Читать книгу DER TOD KANN MICH NICHT MEHR ÜBERRASCHEN - Heike Vullriede - Страница 7

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Am nächsten Morgen wurde Marvin um sieben Uhr von drei lebhaften Krankenschwestern überfallen. Kaum, dass er vom Schlaf zu Bewusstsein gelangt war, maß die eine ihm Blutdruck am linken und die andere den Puls am rechten Arm. Die Dritte fuhr eine Waage ins Zimmer, die aussah wie ein Rollstuhl. Dann drängten sie ihn aus dem Bett. Marvin schnappte sich schnell noch seinen Morgenmantel und ließ sich auf den Sitz der Waage fallen. Währenddessen wurde sein Bettzeug geschüttelt und geglättet, sein Nachttisch flüchtig abgewischt, ein neues Glas und eine Flasche Mineralwasser darauf gestellt, sein Gewicht gemessen. Dann zogen sie die Waage unter seinem Hintern weg – und nachdem das Ganze mit seinem Nachbarn genauso passiert war, verschwand der Spuk und die Stille eroberte den Raum zurück.

Noch immer ganz benommen schlich Marvin zurück ins Bett. Jetzt erst bemerkte er aus den Untiefen seines schlaftrunkenen Geistes, dass er sich gar nicht wohlfühlte. Also nun doch die angedrohte Übelkeit? Schon spürte er Brechreiz in sich aufsteigen. Marvin entschied sich, lieber ein Glas des frischen Mineralwassers zu trinken, sich auf die Seite zu legen und die Decke wie ein Kind über die Ohren zu ziehen. Dann schloss er die Lider. Vielleicht könnte er die Übelkeit ja einfach verschlafen.

Nach ein paar heftigen Drehungen im Bett hielt er es nicht mehr aus. Er hastete barfuß zur Toilette, riss den Toilettendeckel auf und blieb gebeugt darüber stehen.

Ein unaufhaltsames Kribbeln erfüllte seine Wangentaschen, dann floss der Speichel quellartig in seinem Mund zusammen. Beim Versuch zu schlucken, würgte er das erste Mal. Erschrocken beugte er den Kopf tiefer. Liebe Güte, das letzte Mal, als er sich erbrochen hatte, war er ein Kind gewesen. Der Blick in die Kloschüssel tat dann das Übrige. Mit einem Schwall entleerte er sich fast vollständig, wässrig. Den Rest würgte er in kleinen Pfützen hinterher. Es schmeckte sauer.

Nur gut, dass er zuvor dieses Glas Wasser getrunken hatte. Marvin spülte sich am Waschbecken den Mund aus, inspizierte seinen Schlafanzug nach unangenehmen Spuren und bewegte sich räuspernd zurück zum Bett. Sein Magen drückte.

Noch bevor er das Bett erreichte, rannte er schon wieder los. Nochmals Erbrechen! Doch diesmal gab es nichts, was er hätte ausspeien können. Was für eine Qual! Er spuckte von sich, was er konnte. Entkräftet und diesmal gleichgültig gegenüber seiner Kleidung schleppte er sich aus dem Bad. Aber bereits nach wenigen Schritten zwang ihn sein Körper erneut zurück.

So verging sein Vormittag. Erschöpftes Liegen, aufstehen, zum Klo rennen – erbrechen und wieder hinlegen. Es war ein ständiges Loslaufen, ein Kreislauf zwischen Trinken und Erbrechen. Die Schwestern brachten Brechschalen und Getränke.

Schließlich ließ ihn der ungestillte Würgereiz in die Knie gehen und die fremde Kloschüssel umarmen. Es war ihm völlig egal. Er wollte sich vom Boden hochstemmen und etwas Wasser aus dem Kran nehmen. Aber seine Beine schafften es nicht mehr. Marvin würgte, bis die Rippen schmerzten, und so lange, bis er vor Entkräftung zur Ruhe kam.

