Читать книгу DER TOD KANN MICH NICHT MEHR ÜBERRASCHEN - Heike Vullriede - Страница 9

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Mit der Wange in sein Kissen gegraben, betrachtete Marvin die mit Blumen geschmückte Urinflasche. Ihre Köpfe, durch den Knick der Flasche dazu gezwungen, schräg zu stehen, blickten ihn vorwurfsvoll an.

Seinem Bruder das Geld für kurze Zeit auszuleihen, war kein Problem für Marvin. Vermutlich würde er seiner alten Mutter damit eine bittere Enttäuschung ersparen und ihn aus herben Schwierigkeiten erlösen. Kaum wahrscheinlich, dass Basti, als Gelegenheitsarbeiter, die Summe je wieder zusammenbekommen würde. Schenken müsste er es ihm. Auch das bedeutete kein wirkliches Problem für Marvin – nur Überwindung. An Geld hatte es nach dem Studium in seinem Leben nie gemangelt.

Basti aber mit ungewohnt feuchten Augen zu sehen, berührte ihn da, wo die Verwunderung aufhörte und das Mitgefühl begann. Er war wohl doch nicht nur gekommen, um Marvin schnell noch um Geld anzubetteln. Nur nicht zugeben, dass er heulen musste! Das Wichtigste im Leben sind die Beziehungen zu anderen Menschen, hatte Basti gesagt. So viel Tiefsinn aus seinem Mund verwunderte Marvin. Sicher hatte er es irgendwo gelesen. Oder konnte es sein, dass Marvin diesen Tiefsinn in Basti’s Charakter schlicht übersehen hatte? Noch nie hatte er seinen Bruder so von Gefühlen reden hören. Oder doch? Verplappert hatte er sich, sein Bruder. Verplappert über sein Gespräch mit Lisa.

Marvin fühlte sich hintergangen. Wieso tuschelten sie hinter seinem Rücken? Sie glaubten also nicht mehr an ihn und seine Zukunft. Da kannten sie ihn aber schlecht! Nein – es war noch nicht Zeit für ihn, zu gehen! Das bedeutete Kampf! Und kämpfen konnte er! Versager sollte nicht in seinem Nachruf stehen. Schließlich brauchte er noch viel Zeit, um aus Basti einen lebensfähigen Mann zu machen – sehr viel Zeit.

Sein Bettnachbar erwachte unterdessen aus seinem echten oder vorgetäuschten Schlaf und begann in seinem Bett herumzuwühlen, bis er endlich eine passende Position zum Sitzen fand. Jede seiner Bewegungen begleitete er mit beschwerlichen Seufzern. Aber jetzt saß er endlich und Marvin bemerkte, er beobachtete ihn, genau wie er selbst, aus dem Augenwinkel heraus.

»Soll ich Ihnen einen guten Rat geben? Gehen Sie nach Hause! Empfangen Sie keine Besucher! Sterben Sie in Frieden!«

Marvin riss den Kopf herum. Unglaublich!

»Ich habe eigentlich vor, zu kämpfen. Ich sehe mein Leben noch nicht als beendet an!«

Sein Gegenüber ließ sich von Marvins Kampfeswillen nicht beeindrucken.

»Wie viele Wochen oder Monate haben Ihnen die Ärzte denn gegeben? Oder hat man Ihnen gar ein ganzes Jahr versprochen?«

Wie konnte dieser Mann so niederschmetternd mit ihm reden? Und offensichtlich war sein Schlaf vorhin wohl doch nur vorgetäuscht gewesen.

»Kein Arzt der Welt bestimmt, wie lange ich noch zu leben habe! Es kann ja sein, dass Sie aufgegeben haben. Ich jedenfalls gebe mich nicht so schnell geschlagen!«

Damit drehte sich Marvin auf die andere Seite und tat so, als sei die Sache für ihn erledigt. Doch sein Nachbar setzte das unerwünschte Gespräch weiter fort.

»Ja, ja, so ähnlich hat ihr Vorgänger auch geredet. Jetzt ist er tot! Er starb eher als ich und schneller als jeder Arzt prophezeite und überhaupt so schnell, dass es vielen Leuten recht war.«

Trotz des Vorsatzes, die Nervensäge zu ignorieren, regte sich Marvin weiter auf. Ruckartig wandte er sich wieder um.

