Читать книгу DER TOD KANN MICH NICHT MEHR ÜBERRASCHEN - Heike Vullriede - Страница 8
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ОглавлениеEin Nickerchen später stand plötzlich Besuch vor seinem Bett. Das Klopfen an der Tür war ihm entgangen, doch das laute »Herein!« seines Bettnachbarn – Marvin vermied es neuerdings, ihn gedanklich Schnarchsack zu nennen – riss ihn aus seinem Tagschlaf. Er brauchte eine Weile, bis er seinen Bruder erkannte. Der hielt Blumen in der Hand – so, wie man eine Bierflasche in der Hand hielt – und beim Grüßen schwang er sie achtlos hoch und runter. Ein paar der zarten Blütenblätter schlugen gegen das Bettende und rissen ab. Sein kleiner Bruder Bastian, im Gegensatz zu ihm groß, breitschultrig und laut, ragte wie ein Turm über der Bettkante auf und verdunkelte ihm, mitsamt seiner abgewetzten Lederjacke, die Sicht. Basti war keinesfalls dick, doch das Bett erschütterte unter dem Gewicht seines angelehnten Körpers.
»Hey! Was machst du denn für Sachen, Mensch? Ganz schön dünn bist du geworden!«
Marvin stemmte sich hoch, um aufrechter zu sitzen. Erfreulicherweise in der Zwischenzeit vom Tropf abgenommen, musste er wenigstens nicht mit diesem elenden Schlauch kämpfen.
»Tja, da habe ich auch nicht mit gerechnet. Ich nehme an, Lisa hat dir von diesem Tumor erzählt, den man zufällig in meinem Kopf gefunden hat. Es ist ein sogenanntes Glioblastom. Das ist so ein Tumor, der …«
»Da hast du ja voll die Scheiße am Hals!«
Marvin hielt inne. Für Scheiße am Hals fühlte er sich nicht locker genug gestimmt. Die übliche saloppe Ausdrucksweise seines Bruders schien ihm dieses Mal besonders unangebracht. Trotzdem sagte er nichts dazu. Basti würde es sowieso nicht verstehen. Was verstand der schon von Krankheit? Basti war jung und beneidenswert gesund, obwohl er rauchte. Ein Nachzügler und nach Vaters Tod hoffnungslos haltlos.
»Es ist ein besonders bösartiger Tumor, der …«
»Bekommst du jetzt eigentlich Chemo?«
Leute beim Erzählen zu unterbrechen, schien eine von Bastis hervorragenden Stärken und Zuhören eine seiner ganz großen Schwächen. Resigniert verkniff sich Marvin eine Antwort. Er entschied sich, abzulenken.
»Was hast du denn da Schönes mitgebracht?«
»Ach ja, Blumen. Macht man doch so bei Krankenbesuchen! Du darfst hier doch Blumen haben, oder?«
»Sollten sie nicht in eine Vase, bevor sie vertrocknen?«
»Ja, klar! Weißt du, wo welche stehen?«
Marvin verwies ihn nach draußen. Es würde ihm ein paar Minuten der Ruhe zurückbringen, die er zuvor, wie er jetzt wusste, nicht ausreichend genossen hatte. Doch die Erholungspause dauerte nur kurz. Als Basti wieder hereinkam, hielt er ein gläsernes Gefäß in der Hand, das nur sehr entfernt einer Vase glich.
»Was ist das denn?«
Marvin konnte kaum glauben, was er sah.
»Eine Vase! Wieso?«
»Das ist keine Vase, das ist eine Urinflasche!«
»Echt? Ach, wenn schon!«
Kurzerhand ging Basti ins Bad, füllte die Flasche mit Wasser und komponierte den bunten Supermarktstrauß zu einem formlosen Bündel. Das fertige Arrangement stellte er Marvin neben den Suppenteller auf den Nachtschrank.
»Basti! Das ist ekelhaft!«
»Stell dich nicht so an – die ist doch desinfiziert. Diese Flasche ist wahrscheinlich sauberer als dein Teller da. Was hast du da eigentlich drin?«
»Suppe!«
»Und warum isst du sie nicht?«
»Mir ist übel! Seit einer Minute wieder verstärkt.«
»Das tut mir leid. Darf ich?«
Sein Bruder verschmähte tatsächlich das Krankenhausessen nicht. Dieser große Kerl, immer hungrig und dennoch nie mit auch nur einem Kilo zu viel auf den Rippen, verarbeitete stets alles, was er aß, in Muskelmasse.
