleine Kopf selbst, jedoch federlos. Sofort empfand er Mitleid. Doch die Ente bewegte sich wie selbstverständlich zwischen den anderen, lief hinter den Steinchen her, wackelte zwischen ihnen herum; als sei es das Normalste der Welt, mit einem goldgelben nackten Warzenei am Kopf durch das Leben zu marschieren.

Beneidenswertes Tier! Eine Ente mit einem Tumor im Kopf machte sich wohl kaum Gedanken um ihren Schädel. Jedenfalls nicht, solange sie keine Schmerzen verspürte. Für sie würde es keine Hoffnung in Form einer Behandlung geben, nur den Tod. Aber sie würde wohl auch nicht darüber nachdenken.

Marvin jedoch dachte unentwegt daran, hegte Hoffnung und verwarf sie wieder. Natürlich – die Ärzte irrten nicht! Die schöne Tatsache, außer ein paar Kopfschmerzen bisher keine besonderen Beschwerden zu verspüren, konnte über die eindeutigen Aufnahmen der MRT und der Biopsien nicht hinwegtäuschen. Das Ding war da und musste weg. Blöd nur, dass es an einer Stelle saß, die eine Operation nicht zuließ. Ihm blieben nur Bestrahlung und diese furchtbare Chemotherapie.

Um Punkt acht Uhr fand Marvin sich auf dem Gang der achten Etage des Krankenhauses ein und meldete sich im Schwesternzimmer an. Freundlich war sie ja, die Frau an der Anmeldung, aber auch unbehaglich sachlich. Da trotz seiner vorherigen Ankündigung noch kein Bett für ihn zur Verfügung stand, musste er im Aufenthaltsraum warten.

Warten müssen – in einem kleinen Raum mit vergilbten Tapeten, möbliert mit angeschlagenem, verblichenen Buchenholz. Warten müssen – als wäre sein Tumor eine Alltäglichkeit, die warten konnte. Dabei konnte das Ding in jeder Sekunde wachsen.

Er blickte aus dem Fenster. Von hier aus konnte man über den Park des Krankenhauses hinweg auf die halbe Stadt schauen; so weit, bis die Halde der stillgelegten Zeche wie ein entfernter Berg die Sicht versperrte. Der Blick nach unten bot die Aussicht auf den Teich. Ein alter Mann fütterte inzwischen die hungrigen Enten. Zu gerne hätte er jetzt mit dem alten Mann getauscht … vielleicht sogar mit den Enten.

Eine junge Krankenschwester mit Handschuhen und einem Eimer voll schäumender Flüssigkeit eilte in das Zimmer gegenüber. Marvin hörte sie darin wirken und sah sie bald darauf wieder heraussputen. Als er schließlich hinein durfte – es war das Zimmer mit der Nummer 832 – roch der Raum nach Desinfektionsmittel. Sein Bett stand nahe der Tür. Daneben befand sich der Zugang zu einem überraschend großen Waschraum mit Dusche und Toilette. Ganz nett.

Leider war er nicht alleine in diesem Zimmer untergebracht, trotz seiner privaten Versicherung. Ärgerlich, wie er fand. Im Bett am Fenster lag ein Mann in etwa seinem Alter und schnarchte. Daneben stand ein Gehwagen.

Eine weitere Schwester – sie stellte sich als Schwester Sabine vor – wies Marvin in die Handhabung eines Gerätes ein, mit dem man sowohl telefonieren als auch das Bett vollelektronisch verstellen und den Fernseher bedienen konnte. Gleichzeitig diente es als Notrufgerät – ein Druck auf den roten Knopf und die Schwestern kämen sofort, um nach ihm zu sehen. Wenn irgendetwas sei, bräuchte er nur auf diesen roten Knopf zu drücken.

»Der rechte Schrank ist für Sie, der mit dem blauen Punkt an der Tür. Im Waschraum sind zwei Haken, ebenfalls mit blauen Punkten. Das sind Ihre! Da können Sie Ihren Waschlappen und Ihr Handtuch aufhängen. Und die rechte Tür des Spiegelschrankes gehört Ihnen.«

Schwester Sabine vergaß, auf den blauen Punkt hinzuweisen, der sich auf dem Spiegelschrank befand.