»Was geht Sie eigentlich mein Leben an? Gar nichts! Wie würden Sie es finden, wenn ich Sie fragte, wann Sie eigentlich ins Gras beißen werden?«

So! Damit sollte wohl genug der Diskussion sein. Gleich bei der nächsten Visite wollte Marvin seine Ärztin fragen, wann er endlich sein Einzelzimmer bekommen konnte. Diese Zimmergemeinschaft war eine Zumutung! Er drehte sich wieder weg und wartete auf die nächste provokante Äußerung des Nachbarn. Doch es blieb ruhig. Endlich! Jetzt fiel dem Schnarchsack wohl nichts mehr ein.

Die nächsten Minuten blieben still. Marvins Wut verflog langsam, seine Unruhe aber nicht. Was, wenn der Kerl recht behielt? Vielleicht gab es nichts zu kämpfen. Vielleicht war es Zeitverschwendung. Ein Kostenfaktor für die Krankenkasse. Ein Alibi für die letztlich machtlosen Ärzte.

»Ein halbes Jahr!«

Die plötzliche Stimme von hinten zerrte Marvin aus den Gedanken. Er setzte sich auf und fixierte den Mann im Nebenbett. Der lag auf dem Rücken, das Gesicht zur Decke gerichtet.

»Ein halbes Jahr haben Sie mir gegeben! Und jetzt sind bereits sieben Monate um.«

Sechs Monate waren nicht viel, dachte Marvin. Vor allem nicht, wenn sie bereits abgelaufen waren.

Der Nachbar blieb einfach auf dem Rücken liegen und starrte weiter an die Decke. Dass er schon seit einem Monat tot sein sollte, machte ihn für Marvin plötzlich ungemein interessant. Ein Mensch, am Ende seines Lebens. Zum ersten Mal machte er sich die Mühe, das Gesicht dieses Mannes näher zu betrachten. Es sah breit aus. So wie der ganze Mann breit und gedrungen aussah. Ein bisschen aufgedunsen, vielleicht von Medikamenten. Cortison? Die Nase ruhte auffallend platt mittendrin. Das Schnarchen verwunderte also nicht. Mit solchen Nasenlöchern konnte kein Mensch vernünftig Luft bekommen! Hinter einem sehr hohen Ansatz wuchsen die Haare gelblich-grau und dünn gesät aus seiner Kopfhaut. Möglicherweise war er früher einmal blond gewesen. Traurig wirkte seine Miene, aber nicht so verbittert, wie Marvin gemeint hatte. Seltsam … bisher hatte er seinen Mitpatienten noch nie als Kranken wahrgenommen. Todkrank zu sein, machte ihn jetzt tatsächlich zu einem Leidensgenossen. Nun beschämte es ihn fast, lautstark mit ihm gestritten zu haben.

»Woran sind Sie denn erkrankt, wenn ich fragen darf?«

»Lassen Sie uns nicht von mir sprechen. Reden wir von Ihrem Vorgänger in diesem Zimmer!«

Der stämmige Mann wurde plötzlich wieder lebendig. Er drehte sich auf die Seite und sah Marvin bedeutungsvoll an.

»Mein Name ist Frederik Schumann. Früher war ich Boxer!«, sagte er und deutete auf seine Nase.

Marvin legte sich auch auf die Seite, den Kopf auf den rechten Arm gestützt, um seinem Nachbarn bequem ins Gesicht zu schauen.

»Marvin Abel.«

Sie nickten sich zu und augenblicklich erschien Marvin der gesamte Raum ganz anders – wärmer, vertrauter, sei es bloß durch den Austausch ihrer Namen oder durch ihre sanfteren Stimmen.

»Und … was machen Sie heute?«, fragte Marvin.

Frederik grinste. »Ich erzähle Geschichten!«

Und dann begann er, zu erzählen. Dabei entwickelten seine Gesichtszüge eine erstaunliche Ausdrucksfähigkeit. Augen, Mund, Wangen und die wackelnden Bewegungen seines aufgestützten Kopfes begleiteten seine Worte. Er schien ein begeisterter Geschichtenerzähler zu sein.

»Ich erzähle mal von meinem Bettnachbarn André, der genau zwei Tage vor Ihrer Ankunft hier tot herausgeschoben wurde.«

Marvin hatte plötzlich Hemmungen, seinen Kopf abzulegen. Schon der Gedanke, genau an derselben Stelle zu liegen, an der jemand verstorben war, gruselte ihn.