Glücklicherweise holte sich Basti Teller und Brot an den Besuchertisch, der etwas weiter von Marvins Bett entfernt stand. So brauchte er nicht jeden seiner Löffel im Detail mit ansehen. Nur der Geruch von Salzigem ließ sich nicht vermeiden und erfüllte den Raum.
Während Basti die grünliche Bröckchensuppe schlürfte, erzählte er von seinem Besuch bei Lisa: »Hab’ ich dir schon erzählt, was die Katze bei euch zu Hause angestellt hat? Ich ließ das Vieh kurz raus, in den Garten. Weißt du, was passiert ist? Sie kam herein und kotzte. Mitten auf den Wohnzimmerteppich! Das wäre ja auch noch nichts Besonderes gewesen, aber plötzlich lag da das durchgekaute Vorderteil einer Maus vor mir auf dem Boden. Ich dachte, mir kommt gleich alles hoch! Vor allem verschwand die Tigerin sofort wieder und ich weiß bis jetzt nicht, wohin sie das Hinterteil ausgewürgt hat! Wenn Lisa also irgendwann was Ekeliges riecht in eurem Haus, wisst ihr, woran es liegt.«
Marvin schluckte. Dank dieser ausführlichen Beschreibung zerbröckelte seine Selbstbeherrschung endgültig. In Gedenken an eine zerteilte graue Maus, deren Hinterteil irgendwo in seinem Hause verweste – vielleicht sogar unter seinem Bett – erbrach sich die zurückgehaltene Übelkeit innerhalb von Sekunden über Marvin. Er schaffte es gerade noch bis zur Toilette.
Bastian stand betroffen im Zimmer, als er eine viertel Stunde später aus dem Bad zurückkehrte.
»Mensch – du bist aber empfindlich!«
Marvin legte sich wieder ins Bett und wischte mit einem Taschentuch den Schweiß aus seinem Gesicht, der wie ein feuchter Lappen auf seiner Haut lag. Ein ekeliger Geschmack verbreitete sich in seinem Mund, gerade so, als hätte er auf Metall herumgelutscht.
»Lass mal – das ist die Chemo. Was wolltest du eigentlich bei Lisa?«
»Ach, nichts weiter. Ich habe sie etwas gefragt. Aber ich denke, ich hätte gleich dich fragen sollen.«
Ordnungsgemäß stülpte sein Bruder die Haube über den leeren Suppenteller. Marvin konnte also auf eine allmähliche Eliminierung des Essensgeruchs im Zimmer hoffen.
Während Basti jetzt stückchenweise krümelnd das Weißbrot in Angriff nahm, begann er – schweigend, wie es sonst nicht seine Art war – in dem engen Raum auf und ab zu gehen, was bei seinen langen Beinen nur wenige Schritte ausmachte. An allem, was ihm dabei auffiel, fingerte er eine Weile herum: An dem kleinen schwarzen Kreuz, das über dem Tisch an der Wand hing, an Marvins Morgenmantel, der über der Lehne des Besucherstuhls lag, am Bettgestell des inzwischen eingeschlafenen Nachbarn, an dem nach oben gehängten Schlauch des Tropfs. Alleine ihm zuzusehen, machte Marvin nervös.
Dass Basti nichts sagte und unterdessen jeden Augenkontakt vermied, kam ihm verdächtig vor. Um was druckste sein Bruder da herum? Marvin wartete noch ein paar Minuten der angefüllten Stille im Raum ab. Man hörte das leise Schnarchen des Nachbarn, Bastis Schritte, seinen Atem, die reibenden Geräusche der Kleidung, während er sich bewegte, sein Gefummel an sämtlichen Gegenständen … schließlich hielt Marvin es nicht mehr aus.
»Also raus damit – was wolltest du mich fragen?«
Basti sah nur kurz zu ihm herüber, fast schon erschrocken. Dann schlenderte er langsam zum Bett. Er sprach leiser als sonst.