Blaue Punkte – Marvin fühlte sich belustigt an seine Kindergartenzeit erinnert. Hektisch drückte ihm die zwar noch junge, aber schon irgendwie verbraucht wirkende Frau mit dem aschblonden Zopf noch ein paar Pappkarten in die Hand, auf denen er seine Essenswünsche ankreuzen sollte, und dann verschwand sie. Sie hatte es eilig.

Allein mit seinem neuen winzigen Privatbereich Bett mit Nachtschrank, einem schnarchenden Fremden und einer überdimensionierten Reisetasche, dessen Inhalt er nie und nimmer in diesen schmalen Spind bekommen würde, blieb Marvin zunächst auf seinem Bett sitzen. Für die ersten Tage des ersten Chemo-Zyklus sollte er hierbleiben, damit die Nebenwirkungen besser überwacht werden konnten. Danach würde er sich zu Hause weiter plagen dürfen. Gemütlich war etwas anderes!

Marvin betrachtete seinen Mitpatienten mit dem schütteren Haar. Ein Mittvierziger schätzte er. Blass zwar, aber er schien noch zu beleibt, um schwer krank zu sein. Er schlief und schnarchte mit zurückgefallenem Kinn, und der weit geöffnete Mund bot sicher Platz genug, um eine Magenspiegelung ohne Mundstück zu ermöglichen. Lippen und Nasenflügel bebten bei jedem gequälten Atemversuch. Natürlich lag der Mann auf dem Rücken, eine für die Schnarcherei bekanntermaßen bevorzugte Position.

Marvin fand es nicht lustig, eher beschämend, denn er wusste genau, dass er ebenso aussah im Schlaf. Lisa hatte ihn einst hinterhältig gefilmt, um ihm sein Schnarchen zu beweisen. Es ließ sich seither nicht mehr bestreiten. Peinlich, so ausgeliefert auszusehen, aber sie in ähnlicher Weise abzubilden war ihm nicht gelungen. Lisa sah im Schlaf immer wie ein Engel aus. Sie schnarchte nie, höchstens in verschnupftem Zustand und dann auch nur ganz leise – geradezu süß – überhaupt nicht peinlich. Frauen sind die feineren Wesen, dachte er. Wie so oft.

Er nahm seine Handykamera und knipste ein Foto von seinem Bettnachbarn. Man wusste ja nicht, wozu das einmal gut sein könnte. Dann hielt er die Kamera vor sein eigenes Gesicht und schoss ein Bild von sich selbst – zur Erinnerung an sein Gesicht vor der Chemo und an seine angegraute, aber immerhin noch ziemlich dichte Haarpracht. Eine Tatsache, auf die er stolz war. Die Medikamente der Chemotherapie könnten ja zu Haarausfall führen, so hatte er gehört. Ekelhaft, der Gedanke an Haarbüschel, die sich mit den Fingern von der Kopfhaut abziehen ließen. Marvin hatte einiges über die Nebenwirkungen der Behandlung gelesen. Das meiste klang so unwirklich – so weit weg, nicht vorstellbar für ihn. Aber das mit dem Haarausfall, das konnte er sich vorstellen. Es schien ihm gruselig greifbar und so abschreckend sichtbar.

Eine andere, sehr junge Schwester kam herein. Klein, zierlich und so blass, wie Rothaarige nun einmal sind. Sie drückte auf einen ominösen Knopf an der Wand und führte Zettel und Kugelschreiber mit sich. Um ihren Hals hing ein Blutdruckmessgerät.

»Ich bin Schülerin Elke!«, erklärte sie und augenblicklich verfiel Marvin dem offenen und freundlichen Lächeln, welches sie für ihn erübrigte, ganz im Gegensatz zu den anderen Schwestern. Ihre rotblonden Locken trug sie bis etwas über Kinnlänge und offen. Ein nettes Mädchen, die Kleine! Von ihren Augen, die Marvin so hellblau wie unbekümmert anstrahlten, ließ er sich gerne herauslocken aus seiner düsteren haarlosen Zukunftsvision. Die schlanke Taille und wohlgeformte Hüfte unter ihrem weißen Kittel entging ihm nicht.