»Als André hier eingeliefert wurde, kam er als stattlicher Bursche – ungefähr so kräftig wie Ihr Bruder vorhin. Ein Mann, der mitten im Leben stand, und es ging ihm nach eigenen Aussagen zu diesem Zeitpunkt gar nicht so schlecht. Man hatte einen Tumor bei ihm festgestellt. Doch André bereitete sich darauf vor, zu kämpfen. Und glauben Sie mir, er sah so aus, als ob er es schaffen könnte. Bereits am ersten Abend erhielt er jede Menge Besuch. Alles gute Freunde! Der Erste wollte Geld – aber das kennen Sie ja – der Zweite fragte danach, wie er in seinem Testament berücksichtigt werden würde und der Nächste wollte Andrés Auto behalten. Und so ging es weiter, Tag für Tag. Ich vermute, André war ziemlich vermögend. Es gab niemanden, der nicht irgendetwas von ihm wollte. Nach etwa drei Wochen war er genervt genug, jedem alles, was sie forderten, zu versprechen. Er machte sogar ein Testament, in dem er alles festhielt.«

Frederik legte eine Pause ein, als wollte er Marvins Reaktion auf das Erzählte prüfen. Dann nahm er einen Schluck Wasser und sprach weiter: »Aber André dachte nicht daran, zu sterben! Er kämpfte wirklich, nahm jede Anwendung wahr, schluckte jede Tablette, machte alles durch, was Sie jetzt auch durchmachen werden: Übelkeit, Schmerzen, Schwäche, Haarausfall, Hautausschlag. Alles das, um sein Leben zu verlängern. Zweimal verließ er das Krankenhaus, zweimal kam er wieder zurück. Beide Male streckten ihn nur die Nebenwirkungen der Medikamente nieder. Die Chemotherapie machte in kurzer Zeit einen hageren blassen Mann aus ihm. Doch bei einer Kontrolluntersuchung stellte man plötzlich keinen Tumor mehr in seinem Kopf fest. Wie durch Zauberei schien er verschwunden!«

Marvin horchte auf. »Der Tumor war verschwunden? Aber wie?«

Frederik erhob kurz seine Hand und sprach unbeirrt weiter.

»Passen Sie auf! Trotzdem erhielt André seine Zytostatika weiter. Man glaubte, die Medikamente hätten den Tumor vernichtet und man wollte nicht riskieren, durch einen Abbruch der Therapie einen Rückfall zu verursachen. André galt bei den Ärzten als echtes Wunder. Neurochirurgen aus anderen Kliniken kamen, um sein Hirn mit eigenen Augen zu begutachten. Man verglich die Aufnahmen seines Schädels mit den Kontrollaufnahmen und staunte. Seinen Freunden aber gefiel das gar nicht. Sie kamen weiterhin zahlreich und sahen, wie Tag für Tag sein Testament an Wert verlor. Eines Tages kam André von einer Untersuchung zurück und packte seine Sachen. Er schien verwirrt und auch wütend. Auf meine Frage hin vertraute er mir an, es gäbe den Verdacht, dass eine Verwechslung geschehen sei – einen Tumor in seinem Kopf hatte es niemals gegeben! Irgendein übermüdeter Assistent hatte seine Aufnahmen mit denen eines anderen Patienten verwechselt.

Das wird mein zweiter Geburtstag, sagte er zu mir. Morgen gehe ich nach Hause und mein erster Weg wird der zu meinem Rechtsanwalt sein. Ich werde dieses Krankenhaus verklagen, dass es sich gewaschen hat. Und am Abend werde ich eine Feier geben, auf der ich mein Testament vor aller Augen zerreiße.

So sprach er, dann holte André eine kleine Flasche Sekt aus seinem Morgenmantel, die er im Krankenhauskiosk gekauft hatte, und wir beide stießen mit Sekt in Wassergläsern auf seine Gesundheit an.«

Frederik stoppte. Es sollte wohl eine bedeutungsvolle Pause sein, die er einlegte, um seinen Zuhörer neugierig zu machen, denn er ließ sich Zeit. Erst einmal setzte er sich hin, nahm wieder einen Schluck Wasser, dann schmatzte und hustete er ein paar Mal. Danach wandte er sich wieder Marvin zu, während er seine Füße an der Bettkante herunterbaumeln ließ und sich mit den Händen aufstützte. Die Geschichte erhielt ein neues Kapitel.

»Was sage ich Ihnen? An dem Morgen, als er mit seinen gepackten Sachen das Krankenhaus verlassen wollte, fand ich André kalt in seinem Bett liegend. Genau dort, wo Sie jetzt liegen. Tot! Gestern noch plante er die größte Feier seines Lebens – und plötzlich war er tot; sein Gesicht schneeweiß, die Lippen blau und die Augen offen!«

Marvin staunte nicht schlecht. Frederiks Geschichte faszinierte ihn, obgleich er sie für unwahrscheinlich hielt.