»Ich wollte dich fragen, ob du mir etwas Geld leihst.«
Deshalb war er also hier! Eigentlich hatte Marvin den Besuch seines Bruders auch sehr viel später erwartet und nicht gleich am dritten Tag seines Krankenhausaufenthaltes – und schon gar nicht mit Blumen.
»Lisa hat also Nein gesagt?«
»Du weißt, sie kann mich nicht leiden!«
»So weit ich mich erinnere, nanntest du sie einmal Blödchen!«
»Ich brauche das Geld. Es ist dringend. Ich brauche es auch nur kurz … nur ein paar Tage lang!«
Stille.
Bastis Stimme bekam nun einen flehenden Tonfall. »Marvin – sag' doch was!«
»Wozu brauchst du es? Und wie viel soll es überhaupt sein?«
Jetzt rang Basti vor Marvins Bett mit den Fingern; wortlos eine Weile, schließlich wagte er sich.
»Vierzigtausend!«
»Was? Vierzigtausend? Basti!«
Vor Entsetzen saß Marvin plötzlich kerzengerade im Bett, selbst erstaunt, heute noch zu solchem Kraftaufwand fähig zu sein. Von der ungewohnt schnellen Bewegung wurde ihm sogleich schwindelig. Er wusste für einen Augenblick nicht, in welcher Position sich sein Körper befand, weil er den Kontakt mit dem Bett nicht mehr spürte. Schnell tastete er nach dem Bettrahmen. Als er sich gefasst hatte, warf Marvin einen Blick auf seinen Mitpatienten, denn er war beim letzten Satz unbeabsichtigt laut geworden. Zum Glück aber schien dieser zu schlafen, zumindest tat er so. Marvin wollte flüstern, doch in seiner Aufregung zischte er.
»Basti – wozu brauchst du das Geld? Du bekommst gar nichts, wenn du mir nicht sofort die Wahrheit sagst.«
Auch Basti zischte, weil er es nicht schaffte, leise zu reden.
»Oh Mann! Es ist für Mutter! Sie hat mir ihr Geld überwiesen, damit nicht alles auf ihrem Konto liegt. Du weißt schon, falls sie mal ins Pflegeheim muss. Die will das jetzt plötzlich alles zurück! Sie will es sehen … richtig ansehen, verstehst du. Ich weiß auch nicht, warum. Sie besteht darauf, es in den Fingern zu haben.«
»Dann lass sie doch. Zeig ihr den Kontoauszug! Oder geh mit ihr zur Bank und lass es dort bestätigen. Das wird sie doch wohl noch verstehen.«
»Das reicht ihr aber nicht – sie will es fühlen und zählen. Du kennst sie doch!«
Marvin begann, etwas zu ahnen.
»Du hast das Geld nicht mehr, stimmt's?«
Mit Augen voll gespielter Unschuld blickte Basti ihn an.
»Wie kommst du darauf? Ich sagte nicht, dass es nicht mehr da ist!«
»Und wo ist dann das Problem?«
Marvin wurde ungeduldig. Es war immer das Gleiche mit seinem Bruder. Zuerst musste er alles abstreiten, obwohl selbst der Dümmste ihn durchschauen konnte. Wie bei einem Kind, welches mit einem Ball in der Hand vor den Scherben eines Fensters stand und behauptete, es sei nicht schuld an dem Loch in der Scheibe.
»Ich hatte es gut angelegt. Es war ein todsicherer Tipp.«
»Basti – es war nicht dein Geld! Ist dir klar, wie lange sie gespart hat, um auf diese Summe zu kommen?«
»Klar, dir wäre das natürlich nicht passiert! Der große edle Bruder – Moralapostel voller Vernunft! Der Klugscheißer, der immer alles richtig macht und immer nur Erfolg hat!«
Das Geheimnis bewahrende Zischen Bastis wich einer Lautstärke, die selbst im Flur zu hören war. Schließlich schlug er mit beiden Händen so heftig gegen das Bettgestell, dass sich die Vibrationen des Rahmens von Marvins Beinen über das Gesäß, bis zu seinem Kopf ausbreiteten.