»Soll ich Ihnen mit Ihren Sachen helfen?«, fragte sie mit Blick auf die nicht ausgepackte Reisetasche.

Marvin wehrte ab. Nein, nein, es ginge schon. Er erzählte ihr, während sie seinen Blutdruck maß, dass es ihm eigentlich ganz gut ginge. Wenn da nur nicht dieser zufällig festgestellte Tumor in seinem Kopf wäre, weshalb er jetzt eine Chemotherapie bräuchte und so weiter. Er redete viel. Mehr als er es sonst tat. Erzählte von seinem Blutdruck, wohl wissend, es interessierte eigentlich niemanden.

»Und jetzt haben Sie einen Blutdruck von 140 zu 80 – der ist nicht einmal zu hoch!«

Schülerin Elke lachte. Marvin lachte, und beide schmunzelten noch kurz über das Schnarchen des Bettnachbarn. Sie hoffte für ihn, er könnte wenigstens nachts schlafen bei dieser lautstarken Baumsägerei. Danach verschwand sie aus dem Zimmer. Zauberhaft lächelnd schwebte sie wahrscheinlich als helfender Engel dem nächsten Patienten zu.

Später brachte sie Marvin eine salzige Brühe und half ihm doch noch ein wenig mit der Tasche. Jetzt war er froh, dass er diese einwandfreie neue Wäsche mit sich führte.

Er fühlte sich gut aufgehoben.

Noch später kam eine Ärztin. Eine junge, herb aussehende Frau, schlank, fast schon hager. Etwas zu blond für seinen Geschmack und die Haare zu streng nach hinten frisiert. Sie befestigte eine Infusion an seinem linken Arm und kündigte ihm Übelkeit an. Danach blieb ihm nichts weiter zu tun, als ruhig in seinem Bett zu liegen. Verurteilt, zu lesen, vielleicht etwas fernzusehen oder die Tropfen zu beobachten, die langsam, einer nach dem anderen, in seinem Arm verschwanden. Er beobachtete sie lange, weil er von irgendwoher wusste, Luftblasen in den Adern seien gefährlich. Währenddessen wartete er auf die Übelkeit. Doch sie blieb aus.

Nach der ersten geleerten Infusionsflasche drückte Marvin auf den roten Knopf der Fernbedienung. Sofort meldete sich eine blechern und schwer verständliche weibliche Stimme aus einem Lautsprecher hinter seinem Bett, die nachfragte, was er wünsche. Marvin teilte mit, die Infusion wäre durch und erwartete sehnlichst eine Schwester, weil er zur Toilette musste. Die Stimme aus dem Lautsprecher weckte seinen Bettnachbarn. Der lag auf der Seite – jetzt, wo er nicht mehr schnarchte! – eine Hand gelangweilt unter seine Wange gestützt und musterte Marvin ungeniert.

»Zytostatikum?«, fragte er schließlich.

»Ja – Chemo!«, antwortete Marvin ebenso kurz.

»Sag’ ich doch – Zytostatikum!«

Anscheinend wollte der Schnarcher ihm klarmachen, er besäße Fachkenntnisse, die Marvin fehlten. Aber geschnitten, da konnte er mithalten.

»PCV bei Glioblastom!«, renommierte er und fügte hinzu: »Bestrahlung später mit 30 x 2 Gray!«

Das sollte wohl genügen, um dem Kontrahenten sein Fachwissen zu verdeutlichen und gar nicht erst Zweifel an seiner Kompetenz als aufgeklärtem Patienten aufkommen zu lassen. Tatsächlich nickte der Bettnachbar ernst wissend und beließ es dabei. Zufrieden mit sich selbst ließ sich Marvin in das Kissen sinken. Sein Platz hier sollte wohl erobert sein. Schlimm genug, dass er dieses Zimmer mit jemandem teilen musste.

Fünf Minuten später stand der Mitstreiter schwerfällig auf, schlüpfte in seine Pantoffeln und schlurfte an Marvins Bett vorbei zur Toilette. Wie einen Wallach hörte er ihn im Bad pinkeln und es erinnerte ihn deutlich daran, ebenfalls seit einiger Zeit Druck zu verspüren. Wo blieb nur die Schwester? Er griff zur Fernbedienung und drückte nach einigem Zögern wieder den roten Knopf.

