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Kapitel 1 Schokoladenmuffin und Cappuccino
ОглавлениеSina
Er heißt Alexander Goldstein und kommt jeden Morgen in meine Bäckerei.
Zwischen 7.25 Uhr und 7.28 Uhr.
Von Montag bis Freitag.
Immer pünktlich.
Und immer ein wenig in Eile.
Um 7.45 Uhr geht seine S-Bahn, die ihn in die Frankfurter Innenstadt bringt. Dort arbeitet er bei einem großen Bauunternehmer. Erfolgreich, wie ich vermute, denn seine Anzüge, sein Smartphone und selbst seine Aktentasche sehen nicht nur topmodisch, sondern auch ziemlich teuer aus.
Außerdem scheint ihn dieser Job so sehr in Anspruch zu nehmen, dass ihm kaum Zeit für die kleinen, alltäglichen Dinge des Lebens bleibt. Deshalb beschäftigt er auch eine Putzfrau, bestellt die meisten Lebensmittel online, gibt seine Hemden zum Bügeln in die Wäscherei und kauft all seine Snacks bei mir im Laden.
Zum Frühstück will er immer einen Schokoladenmuffin und einen großen Cappuccino. Für die Mittagspause darf es auch gern etwas Herzhaftes sein: Ein Sandwich, eine pikant gefüllte Teigtasche oder eine Käsebrezel. Dazu nimmt er einen Salat, eine große Flasche Mineralwasser und einen frisch gepressten Orangensaft. Und am Nachmittag gönnt er sich ein Stück Kuchen, das ich ihm doppelt einpacke, damit es schön frisch bleibt.
Er kann sich diese üppige Speisenfolge leisten – sowohl finanziell als auch, was seine Figur betrifft. Denn er ist Mitglied im angesagtesten Fitnessstudio der Stadt, rudert am Wochenende auf dem Main und verbringt seine Ferien in exotischen Luxushotels mit großem Sportangebot.
Auch sonst achtet er sehr auf seine Gesundheit, geht regelmäßig zum Zahnarzt und hat, bis auf kleinere Probleme im rechten Knie, noch keine Beschwerden. Sollte er auch noch nicht, schließlich ist er erst neunundzwanzig Jahre alt. Sternzeichen Skorpion. Evangelisch. Mit einem Master in Innenarchitektur, inklusive eines Auslandssemesters in Florida.
Und – ganz wichtig! – Single.
Woher ich das alles weiß?
Weil ich zuhören kann.
Wie die meisten meiner Kunden, so kramt auch Alexander Goldstein sofort sein Telefon hervor, wenn es bei mir im Geschäft voll wird, und er mal etwas länger warten muss.
Eigentlich finde ich dieses Verhalten extrem unhöflich. Denn in dem Moment, wo das Handy eingeschaltet wird, wird die Aufmerksamkeit für die Umgebung auf ein Minimum zurückgefahren. Oft genug muss ich meine Kunden mehrmals ansprechen, bevor sie reagieren. Was haben die Leute eigentlich gemacht, bevor es Mobiltelefone gab? In die Luft gestarrt? Bis hundert gezählt? Das Kuchenangebot bewundert?
Ich weiß es schon gar nicht mehr so genau.
Bei Alexander ist es sowieso etwas völlig anderes: Ihm kann ich einfach nicht böse sein, wenn er am Handy hängt.
Im Gegenteil!
Er spielt nämlich nicht nur damit herum, sondern telefoniert auch gern. Regelmäßig ruft er seine Sekretärin an. Seine Freunde. Diverse Handwerker. Geschäftspartner. Und natürlich seine Verwandtschaft. Insbesondere seine Mutter scheint sehr neugierig zu sein und fragt viele interessante Dinge.
Ich muss gar nichts weiter machen als mich beim Bedienen auf diese Telefongespräche zu konzentrieren. Was mir trotz des Stimmengewirrs normalerweise auch ganz gut gelingt. Auf diese Weise werden meine Informationen über ihn ständig aktualisiert.
Warum ich das mache?
Weil ich neugierig bin.
Und weil ich gar nicht anders kann. Nicht, was ihn betrifft.
Denn seit unserem ersten Treffen vor zwei Jahren, einem Monat und elf Tagen bin ich rettungslos und unsterblich in Alexander Goldstein verliebt.