Irgendwann spürte er von hinten Hände unter seinen Achseln und sah das Gesicht einer blonden Krankenschwester vor sich. Man hievte ihn zu zweit auf einen fahrbaren Toilettenstuhl und von diesem zurück auf sein Bett. Zu seiner Verwunderung gehörten die helfenden Hände unter den Achseln seinem Bettnachbarn, dem die körperliche Anstrengung einen schnaufenden, hochroten Kopf bescherte. Marvin versuchte, einen dankbaren Blick auf ihn zu richten.

Wenig später schloss die Ärztin ihn wieder an einen Tropf an.

»Gegen die Übelkeit!«, sagte sie sachlich. »Bis später!«

Damit ließ sie ihn für den Rest des Tages im Krankenbett zurück, mit trockenen Lippen und einem Geschmack von Saurem im Mund. Nun kamen Stunde für Stunde Schwestern, um seinen Arm mit der Blutdruckmanschette zu zerquetschen. Er nahm es hin. Die Medikamente aus dem Tropf ließen ihn nahezu gedankenlos vor sich hin dösen. Das Einzige, was ihm nun zwischen Schlafen und Dösen in den Sinn kam, war, dass man also auch so einen Tag kostbarer Lebenszeit zubringen konnte. Vielleicht war auch Lisa abends da. Ihr Gesicht jedenfalls sah er vor sich, bevor er wieder einschlief.

Am nächsten Vormittag erwachte Marvin aus seiner gefühllosen Ruhe. Die Welt erhielt seinen Geist zurück, nicht von der üblichen Schwere zwar, aber in einer Leichtigkeit, die der eines normalen morgendlichen Erwachens glich. Ungebeten meldete sich bald der von den Medikamenten unterdrückte Brechreiz zurück; nicht so stark wie gestern, jedoch schlummernd und bereit, durch eine passende Gelegenheit geweckt zu werden. Marvin versuchte ihn zu vergessen und kramte lustlos in seinem Bettschrank herum. Lauter Mist und nichts Richtiges zum Lesen! Er ließ es sein und starrte unbeweglich auf das Gelb seiner Bettdecke. Was, wenn er den Rest seines Lebens mit Übelkeit verbringen musste? Man müsste eine Wahl haben, dachte er sich. Eine Wahl, solche Tage ganz an das Ende des Lebens zu hängen und sie bei Bedarf ersatzlos zu streichen. Doch – hätte man ihn gestern noch vor die Wahl gestellt – hätte er diesen Tag wirklich so schnell aufgegeben? Er sah sich um. Die Sonne schien hell und freundlich durch das Fenster. Heute ging es ihm doch schon wieder besser! Die Übelkeit hielt sich in Grenzen und von dem Ding in seinem Kopf spürte er nichts. Nein – das Leben war ihm noch viel zu kostbar, als dass er nach einem einzigen schlechten Tag die Hoffnung bereits aufgeben wollte. Sein Magen war da, was man ja eigentlich nicht spüren sollte, aber nun gut. Mehr war es auch nicht. Das Leben hatte ihn zurück.

Bald war es Essenszeit. Schülerin Elke brachte je ein Tablett für den Herrn aus dem Nachbarbett und eins für Marvin. Er beobachtete sie, während sie ihre Arbeit verrichtete. Eilig kam sie zu seinem Nachtschrank und stellte das Tablett darauf ab. Auf der hellen Haut ihrer Unterarme entdeckte er unzählige Sommersprossen und wie die letzten Male, wenn sie das Zimmer betrat, schmückte ein mitreißendes Lächeln ihr Gesicht. Marvin fand es unwiderstehlich. Mit Schwung hob sie diese Art unappetitliche Edelstahlhaube vom Teller, die wohl in jedem Krankenhaus der Welt das Essen warm hielt. Diese Hauben, die niemals frei von Fettfingern waren, schienen ihm nur dazu da, die dargebotene Großküchenspeise verschämt zu verstecken.