»Die Infusion ist durch!«, erklärte er erneut der Blech-Schwester aus dem Lautsprecher und neidvoll blickte er auf den Schnarchsack, der erleichtert aus dem Bad zurückkam.

»Da können Sie lange warten!«, meinte dieser im Vorübergehen, womit er nicht nur recht haben konnte, sondern ihm auch zu Verstehen gab, dass er sich hier im Krankenzimmer als alter Hase selbstverständlich besser mit den Vorgängen auskannte als Marvin. Sollte er doch! Marvin wies auf die Infusionsapparatur, die an seinem Arm hing. So gefangen konnte er schließlich nicht aufstehen.

»Warum ziehen Sie sich das nicht selbst raus?«, meinte der alte Hase lapidar. »Einfach rausziehen und Tupfer aufdrücken. Tupfer liegen doch dort in der Schale auf ihrem Nachtschrank. Machen die Schwestern auch nicht anders!«

Damit legte sich der Hase wieder ins Bett, kehrte Marvin den Rücken zu und machte sich daran, weiterzuschnarchen.

Marvin betrachtete die, mit ein paar weißen Klebestreifen fixierte, Infusionsnadel an seinem Arm und fing nach einer Weile an, die Streifen abzuknibbeln. Schön vorsichtig, immer ein bisschen mehr. Warum nicht etwas vorarbeiten, bevor die Schwester käme. Und wenn dann immer noch niemand in Sicht wäre, könnte er sich ja auch ganz davon befreien. Schließlich war er ein erwachsener Mensch und außerdem spannte die Blase.

Gänzlich vom Klebestreifen gelöst, stellte sich die Nadel als Bestandteil einer kleinen durchsichtigen Plastikplatte dar. Das sah kompliziert aus und außerdem fragte er sich, wie er mit nur einer Hand die Nadel herausziehen und gleichzeitig mit einem Tupfer darauf drücken sollte. Egal, er musste zur Toilette, nur das hatte Vorrang. Womöglich dachte der Patient am Fenster auch schon, Marvin wäre zimperlich. Kurz entschlossen zog er an der Plastikplatte, entfernte sie samt Nadel und schnappte sich schnellstmöglich den Tupfer, um den Einstich zu verschließen. Aber Marvin war nicht schnell genug. Dort floss augenblicklich dunkelrotes Blut heraus und rann in mehreren Bahnen um den Arm herum, tropfte auf das frische gelbe Bettzeug. Es lief kitzelnd bis in seine Achseln, als er seinen Arm verzweifelt steil nach oben hielt und mit der anderen Hand auf den Einstich drückte. So saß er da, voll Blut, den Arm in der Luft, um Schlimmeres zu verhindern, das Bett versaut, und fragte sich nun, wie er in diesem Zustand jetzt endlich zur Toilette gehen sollte. Zeitgleich öffnete sich die Tür und Schwester Sabine kam herein. Schwester Sabine und leider nicht das engelhafte Gesicht der kleinen Schülerin! Sie sah ihn an, in seiner gymnastisch anmutenden Position, dann auf das blutbefleckte Bett und fragte mit einem Ausdruck totaler Entgeisterung: »Was machen Sie denn?«

Angesichts seiner Lage und des Blickes der Krankenschwester überkamen Marvin inzwischen Bedenken ob seiner Aktion. Hilflos dasitzend, während sein Arm vom Hochhalten bereits zu kribbeln begann, sagte er nur: »Die Infusion war durch und ich wollte zur Toilette.«

»Ja – warum warten Sie nicht, bis wir sie abgestöpselt haben? Und wenn Ihnen das zu lange dauert, warum gehen Sie dann nicht einfach mit der leeren Flasche ins Bad oder benutzen den Infusionsständer, der in ihrem Zimmer steht, oder kommen heraus zu uns ins Schwesternzimmer? Die Nadel herauszuziehen, war so ziemlich das Dümmste, was Sie tun konnten.«

Marvin wurde bewusst, sich gerade als Dummkopf etabliert zu haben, und er schämte sich grenzenlos, während Schwester Sabine ihn stumm, aber mit völlig entnervtem Gesicht mit neuem Tupfer und Klebestreifen versorgte und kopfschüttelnd die Bettdecke abzog. Heimlich schielte er zu seinem Bettnachbarn und sah einen alten Hasen vor sich hin grinsen.