Alexander
Die Schokoladenmuffins sind meistens noch warm, wenn ich sie kaufe. Und sie duften köstlich nach Vanille, Butter und Karamell. Am liebsten würde ich meine Nase während der gesamten S-Bahnfahrt in die Papiertüte stecken.
Aber das würde ziemlich albern aussehen, also beherrsche ich mich. Stattdessen wende ich mich morgens im Zug immer dem Zweitschönsten zu, was der Tag zu bieten hat: dem leckeren Cappuccino, der in einem knallbunten Pappbecher mit himmelblauem Deckel serviert wird. Und übrigens fast ebenso gut duftet wie der Muffin. Nach dem ersten vorsichtigen Schluck kann ich förmlich spüren, wie der heiße Kaffee durch meine Adern fließt und meine Lebensgeister weckt.
Müllers Tortensofa steht in verschnörkelter weißer Schrift auf dem Plastikdeckel. Ein ziemlich alberner Name für so ein tolles Geschäft.
Zum Glück habe ich mich vor zwei Jahren dadurch nicht abschrecken lassen, sondern bin einfach dem verführerischen Duft nach frisch gebackenem Kuchen gefolgt – und fand mich plötzlich in einer winzigen Bäckerei wieder, die erstaunlich viel zu bieten hat. Inzwischen bin ich längst Stammkunde geworden und habe mich hundertfach durch das gesamte Sortiment gegessen.
Ich liebe diesen Laden!
Tolles Angebot, moderate Preise und günstige Lage direkt am S-Bahnhof – was will man mehr? Außerdem wird man immer mit einem freundlichen Lächeln bedient.
Zugegeben: Bei der Einrichtung des Geschäftes wurden sämtliche Konzepte harmonischer Raumgestaltung missachtet. Als Innenarchitekt stört mich das schon ein bisschen. Farben, Materialien und Proportionen wirken nicht aufeinander abgestimmt, sondern wurden bunt kombiniert. Auch Beleuchtung und Akustik sind eher suboptimal.
Überraschenderweise ist bei diesem Stil-Mix aber trotzdem etwas halbwegs Ansprechendes herausgekommen. Ein altes, gläsernes Kuchenbuffet nimmt fast die Hälfte des Verkaufsraums ein, gut gefüllt mit goldbraunen Muffins, knusprigen Waffeln und saftigen Blechkuchen. Daneben, in einem separaten Bereich des Buffets, sind die herzhaften Backwaren angerichtet: Laugenbrötchen, Käsebrezel, belegte Brote, bunte Pizza-Stückchen und gefüllte Teigtaschen.
Natürlich darf auch ein großer Kaffee-Vollautomat nicht fehlen, der hinter der Theke auf einem alten Holztisch steht, eingerahmt von mehreren Stapeln mit Tassen, Tellern und Servietten. Darüber hängt eine lange schwarze Tafel, auf der in schnörkelloser Kreideschrift die täglichen Angebote notiert werden.
Gleich am Eingang kann man sich aus einem modernen Kühlregal bedienen, das mit frisch gepressten Säften, Salaten, Milchgetränken und Mineralwasser gut sortiert ist. Und mitten im Schaufenster steht ein geblümtes Sofa, das dem Geschäft seinen Namen gegeben hat. Blaue Kissen, ein schmaler Tisch mit Spitzendecke und eine alte Stehlampe mit Troddeln geben dem Ganzen etwas Retromäßiges, aber auch sehr Gemütliches.
Trotzdem – wer setzt sich schon freiwillig ins Schaufenster?
Ich bestimmt nicht.
Ich habe das bislang nur ein einziges Mal gemacht, allerdings nicht ganz freiwillig. Damals handelte es sich um einen Notfall mit einer alten Dame, ich kann mich gar nicht mehr an alle Einzelheiten erinnern.
Ist schon zu lange her.
Sina
Bei mir war es Liebe auf den ersten Blick – damals, vor zwei Jahren, einem Monat und elf Tagen.
Ich weiß noch genau, dass ich an diesem Februarmorgen gerade auf der Leiter stand und dabei war, die Angebotstafel neu zu beschriften. Ich weiß sogar noch, dass ich die Worte Schokoladenbrötchen und Zwiebelstange bereits geschrieben hatte und auf der Suche nach bunter Kreide war, die ich mir vorher in die Hosentasche gesteckt hatte.