»Ich muss es ihr nur einmal zeigen, damit sie sieht, dass es noch da ist. Danach kannst du es zurückhaben, wenn du unbedingt willst! Du brauchst das Geld doch nicht mehr! Und Lisa? Sei mal ehrlich! Braucht sie wirklich so viel?«
Marvin erstarrte, während er zuhörte, so kerzengerade, wie er sich eben hochgerissen hatte. »Wieso meinst du, dass ich es nicht mehr brauche?«
Basti kratzte sich aufgewühlt am Kopf, der langsam rot wurde. »Darum geht es doch gar nicht! Ich meine – ich kann nichts dafür, dass das Geld weg ist. Du wirst es wiederbekommen, Cent für Cent.«
»Was glaubst du eigentlich, wozu ich hier im Krankenhaus liege und diese widerliche Chemotherapie mache? Nur so aus Spaß? Ich hänge hier über dem Klo und kotze mir die Eingeweide aus dem Hals! Eine einzige dieser Infusionen kostet tausenddreihundert Euro! Meinst du ernsthaft, ich oder die Ärzte würden das machen, wenn es da keine Hoffnung gäbe?«
Kopfschüttelnd, als wollte er Marvins Worte aus seinen Ohren schleudern, umkrallte Basti das Bettgestell. »Ich sagte doch, darum geht es nicht!«
»Du tust, als sei ich ein hoffnungsloser Fall! Ist dir nicht klar, was du da sagst?«
»So habe ich es nicht gemeint!«
»Aber so hast du es gesagt!«
Wieder schüttelte Basti den Kopf. Er ließ das Bettgestell los, hielt sich beide Hände vor die Augen und begann, wie ein kindlicher Trotzkopf zu klagen: »Nein, nein, nein! Du verstehst mich falsch!«, kam es unter seinen Händen hervor. Und wieder: »Nein, nein, nein!« Als wäre sein Bruder zu begriffsstutzig, ihn zu verstehen.
Marvin sank ins Kissen zurück.
»Vierzigtausend Euro! Basti – das ist so viel Geld … ich kann nicht glauben, dass du Mutters Geld verbraten hast!«
Basti nahm die Hände runter und ließ sich auf den Stuhl fallen. Feuchte rote Augen kamen zum Vorschein. »Ich habe es nicht so gemeint, echt!«
»Feuchte Augen … nur wegen des Geldes?«, fragte Marvin.
Schniefend wischte Basti mit Lederärmel und nackter Hand durch sein Gesicht.
»Weshalb sonst?«, sagte er dabei, kaum hörbar.
Dann stand er wieder auf und ging zum Fenster. Wehmütig ließ er den Blick nach draußen schweifen.
»Das Leben ist wertlos, nicht wahr? Ich meine, wozu soll es gut sein? Erst ist da nichts, dann ein Leben, dann wieder nichts.«
Gequält blickte er sich um. »Sag mir, wozu war dein Leben gut?«
»Es ist noch nicht Zeit für mich, Resümee zu ziehen!«
»Aber, Lisa … sie sagte etwas von … nur ein paar …«
»Ein paar … was?«
»Sie war in Tränen aufgelöst. Es klang, ehrlich gesagt, nicht so, als wenn es viel Hoffnung …«
Marvin hielt den Atem an, bei dem, was Basti sagte. So unterhielt man sich also über ihn.
»Ich bin nicht hier, um zu sterben, Basti! Ich werde diese beschissene Chemotherapie durchstehen und du wirst sehen, ich werde gewinnen! Ich habe noch nie einen wichtigen Kampf verloren!«
Basti presste die Lippen zusammen. »Das will ich gerne glauben.« Seine Stimme zitterte. »Das Wichtigste im Leben sind doch die Beziehungen zu anderen Menschen. Und was mache ich nur, ohne meinen großen Bruder?«
»Ist schon gut«, flüsterte Marvin.
Sie verstummten.
Es blieb noch lange still im Raum. Schließlich hob Basti seine verschmierte Rechte wie zum Indianergruß und ging langsamen Schrittes zur Tür. Dort blieb er stehen, die Klinke bereits in der Hand.
»Du gibst mir das Geld also nicht?«
Fast schon lächelte er.
»Ich weiß es noch nicht.«
»Wann wirst du es wissen? Noch in diesem Leben?«
Er war kein guter Schauspieler.
»Geh jetzt!«, sagte Marvin.