Wie konnte ihm so etwas Blödes nur passieren? Marvin überlegte schon, ob er das Ganze nicht seinem Gehirntumor zuschieben könnte, von dem er eigentlich nichts spürte.

Als Schwester Sabine mit dem alten Bettzeug schon in der Tür stand, sagte sie leise: »Na – dann gehen Sie mal zur Toilette. Nicht, dass das auch noch daneben geht.«

Dann verschwand sie und Marvin konnte wetten, sie berichtete auf direktem Weg sämtlichen Krankenhausangestellten der Station von diesem bescheuerten neuen Patienten. Er bekam jetzt schon Angst davor, er könnte irgendwann einmal ins Bett machen.

Bald darauf bekam er neue Bettwäsche und die Oberärztin legte eine neue Nadel, diesmal in den rechten Arm. Sie erklärte ihm, dass man Infusionen eigentlich nur abstöpselt und nicht jedes Mal herauszieht, da man sonst ja immer wieder neu stechen müsste, was übrigens nur ein Arzt dürfte und somit zeitaufwendig wäre. Klar, meinte Marvin, und er erwähnte, dass er sich heute gar nicht wohlfühlte, irgendwie durcheinander. Das hätte er in letzter Zeit zu Hause häufiger gehabt, da hatte er zum Beispiel Kaffee ohne Filter in die Kaffeemaschine geschüttet und so fort … und er hatte sich schon gestern gefragt, ob das nicht mit der Erkrankung zusammenhängen könnte.

Die Ärztin antwortete nicht, fragte aber, wie er sich ansonsten fühle, ob er Übelkeit verspüre.

»Ein wenig, aber es geht schon.«

Marvin wusste, sein Unwohlsein stammte im Moment einzig von dem Gefühl, sich blamiert zu haben.

Der Feind im Nachbarbett sagte den ganzen Tag lang nichts mehr. Stattdessen schaltete er ständig den gemeinsamen Fernseher um, genau immer dann, wenn Marvin sich gerade für den einen oder anderen Beitrag zu interessieren begann. Er schwieg dazu und fragte sich wieder einmal, wozu er diese teure Privatversicherung zahlte.

Abends stöpselten sie ihn von der Infusion ab. Noch später kam Lisa. Sie hetzte zur Tür herein, trug ihren Blazer über einem Arm und ihre große rote Ledertasche auf der anderen Seite. Mit einem angedeuteten Kuss auf beide Wangen begrüßte sie ihn, warf dabei ihren Zopf von der Schulter nach hinten. Dann zog sie sich umständlich den Besucherstuhl an das Bett. Unter ihren hektischen Bewegungen wirbelte ihr Pferdeschwanz hin und her und einmal peitschte er fast in Marvins Gesicht. Am liebsten hätte er ihn festgehalten und seine Nase in ihre weichen Locken vergraben.

Sie fing an, in ihrer Tasche zu kramen.

»Entschuldige, ich bin spät. In dieser verdammten Stadt steht man jeden Tag im Stau – du kennst das ja. Der gesamte Cityring stand still. Nichts ging mehr.«

Über Staus und Verkehr überhaupt konnte sich Lisa stets maßlos aufregen. Trotzdem hatte sie heute extra an einem Kiosk gehalten, um ihm etwas zu Lesen mitzubringen. Es überraschte ihn, doch nach einem Blick auf die dicke Lektüre, die sie ihm überreichte, konnte er sein Missfallen nicht verbergen. Marvin zog die Stirn kraus.

»Ein Rätselheft?«

Typisch Lisa, dachte er und erinnerte sich an die flüchtig gekauften Rätselhefte, mit denen sie ihrer Großmutter bei ihren Besuchen eine Freude machen wollte.

»Schon mal was von Gehirnjogging gehört?«, entgegnete sie angespannt.