Überraschung! Eine Suppe und weißes Brot.

»Na, Herr Abel. Was halten Sie davon?«

Marvin warf einen Blick auf die grünliche Brühe. Allein die einzeln darin schwimmenden Gemüsebröckchen erinnerten ihn an seine Übelkeit von gestern. Er winkte ab.

»Nehmen Sie wenigstens etwas Brot!«

Sie spielte ein extra trauriges Gesicht.

»Mir wird schon schlecht, wenn ich daran denke!«, sagte er und fügte schnell hinzu: »Nicht, wenn ich an Sie denke, natürlich. Wo Sie auftauchen, scheint sicher immer die Sonne.«

Elke lachte, herzlich und ein bisschen geniert. Auf seine Schmeichelei ging sie aber nicht wie gehofft ein, sondern klemmte das Tablett zwischen Arm und Brustkorb ein und mahnte mit erhobenem Zeigefinger: »Sie müssen aber viel trinken. Das ist ein ärztlicher Befehl! Vielleicht mögen Sie ja gleich noch essen.«

Suppenteller und Brot ließ sie auf seinem Schränkchen zurück.

»Solche Strenge passt aber gar nicht zu einer so hübschen Frau!«, charmierte er hinter ihr her. Sie überging es lächelnd. Es machte immer noch Spaß, ein wenig zu schäkern, trotz seines Unwohlseins.

Kaum war sie draußen, stichelte sein Nachbar: »Na – uns geht's ja wieder besser!«

Sein Zimmergenosse, selbst Mann und ebenfalls wohl noch nicht krank genug, durchschaute sein Flirtspiel natürlich.

»Es gibt Körperteile, die sterben zuletzt.«

Chauvinistisch schmunzelten sie beide.

Ja, es ging ihm heute wieder gut genug, um sich als Mann zu fühlen. Aber insgeheim fürchtete Marvin zum ersten Mal in seinem Leben, dass es ihm eines Tages egal sein könnte, wie eine junge hübsche Frau über ihn dachte. War es nicht gestern schon so gewesen, als sie ihn ins Bett gehievt hatten? War Krankheit nicht schrecklich unerotisch, ein zerfallender Körper unattraktiv, ein gelähmter Geist reizlos? Vielleicht erinnerte Solches ja an das Ende des Betrachters selbst, weshalb man es nicht mit ansehen mochte. Oder aber, es war ein Zwangsgedanke im Sinne der Evolution.

Marvin hielt es jedenfalls für ein gutes Zeichen, sein Bedürfnis zu schäkern noch nicht verloren zu haben. Er lehnte sich zurück und dachte an zärtliche Stunden mit Lisa. Sie waren ausnahmslos schön gewesen. Nur öfter hätte es sein können, für ihn jedenfalls. Ob es stimmte, dass ein Mann alle paar Minuten an Erotik dachte, wie manche sagten? Er sah sich nicht als Sexprotz. Dennoch war es für ihn kein Problem, von einem Moment zum anderen an Sex zu denken. Selbst, wenn er sich am Arbeitsplatz mit einer schwierigen Fragestellung beschäftigte, fiel es ihm ohne Übergang leicht, sich zwischendurch auf die warmen Schenkel seiner Frau am Abend zu freuen. In seinem Fall sollten sie wohl recht behalten, die Forscher, welche behaupteten, dem Mann gingen im Laufe der Evolution die Instinkte nicht verloren. Wie ein dauerbrünstiger Eber würde er seine Gene verteilen, wenn ihn nicht die Treue an seine geliebte Lisa knüpfte.

Die Gedanken angefüllt mit Ebern und Frauen, träumte sich Marvin – mehr oder weniger sitzend – über den Mittag hinweg.

DER TOD KANN MICH NICHT MEHR ÜBERRASCHEN

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