»Und wie ging es weiter?«

»Die Ärzte behaupteten, er sei an seinem Tumor verstorben. Ein epileptischer Anfall hätte ihn im Schlaf überrascht. Von der Verwechslung seiner MRT-Unterlagen war keine Rede mehr. Wenn Sie mich fragen, ging das nicht mit rechten Dingen zu!«

»Sie meinen, er wurde ermordet?«

»Das habe ich nicht gesagt!«

»Aber was sagt die Polizei dazu?«

»Welche Polizei?«

»Es muss doch Polizei gekommen sein, nach dem er so unnatürlich gestorben ist.«

»Wieso unnatürlich? Die Ärzte sagten: Tod durch Gehirntumor. Wer sollte das anzweifeln? Und glauben Sie mir: Niemanden, der im Testament bedacht ist, interessiert die genaue Todesursache!«

»Eine verrückte Geschichte!«

Frederik nickte vielsagend mit dem Kopf. Er genoss sichtlich die Beachtung, die seine Geschichte fand.

Marvin sah den toten André bildlich vor sich. Ausgezehrt, totenbleich, mit aufgerissenen Augen, qualvoll erstickt!

Natürlich glaubte er Frederiks Geschichte nicht in jedem Detail. Dazu war sie zu unglaublich! Aber so im Grundsatz? Warum nicht? So etwas konnte man sich doch nicht komplett ausdenken. Wahrscheinlich schmückte Frederik die Ereignisse nur ein wenig aus. Mord – na ja, aber an eins wollte er in jedem Fall glauben: nämlich an das Verwechseln von Patientendaten. Er hatte schon immer an der Qualifikation von Arzthelfern gezweifelt. Sicher waren sie allesamt die billigsten Kräfte, die man auf dem Arbeitsmarkt bekommen konnte. Mal abgesehen von Schülerin Elke.

Marvin dachte an seine eigenen Beschwerden, die ihm gering genug erschienen, um ernsthafte Zweifel zu hegen. Schließlich gab es noch keine weitere Meinung von einem auswärtigen Spezialisten zu seiner Diagnose. Wie leichtsinnig von ihm! Womöglich war sein Vertrauen in die Ärzte vor Ort zu groß gewesen. Was wusste er schon über ihre fachlichen Qualitäten? Je länger Marvin darüber nachdachte, desto unsicherer erschien ihm die von ihnen gestellte Diagnose. Und jetzt lag er hier und erhielt bereits Chemotherapie! Nicht auszuschließen, er könnte allein durch die Nebenwirkungen sterben.

»Bekommen Sie auch Chemotherapie?«, fragte er zum anderen Bett hinüber.

Frederik warf ihm einen überraschten Blick zu. Für einen Moment sah es so aus, als wollte er nicht antworten. Doch dann winkte er verächtlich ab.

»Ich? Ich mache keine Chemotherapie! Warum sollte ich mich vergiften lassen? Nach all den Erlebnissen in diesem Krankenhaus? In den nächsten Tagen gehe ich nach Hause und lebe so, wie ich es immer getan habe. Und wer weiß, vielleicht bin ich ja auch gar nicht so krank, wie die Ärzte behaupten. Nichts ist sicher, nicht einmal der Tod.«

»Wollen Sie gar nicht kämpfen?«

»Ich werde es so nehmen, wie es kommt. Für wen oder was wollen Sie kämpfen?«

Marvin dachte an sich, an Basti, der noch immer nicht erwachsen war, an Lisa und seine Tochter Julia.

»Für meine Familie! Haben Sie niemanden zu Hause, der Sie erwartet?«

»Doch, meine Frau! Sie wird für mich da sein, sollte es wirklich so weit kommen … wenn ich sie nicht hätte …«

Plötzlich versagte Frederiks Stimme. Der grobe Mann schwächelte. Marvin ließ ihn.

Sehr viel später sprach er ihn noch einmal an: »Haben Sie Angst vor dem Tod, Frederik?«

Es dauerte lange, bis er antwortete.

»Mich ängstigt mehr das Sterben, als der Tod. Vor allem aber fürchte ich das, auf was ich nicht gefasst bin. Das, was mich überraschen wird.«

Sie redeten nicht weiter über das Thema und dieser Nachmittag verging sehr ruhig.

DER TOD KANN MICH NICHT MEHR ÜBERRASCHEN

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