Gehirnjogging! Er schmunzelte.

»Lisa, mal ehrlich – wer sollte sich mit diesen einfachen Denkspielen geistig fit halten? Ein bisschen mehr intellektuelles Niveau würde nicht schaden. Hältst du mich für einen senilen Mann?«

»Dass du immer alles so überbewerten musst! Du musst dich, krank, wie du bist, nicht auch noch mit hochgestochener, todernster Literatur befassen. Reine Unterhaltung würde dir jetzt wirklich mal guttun!«

Marvin legte das Omaheft nachsichtig lächelnd in den Nachtschrank – und zwar ganz nach unten; ziemlich sicher, es nie zu benutzen.

»Ist ja schon gut. Danke, dass du noch gekommen bist.«

»Nichts ist gut!« Sie war schrecklich gereizt. Ihre Stimme klang hoch und schnell. »Du bist hier im Krankenhaus. Das ist kein Ort, schon wieder den Intellektuellen heraushängen zu lassen!«

Das schadenfrohe Grinsen seines Bettnachbarn bei den letzten Worten entging Marvin aus dem Augenwinkel nicht. Er durfte wohl nicht annehmen, dass dieser Kerl das Zimmer von sich aus pietätvoll verlassen würde, um mögliche intime Gespräche zwischen ihm und Lisa nicht unbeabsichtigt mitzubekommen. Stattdessen lag der Schnarchsack jetzt mit seinem breiten Gesicht Marvins Bett offen zugewandt und freute sich auf interessante Wortgefechte.

»Gibt es nichts im Fernsehen, das Sie interessiert?«, fragte Marvin wenig freundlich.

Schnarchsack verzog den Mund, aber scheinbar hatte er verstanden. Er setzte sich auf, fummelte ungeschickt mit den Füßen in seinen ausgelatschten karierten Schlupfpantoffeln herum, verstaute auch den letzten Zeh darin und stand schließlich so schwerfällig auf, als erwartete er, dass man ihm zu Hilfe käme. Sie halfen ihm nicht. Mit bitterer Miene nahm er also seinen Morgenmantel vom Fußende des Bettes, zog ihn gemächlich an und setzte sich nervenzehrend langsam in Bewegung. Wortlos schlurfte er an ihnen vorbei und verließ tatsächlich den Raum.

»Da hast du es!«, sagte Lisa, in Richtung Tür blickend. »Deinen Leidensgenossen hast du bereits vergrault.«

»Wieso Leidensgenosse? Ich weiß ja gar nicht, was der hat.«

»Du hast ihn nicht gefragt, warum er hier ist?«

Lisa schüttelte den Kopf. Dann begann sie, ihren Tag zu schildern. Sie erzählte von einer Auseinandersetzung auf einem Meeting in der Firma, von ihrem peinlichen Verschlucken in Gegenwart ihrer auswärtigen Besucher während der Mittagspause im Restaurant und von ihrem chaotischen Heimweg.

»Ich bin fix und fertig!«

Sie redete lange, aber schnell; so, wie alles in ihrem Leben schnell gehen musste. Als sie gerade pausierte, setzte Marvin an, um über seinen Tag im Krankenhaus zu berichten. Doch Lisa stand schon wieder auf. Fahrig durchwühlte sie ihre Tasche, bis sie den Autoschlüssel aus den Tiefen des Futterals bergen konnte.

»Hörst du mir gar nicht zu?«, fragte er.

»Entschuldige! Ich bin todmüde und würde lieber Morgen wieder kommen, wenn das in Ordnung ist. Hier bist du ja gut aufgehoben. Bis morgen, Schatz.«

Diesmal bekam er einen Kuss auf die Stirn geschmatzt und schon verschwand sie. Was blieb, war wieder nur ein süßer Duft und so viel Unberichtetes von seinem ersten Tag im Krankenhaus. Zwei Minuten später latschte Schnarchsack zurück ins Zimmer und legte sich hin. Marvin sah ihm nicht ins Gesicht, aber er fragte sich nun, weshalb der Kerl wohl hier war.

DER TOD KANN MICH NICHT MEHR ÜBERRASCHEN

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