Und dann öffnete sich plötzlich die Tür, und Alexander kam herein. Sehr elegant, mit dunklem Mantel, grauem Wollschal, schwarzer Hose und Lederschuhen. In der einen Hand hielt er eine Aktentasche, in der anderen einen Regenschirm. Beide Accessoires waren schlicht, passten aber perfekt zu seiner Kleidung.
Doch es war nicht dieses geschmackvolle Outfit, das mich sofort in den Bann zog, sondern sein Gesicht: Klare, hellblaue Augen, dunkle, kurzgeschnittene Haare, hohe Wangenknochen, gebräunte Haut und ein kleines Grübchen am Kinn – das sich übrigens immer dann verstärkt, wenn er lächelt, wie ich später noch oft genug feststellen konnte.
Kurz gesagt: Er sah fantastisch aus, und ich konnte meine Augen einfach nicht mehr von ihm abwenden. Als er mich auf der Leiter entdeckte, immer noch mit einer Hand in der Hosentasche, runzelte er die Stirn, und für einen winzig kleinen Moment trafen sich unsere Blicke.
Hatte ich jemals ein schöneres Blau gesehen?
Nein, gab ich mir selbst die Antwort.
Das hier war eine Premiere, eine besonders intensive und mitreißende noch dazu. Blöd nur, dass ich dabei auf einer Leiter stand. Meine Knie wackelten, und jetzt wurde mir auch noch schwindelig. Vorsichtshalber hielt ich mich mit der freien Hand an der Leiter fest.
„Guten Morgen zusammen“, sagte er mit angenehm dunklem Tonfall und reihte sich in die Schlange der Kunden ein, die von Ellie, meiner einzigen Angestellten, langsam abgearbeitet wurde.
O Gott, diese Stimme!
Ich unterdrückte einen begeisterten Seufzer, während ich mein Gleichgewicht stabilisierte und so tat, als müsse ich die Kreide, die ich jetzt endlich aus der Hosentasche hervorgekramt hatte, auf Wasserflecken untersuchen.
Eine ziemlich sinnlose Tätigkeit, aber Hauptsache, ich sah dabei beschäftigt aus! Aus den Augenwinkeln heraus jedoch beobachtete ich den neuen Kunden genau. Er wartete geduldig in der Schlange, sah sich dabei im Laden um und hielt dann einer jungen Mutter mit Kinderwagen die Eingangstür auf.
Jetzt hätte nicht viel gefehlt, und ich wäre vor Begeisterung tatsächlich von der Leiter geflogen. Dieser Mann war nicht nur ausgesprochen gutaussehend, sondern auch noch achtsam und höflich!
Übrigens ein Eindruck, der sich in den nächsten Wochen noch verstärken sollte. Und der bis heute anhält. Denn immer noch macht Alexander jedes Mal, wenn er nahe am Eingang warten muss, den anderen Kunden die Tür auf. Manchmal lässt er sogar Kunden vor, die es noch eiliger haben als er.
Am meisten beeindruckt hat mich seine Hilfsbereitschaft jedoch, als es einer älteren Dame im vergangenen Winter bei mir im Laden schlecht wurde.
Es war ein sehr kalter, schneereicher Tag. Das Geschäft war warm und voller Kunden, die Luft stickig. Ellie und ich kamen kaum mit dem Bedienen hinterher. Deshalb bemerkte ich auch nicht sofort, dass sich eine grauhaarige Frau im Lodenmantel plötzlich unwohl fühlte. Erst als Alexander sie ansprach und zum Sofa führte, wurde ich aufmerksam. Doch da hatten sich die beiden bereits gesetzt, und Alexander redete beruhigend auf sie ein.
Als ich an den Tisch trat, blickte er nur kurz auf und bestellte ein Glas Wasser bei mir, bevor er sich wieder ganz auf die ältere Dame konzentrierte.
Zum Glück ging es ihr nach ein paar Minuten wieder besser, aber Alexander bestand trotzdem darauf, seinen Schützling nach Hause zu begleiten.
Seit diesem Erlebnis mag ich ihn noch viel lieber.
Falls das überhaupt möglich ist …